Der kubanische Schriftsteller Eliseo Diego hat anläßlich der Buchmesse in Frankfurt 1980 folgende Rede gehalten:
Die Frage danach, was die Kinder lesen können, ist ohne Zweifel wichtig, aber noch wichtiger ist es, daß die Kinder überhaupt lesen können. In hochentwickelten Ländern mag diese Frage vielleicht etwas paradox klingen, aber in der Dritten Welt stellt sie eine herzzerreißende Realität dar. Diejenigen, die das "vergnügte" Havanna der fünfziger Jahre kennengelernt haben, erinnern sich vielleicht daran, wie des Nachts, wenn der kalte Wind vom Norden wehte, die kleinen Bettler in den Hauseingängen im Stadtzentrum zu schlafen versuchten, eingewickelt in die Zeitungen, die sie in der Trostlosigkeit der Abenddämmerung nicht hatten verkaufen können. Der Buchstabe, der ihnen verwehrt war, diente ihnen zumindest als Mantel. Unser kleines Land, das immer noch darum kämpft,die letzten Überbleibsel des besiegten Kolonialismus zu bekämpfen, erlaubt es sich heute - ebenso wie die traditionell gebildeten Länder - zu fragen, was den Kindern in die Hände gegeben werden kann, denn es gibt kein Kind mehr, das ein Buch in seinen Händen hält, ohne einen Nutzen daraus ziehen zu können.
Als erstaunliches Zeugnis - es ist natürlich vielmehr als ein solches, aber ich ziehe es vor, den Leser sich sein eigenes Urteil bilden zu lassen - möchte ich zunächst den Tatbestand nennen, daß die Beschäftigung mit diesem Thema unter uns nichts Neues ist. Ende des vergangenen Jahrhunderts, während wahrhaft düsterer Jahre in unserer Geschichte, fand der Begründer der kubanischen Nationalität, José Martí, die Zeit, inmitten der Sorgen und Nöte des Unabhängigkeitskrieges, der hundert Jahre dauerte, eine Zeitschrift herauszugeben und praktisch alleine zu verfassen, die - den Kindern gewidmet - einzigartig im spanischen Sprachraum war. Sie hieß "La Edad de Oro" (das goldene Zeitalter).
Die Forderungen, die zu diesem Werk inspirierten, sind der damaligen Zeit außerordentlich voraus:
Sie zielen darauf, durch ansprechende Texte, in denen in schöner Klarheit unterschiedliche Aspekte der Technik und Wissenschaft behandelt werden, den Kindern die Gelegenheit zu bieten, ihre möglichen Neigungen selbst zu entdecken. Phantasie und Sensibilität sollen durch die Lektüre von Geschichten und Gedichten, die bereits antologischen Charakterbesitzen, gefördert werden und in den Kindern soll das Gefühl der Solidarität mit allen Völkern der Welt geweckt werden.
In dieser Zeit der furchtbaren Ungewißheit, in der das einzig Unerschütterliche der Glaube derjenigen ist, die wir unser Leben auf die Karte der Gerechtigkeit gesetzt haben, erscheint es mir als eine notwendige Ehrung und als das beste Vorzeichen, daß wir uns auf das Beispiel dieses Mannes berufen. Denn es war seine Sehnsucht, wie wir bereits oben ausgeführt haben, daß die Kinder aller Rassen und Völker sich wie Brüder lieben, und in diesem Sinn wies er darauf hin, daß der geeignete Weg darin | besteht, sich gegenseitig kennenzulernen. Und ist es nicht die Literatur, in der sich das Wesen jedes Volkes in seiner ganzen lebendigen Vollständigkeit entfaltet?
Es muß folglich richtig sein, die schöpferischen Kräfte dazu anzuregen, das unersetzbare eigene Leben in Worte umzusetzen - ich spreche von jenen Ländern, denen gierige Mächte fremde Vorstellungen aufgezwungen haben - und die wechselseitige Bereicherung der unterschiedlichen Sprachen mit der gleichen Kraft wirksam werden zu lassen, mit der uns die Schaffung eines Werkes beherrscht, das uns selber stärker betrifft.
Wir wissen es allzugut, aber manchmal vergessen wir es geflissentlich, daß ein Gedicht z.B. nicht mit der letzten Strophe endet. Ihm fehlt nichts weniger als das Leben. Und es beginnt nur dann zu leben, wenn ein anderer es zu schaffen beginnt, es von neuem erschafft. Schreiten wir nun voran zur Tiefe des Lebens und nehmen wir in der Ferne einen winzigen roten Punkt wahr: Es ist eine Feuerstelle inmitten des Waldes, und neben ihr befindet sich ein Mann, der erzählt, seine Worte mit Gesten und Gebärden unterstreichend. Es wäre unsinnig, wenn er alleine wäre. Beim Schein der Flammen lauscht begierig ein Kreis von Männern, Frauen und Kindern.
Wo beginnt, wo endet dieser schöpferische: Akt inmitten des Waldes? Wenn diejenigen, die zuhören, nicht so zu diesem Akt befähigt wären, wie derjenige, der erzählt, wie sollte er überhaupt möglich sein?
Erlauben Sie mir, mich einen Augenblick mit mythischem Denken zu befassen und ich werde sagen, daß diejenigen, die glauben, daß die Dichtung ein Privileg, der Schriftgelehrten und Auserlesenen sei, die Sünde des Hochmuts begehen!
Ein handfester spanischer Klassiker des 14. Jahrhunderts, der Infante Don Manuel, schrieb in seinem "Buch über das Erbgut und den Grafen Lucanor" (1335), unter Bezugnahme auf eine gewisse verworrene Frage, die man als ein Privileg der Schriftgelehrten erachtete: „Und glaubt wohl, daß die Weise, in der die Greisin vor ihrer Haustür die Sonne betrachtet, eine Wirklichkeit darstellt!
Keine der grundlegenden Erfahrungen des bewußten Lebens ist ein Erbgut der Privilegierten. Es könnte sehr wohl geschehen, daß sich uns die Großartigkeit einer Dichtung darböte, wenn vor uns die Greisin mit dem gekrümmten Rücken erschiene, die vor ihrer Haustür die Sonne betrachtet. In meinem kleinen Land haben wir eine Revolution gemacht.
Da unser Land so klein ist, erscheint es erstaunlich, daß es praktisch niemanden auf der Welt gibt, der dies nicht weiß. Das, was man vielleicht nicht so gut weiß,ist die Tatsache, daß die Revolutionen nicht gemacht werden, um sich nach der Beseitigung der größten Ungerechtigkeiten zufriedenzugeben.
Nein! Die Revolutionen erzeugen Probleme, die sich aufgrund der vorangegangenen Situation nicht einmal ahnen ließen.
Dies geschieht im Falle der bloßen Entdeckung, daß in jedem Menschen die Fähigkeit zu schöpferischer Tätigkeit ruht: Sofort wird die Dichtung zu einem nationalen Problem.
Welche Schwierigkeiten hatte es geben können, solange die Freude an den sogenannten "Schönen Künsten" eine Kostbarkeit und eine Zierde von Minderheiten war?
Es ist eine skandalöse Angelegenheit, daß die individualistische Auffassung von der Kunst als ein Privatbesitz auserwählter Minderheiten wie eine Fahne ausgerechnet von der Macht geschwungen wird, die sich selber mit beispielhafter Heuchelei zum Verteidiger - man weiß nicht welcher - Menschenrechte ernannt hat.
Aber wir meinen gewiß, daß es aufgrund jenes „Besitzes“ eine wunderbare Fähigkeit gibt, ohne die die vollkommene Harmonie des Menschen nicht möglich ist; wir meinen, daß es sich nicht nur darum handelt, daß einer schöpferisch tätig ist und viele bewundern, sondern um ein allen gemeinsames Schaffen und Wieder-Erschaffen, wobei das eine soviel wert ist wie das andere, denn derjenige, der aus seiner eigenen Kraft ein Gedicht, ein Bild, eine Melodie schafft, ist nicht nur im üblichen Sinne schöpferisch tätig; er kann hernach den schöpferischen Akt in die Entdeckung eines, sagen wir neuen Gesetzen der Wirklichkeit münden lassen, weil er, der er in seinem Inneren eine poetische oder tragische Erfahrung wiederaufleben läßt, kaum zu einem Folterer oder Henker werden wird. Wenn wir also meinen, daß all dies so ist, wie sollten wir dann nicht anstreben, daß das, was eine Gabe weniger war, eine Gabe der ganzen Nation, der ganzen Menschheit wird?
Ich will nicht leugnen, daß dieses ein Unternehmen riesigen Ausmaßes oder eines von Verrückten ist; ich frage nur, ob es der Mühe wert ist oder nicht. Wir haben beiden Grundlagen angefangen - und das erscheint mir sehr vernünftig - , wir haben mit der Grundschule begonnen. Dort bieten unsere neuen Bücher für den Literaturunterricht den Kindern ebenso Texte, die von einigen unserer besten Prosaschriftstellern und Lyrikern speziell für sie geschrieben worden sind, wie eine Auswahl aus der besten Literatur in unserer Sprache, sowohl des eigenen Vaterlands als auch der Bruderländer Amerikas und des Landes, in dem’ unsere Sprache ihren Ursprung hat, des großartigen und edlen Spaniens.
Da wir dem schöpferischen Akt durch das Wort, der die Seele prägt, Nachdruck verleihen, unterschätzen wir nicht, welche große Rolle der Phantasie in der Entwicklung zukommt:
Auf den Seiten unserer Bücher sind die ewigen Klassiker zu finden: "Der gestiefelte Kater", "Das häßliche Entlein", "Die Schöne und das wilde Tier" und selbst der für einen Augenblick tragische Schimmer von Tristan und Isolde. Und neben den alten Klassikern die neuen: Die Werke einer ganzen, vorher unbekannten Welt, zu der uns erst die Revolution Zugang verschaffte, der Welt der sozialistischen Länder; und schließlich die Geschichten und Legenden die nach Beendigung der finsteren Zeiten Afrikas und Asiens entstanden sind.
"Gut endet, was gut begonnen", hören wir den lustigen und ebenso schrecklichen Meister Guillermo sagen. Aber einer seiner Landsmänner, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, macht uns darauf aufmerksam, daß eine gute Geschichte mit dem Anfang beginnen, mit dem Schluß enden und natürlich vorher einen Mittelteil haben muß. Und dieser Mittelteil sind unsere öffentlichen Bibliotheken für Kinder und Jugendliche, die es auf der Insel nicht gab, bevor die Revolution sich darauf einließ, sich mit diesen ein weiteres Problem zu schaffen, und es sind auch unsere umfangreichen Editionen, in denen sich die Phantasie nach Lust und Laune austoben kann, angefangen bei den unterirdischen Wandlungen der verzauberten Alizia bis hin zu den wundersamen Orten, an denen die sympathischen Geschöpfe von Marshak und Chukowsky umherstreunen. Ohne die Bücher zu zählen, die unsere Schriftsteller, alte und neue, zu Ehrender Kinder und für diese geschrieben haben. Zum Beispiel das mysteriöse "Barco de Papel" (Schiff aus Papier), das Nicolás Guillen vor ganz kurzer Zeit auf das Karibische Meer hinausgeschickt hat, oder "Jugando y otros poemas" (Spielend und andere Gedichte) von Mirta Aguirre oder "Palomar" (Taubenschlag) von Dora Alonso. Seltsam all dies, gar unvorhersehbar in einem kleinen Land, das vor nur 20 Jahren bezüglich der geistigen Nahrung seiner Kinder abhängig war von den Brosamen, die von den Tischen der Reichen abfielen?
Aber haben wir nicht vorher angeführt, daß bereits im 19. Jahrhundert, als der Größte der Kubaner Zeit fand, inmitten der Vorbereitungen eines Befreiungskrieges, den er mühsam mit eigener Kraft entzündete, diejenige Zeitschrift, die die beste in spanischer Sprache war, zu entwerfen und eigenhändig zu schaffen.
Sein Beispiel blieb unbekannt, solange Kunst noch Zierrat war: als sie wieder als Notwendigkeit erkannt wurde,fehlten uns als seinen Söhnen die Zeit, diesem Beispiel zu folgen. Die geographischen Dimensionen meiner Heimat sind sicherlich nicht sehr groß; aber der Umkreis, in dem man seine Stimme gerne hört, umfaßt nahezu dreihundert Millionen menschliche Existenzen, diejenigen, in denen die Kraft des Don Miguel des Cervantes lebt und vibriert. So wie wir wissen, daß Gerechtigkeit und Schönheit die Fundamente des Lebens sind, und daß sich um diese Prinzipien die Künste jener Völker drehen, die sich für die Ausstrahlungskraft vom Menschen wie Marx und Lenin entschieden haben, die sich für die Partei des Lebens gegen die Partei der Habgier und des Todes entschieden haben, wollen wir auch, daß sich sein Glanz durch uns, wie durch ein kleines Fenster über den weiten Raum der spanischen Sprache erstreckt.
Sehr bald wird unser Verlag "Neue Menschen" eine Antologie sowjetischer Kindergedichte veröffentlichen, dessen Titel "Und für mich zeichne einen Weg" aus einem Vers von S. Mijalkov entnommen wurde. Es wird nur die erste von vielen sein. Wir haben schon einiges über Beginn und Verlauf gesagt, fügen wir jetzt noch einige Worte über das Ziel der Geschichte hinzu. Zusammen mit der Literatur haben wir uns auch darum gekümmert, die zauberhaften Fähigkeiten in den darstellenden und bildenden Künsten, in der Musik und im Tanz, zu schulen. Es ist ein Glück zu sehen, wie die Kinder mit den Farben und dem Licht der Welt spielen, um aus ihnen ihre eigene freie und vollkommene Welt zu schaffen. Eine Moncada-Kaserne, die wirklich ist und doch wieder nicht! Oder ein klassisches Haus, das in einen roten Himmel seinen grünen Rauch stößt! Oder das fremdartige Tier, von dem wir nicht wissen, ist es ein Eselskater oder ein Hundesohn! Und seht, wie die Musik von Brahms oder die von Prokovjev Lichter in den Gesichtern dieser Kinder anzündet!
Privilegiert sind meine Augen, weil sie diese Dinge gesehen haben.
Eliseo Diego
CUBA LIBRE 1-1981