Wenige Schritte von der Bucht entfernt, mit der offenen Sicht auf die Landschaft von Masten und Schiffen oder die Alameda de Paula aus dem 19. Jh., von wo aus man das Kommen und Gehen der Leute zwischen den Omnibussen und dem bekannten Motorboot beobachten kann, erhebt sich das koloniale spanisch-maurische Herrenhaus (heute restauriert) im Viertel Luzy Oficios im alten Havanna, wo gerade ein Zentrum für bildende Kunst und Malerei eingerichtet wurde, und das als erste relevante Ausstellung etwa 90 Werke realistischer Grafik aus der BRD zeigt. Die Ausstellung erreichte uns unter der Leitung der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba, der Botschaft dieses Landes bei uns und des kubanischen Kulturministeriums, und sie bringt uns in Kontakt mit nationalen zeitgenössischen Ausdrucksformen der Kunst dieses nordeuropäischen Landes, und sie trägt dazu bei, uns ein weiteres Stück aus dem Erbe unserer Hauptstadt zu erschließen.
Radierung von Eckhard Froeschlin |
In den Gängen des ersten Stockwerks des genannten Hauses (gut organisiert durch ein System von Stellwänden, die funktionale Veränderung der Räume ermöglichen), befinden sich die Drucke der deutschen Künstler, die uns neue Formen, Figurationen, Farbzusammenstellungen, Fantasien und Interpretationen der gelebten oder durch Information erfahrenen Realität bieten, um uns mitzuteilen, daß das was die solide Kunstschule, der sie angehören, auszeichnet, in der Fähigkeit besteht, die Kontinuität des klassischen Erbes zu verbinden mit den neuartigen Konzeptionen, die entstanden sind aus Epochen und historischen Gegebenheiten und der konstanten Sorge, ‘die imaginative Zeichnung zu verbinden, mit der technischen Perfektionierung’ - wie es Gropius bezeichnete.
Auf diese Weise hatte der Nazifaschismus die Kunst in seinen tödlichen Krallen, beschimpfte sie als ’entartet’ und verbot so die modernen Strömungen, die sich nicht an den stereotypen pseudoklassischen und neogotischen Stil anpaßten. Und es gibt eine wahre Sammlung, die an die Bilder der Naturalisten und Protoexpressionisten des 19. Jh. erinnert und die Verbindung herstellt zu den Bewegungen der Malerei und der Grafik der Zeit der Revolution 1918, den Lehren der Weimarer Schule der Künste und des Bauhauses, ebenso wie den ästhetischen Kriterien und den internationalisierten Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg und den letzten Jahrzehnten.
Des wegen ergeben sich viele Möglichkeiten der Darstellung aus der Wiedergabe der individuellen Sicht, der Ikonografien jeder Zeit und jedes Konflikts, der Auswirkungen der wissenschaftlichen Entwicklung, der ideologischen Standpunkte, der Erlebnisse des täglichen Lebens, der technologischen Bereicherungen der Durchführung, sowie der Morphologie der visuellen Rhetorik, die dem komplexen Weg der bildenden Kunst dieses Jahrhunderts innewohnt.
Die Fabulierkraft von Gertrude Degenhardt, die Poesie des Alltäglichen von Peter Nagel, der rauhe Expressionismus von Karl Hubbuch, die kritische Wiedergabe zeitgenössischer Szenen von Harald Duwe, die Traumbilder von Jürgen Wölbing, die satanische Satire von A. Paul Weber, die Kommunikation durch Metaphern von Klaus Staeck, die Magie der Grautöne von Annegret Soltau, die Zeugnisse von Eckard Froeschlin, die Wollust von Hanja Rau, die Halluzinationen von Renate Sautermeister, die Zeichen und Grafismen von Karl Bohrmann, die Narben von Gerhart Bettermann, das Feuer der Haut von Renate Sendler-Peters, der Sarkasmus von Erhard Göttlicher und die Tradition des Fantastischen von Michael Precht sind Aspekte und Namen, die uns auffallen unter den vielen, die unter dem Begriff Grafikd er westdeutschen Kunst zusammengefaßt sind und die typisch sind für die Generationen, die die Sprache derModernität sprechen.
Das Realistische dieser Grafik, die begleitet wird von einem ausgezeichneten Katalog, besteht nicht in der äußerlichen naturgetreuen Reproduktion von Objekten, Landschaften, Personen, Dingen oder Phänomenen der realen Szene. Ihre spezielle realistische Dimension ist gegeben durch die Verknüpfung dessen, was das Auge des Künstlers auffängt, mit seiner persönlichen ästhetischen und politischen Einschätzung oder durch die Art, wie das Erleben der Außenwelt umgesetzt wird in Fantasmagorien, Sicherheiten und Wissen und Resultate seines Bewußtsein. Sie sind Realisten, weil sie das Ensemble dessen wiedergeben, was sie in ihrem Leben als Künstler, das bestimmt wird durch die Widersprüche innerhalb des Landes und in der Welt, erfahren und weil sie die kulturelle und künstlerische Realität ihres Landes aufzeigen.
Granma 9.9.1981
CUBA LIBRE 3-1981, Extraausgabe