Die Kraft der Schwachen

»Ich bitte Euch, jeden Abend, bevor ihr schlafen geht, kurz inne zu halten und euch zu fragen; >Was habe ich heute für die Freiheit der Fünf getan?<«

In der Cuba Libre 4/2013 beschrieb ich, wie mich diese Worte von Jorgito dazu motivierten einen Film über diesen jungen Mann aus Camagüey in Kuba zu machen, dessen »Log« in dieser Zeitschrift schon zur festen Einrichtung geworden ist.

Jorgitos Start ins Leben und erste Schuljahre

Jorgito ist mit einer beidseitigen spastischen Lähmung auf die Welt gekommen. Für eine Zeit schien es fraglich, inwieweit er jemals würde sprechen können. Heute zieht er ein großes Publikum in seinen Bann. Seine Ansprache vor dem Pionierkongress war nach eigener Auskunft der bislang wichtigste Moment seines Lebens. Seitdem wenige Tage nach seiner Geburt deutlich wurde, dass der Säugling schwere Hirnschäden erlitten hatte, hatte die kubanische Gesellschaft – Familie, medizinisches Personal, später Pädagogen – alles daran gesetzt, dem Jungen ein Leben zu ermöglichen, in dem die Behinderung möglichst wenig zur Beschränkung würde. Jorgito verbrachte volle zwei Jahre zusammen mit seiner Mutter in einer Reha-Klinik. Ein anschließender Aufenthalt in einer logopädischen Schule sollte der einzige Aufenthalt in einer Sonderschule bleiben. Jorgito galt dort als der Fall mit den kompliziertesten Ausgangsbedingungen; am Ende des Jahres hielt er mit erstaunlicher Eloquenz Reden vor den versammelten Kindern und Pädagogen. Heute sagt er, dass er vermutlich bereits, bevor er denken konnte, eine tiefe Dankbarkeit für die Solidarität empfand, die ihm entgegenkam, seitdem er das Licht der Welt erblickte.

In der Grundschule wurde beschlossen, die Anschaffung eines Computers zu beantragen, auf dem der Junge, der nicht in der Lage war, mit der Hand einen Bleistift zu führen, die Unterrichtsmitschriften erledigen könne. Havanna schickte trotz des mit der Sonderperiode verbundenen Versorgungsengpasses wirklich einen Computer, übrigens aus Beständen einer Solidaritätslieferung. Zudem wurde Jorgito eine eigene Lehrerin an die Seite gestellt, ohne ihn dabei aus dem Klassenverband zu nehmen.

Erste Rede vor der Kinderdelegation im Parlament

All dies hatte der damals vierzehnjährige Junge vor Augen, als er dort, wo sonst das kubanische Parlament tagt, das Wort erteilt bekam, um zu den Delegierten der kubanischen Kinderdelegation zu sprechen. Jorgito machte zunächst den Vorschlag, den Fall der »Cuban Five« als systematischen Bestandteil in die Lehrpläne der Mittelschule aufzunehmen und nutzte dann die Gelegenheit, sich beim anwesenden Raúl Castro persönlich für die ihm widerfahrene Solidarität zu bedanken. »Alles was ich bin, bin ich dank der Revolution «, sagte er. »Meine Arme und meine Beine funktionieren nur mit Einschränkung, aber mit meinem Geist und mit meinem Herzen werde ich ihr immer zur Seite stehen.« Auf den Fernsehbildern waren zu Tränen gerührte Kinder zu sehen, die seine Ansprache mit Standing Ovations unterbrechen. Raúl Castro nahm den Jungen in den Arm, Cubavision und Telesur übertrugen live.

Solidarität statt Mitleid

Jorgito Jerez Belisario


Jorgito vor einem bild von Ignacio Agramonte, ebenfalls Camagüeyaner

Foto: Martin Brochwitz


Der Anblick von Kindern, die vor einer Fernsehkamera politische Reden halten und von mächtigen Politikern umarmt werden, mag in unseren Breitengraden Unwohlsein auslösen. Doch Jorgito ist kein bemitleidenswerter Junge, der sich artig für die ihm zugekommene Unterstützung bedankt. Wenn er von seinem Kuba spricht, denkt er in geschichtlichen Kategorien. Jorgito nennt es seine größte Stärke, sich das richtige Geburtsland ausgewählt zu haben.

So entschied er auch, dass wir ihn im Geburtshaus von Ignacio Agramonte, Camagüeyaner und einer der Anführer des ersten kubanischen Befreiungskrieges von 1868, interviewen sollten. Nachdem wir einen halben Tag mit ihm über sein Leben als Ausnahme, wie er es auszudrücken pflegt, gesprochen hatten, äußerte er, es gefalle ihm nicht besonders, über sich zu reden, und er ziehe es vor, die Zuschauerinnen und Zuschauer zu motivieren, sich für die Freiheit der Cuban Five einzusetzen.

Im Einsatz für die Cuban Five

Diese Episode erzählt viel über Jorgito. Tatsächlich nimmt er sich nicht als gehandicapt wahr, von entsprechenden Reaktionen seiner Mitmenschen nimmt er allenfalls Notiz. Seine Behinderung ist für ihn selbst nur mittelbar vorhanden. Als ihm bewusst wurde, dass seine Erscheinung Aufsehen erzeugt, welches in Aufmerksamkeit umschlagen kann, begann Jorgito schon als Kind listig, seine Behinderung als Köder auszulegen, um seine Zeitgenossen, insbesondere die im Ausland ansässigen, zu politisieren. Voller Stolz berichtet er, wie er ein kanadisches Ehepaar mit großer Skepsis gegenüber der kubanischen Revolution überzeugte, zu Aktivisten für die Cuban Five zu werden.

Schon früh identifizierte sich Jorgito mit den fünf in den USA verhafteten Kubanern. Aus seiner eigenen Erfahrung kannte er Ausdauer und Standhaftigkeit – und auch die Bereitschaft, für kollektive Interessen die eigenen individuellen Bedürfnisse hintenan zu stellen. Die fünf Männer, die nach Miami gegangen waren, um terroristische Attentate von Kuba abzuwenden, hatten es ermöglicht, dass auch Kinder wie er eine Chance bekamen, sich als ein ganzer Mensch zu entwickeln. Wenn Jorgito sagt, dass er alles, was er ist, Kuba verdankt, dann denkt er dabei auch und zuallererst an die Cuban Five. Und er drängt zur Tat. Mit zwölf Jahren startete er einen Aufruf an die kubanischen Kinder, sich zum Sohn bzw. zur Tochter des in den USA zu zwei Mal lebenslänglicher Haft verurteilten Gerardo Hernández zu erklären, der aufgrund des de-facto-Besuchsverbotes für seine Frau Adriana Pérez keine eigenen Nachkommen zeugen kann. Jorgito sieht Adriana bis heute als seine zweite Mutter an und den Mann, den er niemals zu Gesicht hat bekommen können, als seinen Vater. Auch die anderen Angehörigen der Cuban Five betrachten Jorgito als ein Familienmitglied. Nicht zuletzt deshalb, weil er – wie Magalys Llort, die Mutter von Fernando González es ausdrückt – im Fall der Fünf besser informiert ist als die entsprechenden Anwälte.

Die Stärke des richtigen Handelns

»Die Kraft der Schwachen« geht auf einen Titel zurück, den die Schriftstellerin Anna Seghers einem ihrer Erzählbände gegeben hat. Seghers Geschichten handeln von Menschen, die ein gewöhnliches, mitunter opportunistisches Dasein führen und dann in einem entscheidenden Moment das richtige tun. Die Freundinnen, Freunde und Weggefährten, die wir fragten, weigerten sich, Jorgito als schwach zu bezeichnen. Die beidseitige Spastik, die ihn seit seinem ersten Lebensjahr begleitet, hat sein Leben zwar geprägt. Bestimmt wurde es aber von der Überwindung der Behinderung, ihrer Umkehrung. Dies liegt nicht nur in seiner persönlichen Haltung oder der Zuwendung seiner Familie begründet. Jorgito versteht sich als ein Produkt der Geschichte Kubas.

In deren Verlauf haben Kubaner, von Agramonte bis zu den Cuban Five, in einer Situation vermeintlicher Schwäche »basta!« gesagt. Und auch Jorgito beweist uns jeden Tag neu, welche Kraft in demjenigen steckt, der beschlossen hat, seine vermeintliche Schwäche in und durch Solidarität umzukehren. Und er lädt uns großzügig ein, es ihm gleich zu tun.

Der Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen« wird am 23. November 2014 im Berliner »Babylon« vorgestellt. Jorgito wird dort und bei weiteren Veranstaltungen in Deutschland persönlich anwesend sein.

Weitere Termine:


Dienstag, 25.11.2014, 19:30 Uhr
Kino Savoy, Steindamm 54, 20099 Hamburg

Mittwoch, 26.11.2014, 20:00 Uhr
Kommunalkino City 46, Birkenstr. 1, 28195 Bremen

Samstag, 29.11.2014, 19:00 Uhr
Bambi-Kino, Klosterstraße 78, 40211 Düsseldorf

Sonntag, 30.11.2014, 17:00 Uhr
Kino Endstation, Bahnhof Langendreer, Wallbaumweg 108; 44894 Bochum

Dienstag, 02.12.2014, 19:00 Uhr
Kino in der Fabrik, Tharandter Str. 33, 01159 Dresden

Mittwoch, 03.12.2014, 19:00 Uhr
Thalia-Kino, Obstmarkt 5, 86152 Augsburg

Donnerstag, 04.12.2014, 19:15 Uhr
Monopolkino, Schleißheimerstr. 127, 80797 München

Freitag, 05.12.2014, 20:00 Uhr
Kino Lumiere, Reinhäuser Landstr. 19, 37083 Göttingen

Sonntag, 07.12.2014, 15:00 Uhr
Kino Capitol, Neubrunnenstr. 9, 55116 Mainz

Für die Finanzierung der Rundreise werden dringend Spenden benötigt! Spenden bitte unter dem Stichwort
Film Jorgito/Behinderten-Selbsthilfe ACLIFIM
Bank für Sozialwirtschaft, Köln
IBAN: DE96 3702 0500 0001 2369 00
BIC: BFSWDE33XXX

Wenn mehr Spenden eingehen sollten, als zur Finanzierung der Rundreise von Jorgito zur Vorstellung des Films eignen sollen, werden diese für unser Aclifim-Projekt verwendet. Es besteht auch die Möglichkeit, die Veranstaltungsreihe in Form einer Einlage zu unterstützen. Diese wird im Anschluss an die Rundreise in Abhängigkeit von ggfs. angefallenen Verlusten anteilig zurückgezahlt.


Kontakt: kraftderschwachen@arcor.de.

CUBA LIBRE
Tobias Kriele

CUBA LIBRE 4-2014