"Polaroid" live im Mella Theater. Mehr als nur eine Momentaufnahme:

Was als Erstes auffällt, wenn man reinkommt, ist die schiere Menge der bereits Anwesenden. "Polaroid" existiert erst seit 2011. Sind die schon so arriviert, dass sie derart viel Publikum ziehen?

Als Zweites springt die versammelte Prominenz ins Auge. Drei der "Fünf Helden" finden sich ein, Fernando, Ramón mit Elizabeth, Gerardo mit Adriana (aber ohne Gema), Abel Prieto, ehemaliger Kulturminister und Präsidentenberater, neuerdings wieder provisorischer Kulturminister, dessen Affinität zu angelsächsischem Pop kein Geheimnis ist und Miguel Díaz-Canel Bermúdez, Erster Stellvertretender Sekretär des Staats- und des Ministerrats. Sollte seine Anwesenheit damit zusammenhängen, dass u. a. ein gewisser Miguel Díaz-Canel, Sänger, Geiger, Gitarrist und Gründungsmitglied von "Polaroid" und eine gewisse Jenny Díaz-Canel, Sängerin der Gruppe, auf der Bühne stehen? Fragen über Fragen.

Auge und Ohr

Der Name "Polaroid" ist einerseits eine Anspielung darauf, dass Kuba es in der Fotokunst zu einigem Ruhm gebracht hat, andererseits "geht er von der Idee aus, Musik und Bilder im Verbund darzubieten", und das ist vom ersten Stück an auch der Fall. Farbenfrohe Lichtspiele an der Rückwand der Bühne wechseln sich ab mit meditativen Naturfotos, hypnotisch schönen Sonnenuntergängen über dem Meer und dergleichen. Dazu überaus ansprechende akustische Gitarrenmusik als Begleitung für harmonische Singstimmen. Man könnte die Performance von "Polaroid" die einer Folk-Band nennen, wenn die Kerngruppe nicht speziell für diesen Auftritt durch Zusatzmusiker verstärkt worden wäre (die aber zum Glück nie alle gleichzeitig zum Einsatz kommen). Wer zu Hause die CD "Agora" anhört, die hier im "Mella" vorgestellt werden soll, hat im Ergebnis das Konzert des heutigen Abends vor sich – nur ein wenig puristischer, d. h. ohne E-Gitarre, E-Bass, Keyboard und gelegentliches Schlagzeug. Dies alles verfremdet aber nicht den Sound der Band, es unterfüttert ihn nur. Beifall wird an diesem Abend freundlich, aber nicht enthusiastisch gespendet. Die Musik spricht an, außerordentlich sogar, aber sie ist nicht dazu angetan, die Leute von den Sitzen zu reißen. Es gibt am Ende auch keine Zugaben. Man sollte dies den Akteuren nicht als Unfreundlichkeit auslegen. Es hätte einfach nicht zum Konzept der Präsentation gepasst.

Über den begrenzten Nutzen von Wörtern

Wer sich im Internet umschaut auf der Suche nach einigen brauchbaren Termini für die Art Musik, die "Polaroid" macht, wird die Erkenntnis gewinnen, dass er das Ganze besser gelassen hätte. Das begriffliche Kuddelmuddel, auf das man da stößt – und zu dem nicht zuletzt der Gruppenleiter selbst sein Scherflein beiträgt – lässt einen ziemlich verwirrt zurück. In seinem Artikel in "CIBERCUBA NOTICIAS", der das Konzert im Teatro Mella ankündigt, schreibt Joel del Rio, die Lieder bewegten sich "zwischen dem Trovadoresken und der Country- oder Hippiemusik, wie sie (die Musiker) sie lieber nennen". Del Rio versucht sich auch an einer Lyrik-Analyse der Gruppe: "In dieser ‚Agora‘ genannten CD erscheinen Texte, die konzipiert wurden, um Schnappschüsse von Seelenzuständen abzulichten, die mit der Stadt und dem Alltäglichen zu tun haben." Aaaah, ja.

Die kubanische Trova kann ihren Einfluss auf die Formation in der Tat nicht verleugnen. Der Ausdruck "música country" ist offenbar auf dem Mist des Autors gewachsen (der davon nur sehr nebulöse Vorstellungen haben kann), während "música hippie" eine Bezeichnung ist, die Bandleader Juan Carlos Suárez selbst verwendet. "Es ist eine Hippie-CD im ästhetischen Wortsinn und sehr akustisch", sagte er vor einem Jahr in einem Interview mit "Suenacubano". Nun ist "Hippiemusik" überhaupt kein genrekonstituierender Begriff. Was soll das sein? Musik, die sich so anhört wie "San Francisco" von Scott McKenzie? In der vielleicht zehn Jahre dauernden Periode der Hippie-Bewegung gab es Musik, die genauso verschieden war wie ihre Akteure und keineswegs nur – nicht einmal überwiegend – aus Stimmen plus akustischen Gitarren bestand. In einer der überflüssigsten Listen, die ich je im Netz gesehen habe "THE ONE HUNDRED GREATEST HIPPIE SONGS OF ALL TIME" findet man Mungo Jerry, Louis Armstrong, Iron Butterfly und viel anderes Inkohärentes, von dem eher wenig an "Polaroid" erinnert. Suárez spricht an anderer Stelle von der "Verantwortung, das denkerische und reflexive Lied zu verteidigen, ohne offene und greifbare Feindseligkeiten". Mit Hippiemusik? "Make Love, Not War" war keine freundliche Empfehlung an die Eltern- (und Kriegstreiber-) Generation, sondern eine kategorische Forderung. Die Hippies waren in Teilen gar nicht lieb und harmoniebedürftig. Sie waren konfliktiv. Barry McGuires "Eve of Destruction" war kein versöhnliches Lied. Bob Dylans "The Times They Are a-Changin" plädierte dafür, dass Jung und Alt getrennte Wege gehen und von Jim Morrisons "The End" wollen wir lieber gar nicht erst reden. Ich habe keine blasse Ahnung, ob die drei Genannten sich als Hippies verstanden, aber die Songs sind aus der Zeit. So viel kann man sagen. Mehr nicht.

Eine andere, im selben Interview verwendete Leerformel von Suárez, ist der angebliche Einfluss der "Indie-Bewegung" auf die Musik der Band. Indie (abgeleitet von "independent", unabhängig) hat ökonomisch keine andere Bedeutung, als dass die Produktion auf keinem gängigen Label erschienen ist; der künstlerische Aspekt des Etiketts will sagen, das man sich abseits des Mainstreams hält (von dem man, wenn man Erfolg hat, auch ganz schnell wieder vereinnahmt werden kann). Hierzu zwei Bemerkungen aus einem Meinungsforum im Internet, die mir passend erscheinen: "Ich glaube, wenn man das Wort ‚in die‘ benutzt, Zusatzlos, um sich auf eine Kultur zu beziehen, versucht man, Millionen von Menschen auf der Basis ziemlich unterschiedlicher Geschmäcker zu verbinden, die sie an irgendeinem Punkt der letzten dreißig Jahre einmal hatten. Ich bin kein Anthropologe, aber für mich hört sich das nicht nach einer Kultur an. Noch weniger nach einer Bewegung." und "Jegliches ‚in die‘ wird so breit definiert, dass es als Terminus praktisch wertlos ist."

Unverwechselbar auf Bühne und CD

Die Gruppe "Polaroid"

Die Gruppe "Polaroid", Foto: Uli Fausten



Schnitt! Dass der Boss einer wunderbaren kubanischen Band nicht die Begriffe meint, die er verwendet, sondern vielmehr seine Vorstellung von ihnen, ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Gewisse Vergröberungen ergeben sich einfach aus dem Umstand, dass Kuba der "westlichen" Musikkultur nur mit – teilweise erheblichen – Verzögerungen folgen konnte. (Dass "Hotel California" von den Eagles hierzulande immer noch als Inbegriff des Pop angesehen wird, spricht Bände.) Vielleicht sollte man einfach mit dem Unfug aufhören, eine Musik definieren zu wollen, die sich der Definition entzieht. In ihrer Fusion "trovadoresker" Elemente mit westlicher "folk music" ist die hier besprochene Band wohl einzig in der Welt. Das berühmt-berüchtigte Phänomen des Ausrufs "Das hört sich ja an wie …" gibt es bei dieser Gruppe nicht. "Polaroid" hört sich ausschließlich an wie "Polaroid".

Da die Vorstellung einer CD kaum abendfüllend ist, zumal von den zwölf Nummern ja auch noch eine – die Gedichtrezitation – für das Konzert ausfiel, musste die Gruppe einige Füllstücke einbauen. Und die waren richtig gut. Ziemlich früh brachte "Polaroid" "Somebody to Love" von Queen zu Gehör und im Publikum sah man zunächst überraschte Gesichter. Gewiss müsste jeder Versuch, Freddie Mercury zu toppen, zum Scheitern verurteilt sein, aber die Band hatte das Arrangement weitgehend umgemodelt; es war weniger bombastisch, dafür recht folkig. Eine witzige, originelle Angelegenheit.

Jenny Díaz sang das durch Joan Baez bekannt gewordene "Poor Wayfaring Stranger". Ob sie dabei die spanische Übersetzung von Baez’ Textversion benutzte (es gibt auch andere lyrische Varianten, das Spiritual ist schon sehr alt) oder sogar eigene Worte, darauf habe ich nicht geachtet, aber es hat mir so, wie Jenny es mit ihrer klaren, unverbildeten Stimme singt, sehr gefallen.

Das gilt auch für ein von mehreren Bandmitgliedern gesungenes Stück, bei dem ich den Anfang für geklaut halte. Die ersten paar Takte lang war es nämlich unverkennbar eine alte Dylan-Nummer, während es danach etwas völlig anderes wurde. Aber gut gemacht, darum geschenkt. Mantel der Nächstenliebe drüber.

Ein Instrumentalstück (durchaus möglich, dass es aus der Feder der Gruppe stammt) hatte eine Lap Steel Guitar im Vordergrund – ein Saiteninstrument, das man, ähnlich einer Zither, flach auf den Oberschenkeln liegen hat, während man es spielt. Klasse, wenn auch eine Spur anachronistisch wirkend. So ein Ding hatte ich zuletzt bei David Lindley gesehen.

Die Tatsache allein, dass sie eine der 12 Nummern ihres Debütalbums Waldo Leyva, dem derzeitigen Direktor der "Casa del Alba", zum Vortrag eines seiner Poeme zur Verfügung stellte, weist "Polaroid" als eine Gruppe aus, die in sich ruhen kann, weil sie auf ihrem Gebiet in Kuba konkurrenzlos ist. Mögen Changó, Ochún und Yemayá sie segnen.

CUBA LIBRE Uli Fausten

CUBA LIBRE 4-2016