»KRAFT DER SCHWACHEN« – reloaded

Der Dokumentarfilm über Jorgito Jerez erscheint demnächst in einer aktualisierten Fassung.

Die CUBA LIBRE hat unseren kleinen Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen« bei diversen Gelegenheiten mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht. Die geneigten Leserinnen und Leser mögen es uns dennoch gestatten, noch einmal auf das Filmprojekt zurück zu kommen.


Zur Erinnerung: Der Film handelt von einem jungen kubanischen Mann, Jorge »Jorgito« Jerez, aus der Stadt Camagüey im Osten Kubas, der mit einer schweren Behinderung auf die Welt kam. Trotz schlechter Prognosen gelingt es Jorgito – nicht zuletzt aufgrund des kubanischen Bildungs- und Gesundheitssystems – ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben zu führen. Der heutige Student der Journalistik fühlt sich schon von Kindesbeinen an der Kubanischen Revolution zu Dank verpflichtet. Die Dankbarkeit wandelt sich in Aktivität, vor allem für die Sache der Cuban Five. Jorgito nimmt die Rolle des Sohnes von Adriana Pérez und Gerardo Hernández ein, den beide aufgrund der Haft nie habenkonnten. Die Bedeutung, die Jorgito auch für die für die fünf Gefangenen zu spielen beginnt, wirkt positiv auf das Selbstwertgefühl und die Entwicklung des Jungen zurück. Jorgito ist zu einem Symbol für die Fürsorge und Solidarität geworden, die insbesondere auch behinderten Menschen in Kuba entgegengebracht wird.

Im Nachhinein fällt es schwer, sich selbst zu fragen, mit welchen Intentionen dieses Projekt ursprünglich angegangen wurde. Auf jeden Fall sollten mit dem Thema »Behinderung in Kuba« auch bislang nicht Kuba zugeneigte Kreise erreicht und auf den Fall der Cuban Five aufmerksam gemacht werden. Nun, diese Aufgabe hat sich mittlerweile erfreulicherweise erledigt; bekanntlich konnten am 17. Dezember 2014 die restlichen drei Gefangenen, unter ihnen Jorgitos »Zweitvater« Gerardo Hernández, als Ergebnis der Annäherungen zwischen den USA und Kuba in ihr Land zurückkehren. Im Fall von Gerardo und seiner Frau Adriana kommt ein weiteres Detail hinzu: Denn ebenfalls als Ergebnis der Gespräche der Regierungen der beiden Staaten stimmten die USA noch vor der Entscheidung über ihre Freilassung einer künstlichen Befruchtung zu. Als Gerardo seine Ehefrau nach 18 Jahren zum ersten Mal wieder in die Arme schloss, war diese hochschwanger. Bereits zwei Wochen später kam die kleine Gema zur Welt (CUBA LIBRE berichtete).

Am Tag, an dem die Welt von der Rückkehr der Cuban Five nach Kuba erfuhr, war Jorgito am Telefon. »Sie kommen zurück!«, jubelte er. »Wir haben sie rausgeholt!«. Eine Woche zuvor hatten wir eine Rundreise mit Jorgito und seinem Film durch Deutschland erfolgreich beendet. Ein Fall von Übertreibung, aber ein begründeter, denn zweifellos hat Jorgito einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Freilassung der Fünf durch internationalen Druck durchgesetzt werden konnte.

Jorge »Jorgito« Jerez

Foto: Tobias Kriele

Aus der Sicht des Filmemachers gab es allerdings jetzt ein Problem: »Die Kraft der Schwachen« war von heute auf morgen veraltet. Nicht in dem Sinne, dass er unaufführbar geworden wäre – weiterhin wird er fast im Wochenrhythmus gezeigt. Aber die an sich unglaubliche Geschichte von Jorgito ist doch auf entscheidende Weise fortgeschrieben – ohne, dass die ursprüngliche Fassung des Filmes dies einfangen würde. Jorgito hat mit den Cuban Five nicht einfach ein sinnvolles Beschäftigungsfeld mit therapeutischer Wirkung gesucht und gefunden. Er, der Gehandicapte, hat schlicht und ergreifend daran geglaubt, die Welt verändern zu können – und er hat sie schlussendlich verändert, im Zusammenspiel mit Vielen vielleicht – aber ist das ein Gegenargument?

Aus diesen Überlegungen kamen wir zum Schluss, dass der Film ein neues Ende verdient habe, ein Happy-End, wenn auch nicht nach Art und Geschmack Hollywoods. Kurzum, wir beschlossen, nach Kuba zu fliegen und die erste persönliche Begegnung von Jorgito mit seinem Zweitvater Gerardo filmisch zu dokumentieren. Am Tag dieser Begegnung wurde Jorgito, der Zufall wollte es, 22 Jahre alt. Wir wurden Zeugen des – so Jorgito – glücklichsten Geburtstag seit Menschengedenken.

Es war erstaunlich, mit welcher Vertrautheit sich die beiden und ihre Familien begegneten. Tatsächlich schien es sich um eine einzige Familie zu handeln. Gerardo und Jorgito plauderten miteinander, als hätten sie nie etwas anderes getan. Zwei Menschen, die nie zuvor ein Wort miteinander gewechselt hatten, und doch zugleich so viel miteinander teilen wie Vater und Sohn. Die Familie von Jorgito, die den Mann umarmen konnten, von dem sie bislang nur in dessen Abwesenheit sprechen konnten – das dafür aber täglich. Die kleine Gema, die gelegentlich aus der Wiege heraus auf ihre Anwesenheit aufmerksam machte und noch gar nicht verstehen konnte, weshalb Menschen aus aller Welt sie mit Blumen und Kuscheltiere überhäufen. Eine bizarre, außergewöhnliche, anrührende Situation. Und wir durften mit der Kamera dabei sein und Fragen stellen.

Gerardo Hernández ist in seinem Auftreten ein durch und durch bescheidener und freundlicher Mensch. In einer Drehpause servierte er den Anwesenden auf einem Tablett Erfrischungsgetränke, er kochte Kaffee und zeigte uns seinen Bonsaibaum. Ein ganz normaler Mensch und doch zugleich ein Held in Fleisch und Blut, wie Jorgito in seinem Blog schrieb. Ein Mensch, dessen Bild während der letzten anderthalb Jahrzehnte in über einhundert Ländern vor US-Botschaften in die Höhe gehalten wurde. Als die Kamera läuft, nutzt er die Gelegenheit, um über die Bedeutung der Solidaritätsbekundungen zu sprechen, die ihn in seiner Zelle erreichten. Jede kleinste Aktivität, jede Postkarte, jede Geste war wichtig, denn sie hat uns ermutigt, durchzuhalten und letzten Endes unsere Freiheit zu erreichen, sagt er. Neben ihm sitzt Jorgito, und seine Augen möchten den Helden, der auch sein Papa ist, verschlingen. In diesem Moment scheint es klarer wie Wasser, wie es in Kuba heißt, dass wir alle zusammen etwas erreicht haben. So, wie diese Welt ist, bleibt sie nicht.

Die erneuerte und ergänzte Fassung von »Die Kraft der Schwachen« soll noch im Sommer 2015 fertig gestellt werden. Eine neue DVD ist in Arbeit, bitte achtet auf Ankündigungen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen zu danken, die dieses Projekt, in welcher Form auch immer, unterstützt haben. Wir haben weitere Pläne: Jorgito und der Film sollen weitere Länder bereisen. Und wir freuen uns weiterhin über jede Veranstaltung, die in Deutschland oder anderswo stattfindet.


CUBA LIBRE Tobias Kriele

CUBA LIBRE 3-2015