Rede, gehalten von Comandante en Jefe Fidel Castro Ruz, erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Cubas und Vorsitzender des Staatsrates und des Ministerrates, bei der Eröffnungssitzung des Vierten Iberoamerikanischen Gipfels der Staats- und Regierungschefs in Cartagena de Indias, Kolumbien, am 15. Juni 1994.
Verehrter Herr Präsident von Kolumbien, César Gaviria,
Majestät, Exzellenzen:
Unsere Gipfeltreffen, durchgeführt in Guadalajara, waren ein Beispiel der Inspiration für die Annäherung und Vereinigung unserer Völker. Wir haben erneut unsere Entscheidung bekräftigt, uns zu vereinigen ohne die Erlaubnis Dritter und ohne jemanden auszuschließen. Unsere Anstrengungen haben in vieler Hinsicht Früchte getragen. Die Fortschritte von ALADI, dem Andenpakt, dem gemeinsamen Mittelamerikanischen Markt, MERCOSUR und die wachsende Bedeutung der SELA machen dies deutlich.
Dem Anschein nach fühlen einige jedoch Besorgnis angesichts dieser neuen und unabhängigen Form der Aktion. Unser mächtiger Nachbar im Norden beruft nun ein anderes Gipfeltreffen ein, das nirgends anders als in Miami durchgeführt werden soll, es heißt, damit die Vereinigung der Hemisphären reifen möge.
Es gab bereits die Allianz für den Fortschritt. Es gab die Initiative für Amerika (Iniciativa de las Americas). Und heute erinnert sich niemand mehr daran. Wir schritten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Losung zu Losung, von einem Schwindel zum nächsten. Es gab auch Kriege, Interventionen, und territoriale Eroberungen auf Kosten unseres Amerikas. Was können wir heute von dieser unverändert expansionistischen, egoistischen und hegemonialen Macht erwarten?
Für Cuba, dem angegriffenen und seit mehr als 30 Jahre mit einer Blockade versehenen Land, verbietet sich die Teilnahme an diesem Treffen durch die vermeintlichen Eigentümer dieser Hemisphäre.
Welche Niederträchtigkeit, Mittelmäßigkeit und politische Armseligkeit spiegelt dieser Ausschluß wider!
Dennoch wendet sich Cuba nicht gegen dieses Gipfeltreffen. Uns stellt es zufrieden, daß die Bruderländer Lateinamerikas dort mit aller Entschlossenheit und Energie die Interessen unserer Völker vertreten können.
An erster Stelle ist es Zeit zu fordern, daß unter den grundlegenden Rechten des Menschen endlich respektiert und als etwas essentielles und heiliges anerkannt wird das Recht auf Gesundheit, auf Bildung, auf gerecht entlohnte Arbeit, auf kulturelle und ethnische Identität. Das Ende jeder rassischen oder sexuellen Diskriminierung, daß Schluß damit sein muß, daß Kinder verlassen und mutlos auf den Straßen leben als Opfer der Ausbeuterklasse, der Gewalt und des sexuellen Mißbrauchs. Daß Schluß sein muß mit dem Hunger und damit, daß jedes Jahr Millionen von Menschen sterben, die gerettet werden könnten.
Cuba hat diesen revolutionären Kampf für demokratische Entwicklungen in Mittel- und Südamerika entschlossen unterstützt, und wir freuen uns, daß die derzeitige Regierung der Vereinigten Staaten - nicht wie andere dies getan haben - die blutigen Militärdiktaturen unterstützt, die sich den nordamerikanischen Interessen untergeordnet haben. Was Cuba nicht akzeptiert ist, daß die Vereinigten Staaten vorgeben, sich in ein Vorbild und den Obersten Richter über die politische Ordnung in Lateinamerikas zu verwandeln.
Cuba verteidigt mit aller Entschlossenheit das Prinzip der nationalen Souveränität, die nur angesichts eines Vereinigten Lateinamerika zur Disposition stünde aber es akzeptiert nicht, daß die nordamerikanischen Machtzentren sich unter irgendwelchen Vorwänden in die inneren Angelegenheiten der Staaten der Region einmischen können.
Nichts würde Cuba mehr begrüßen als wenn die USA allen Staaten der Region - besonders denen mit geringen Einkommen - freien Zugang zu ihren Märkten gewähren würden, als Beitrag zur ökonomischen Entwicklung dieser Länder.
Für Cuba scheinen gleichermaßen Auslandsinvestitionen - einschließlich in den USA - notwendig zu sein als Beitrag zur Entwicklung auf diesem Kontinent.
Aber uns beunruhigt der Prozeß der Reprivatisierung wichtiger Reichtümer und natürlicher Ressourcen zuungunsten der Länder der Region in der sie produziert werden.
Handel und private Investitionen sind nicht ausreichend um die Entwicklung der nationalen Volkswirtschaften zu garantieren. Es ist erforderlich den Fluß an Entwicklungshilfe zu vergrößern, den die Vereinigten Staaten verringert haben.
Nun da der Kalte Krieg zuende ist, sollte dieses Land einen Teil seiner ungerechtfertigten Militärausgaben für einen Entwicklungshilfe-Fonds für die Länder Lateinamerikas und der Karibik verwenden.
Die Vereinigten Staaten sollten eine radikale und definitive Lösung hinsichtlich des Problems der Auslandsverschuldung der Region unterstützen., die bereits 487 Milliarden Dollar beträgt.
Sie sollten aufhören, ihr geistiges Eigentum als Waffe bei Verhandlungen zu benutzen. Sie sollten die Zollverordnung Super 301 abschaffen, die die Handelspartner einseitig benachteiligt. Sie sollten die Länder Lateinamerikas und der Karibik ausnehmen von der brutalen Forderung des uneingeschränkten Zugangs zu ihren Märkten, die bereits in der Urugay-Runde aufgestellt worden war.
Cuba ist glücklich darüber, daß die Vereinigten Staaten – wenigstens rhetorisch - die Notwendigkeit erkannt haben, etwas zu unternehmen, das wirtschaftliche Reformen der zweiten Generation bedeutet, um die sozialen Probleme des Kontinents zu lösen aber die dafür vorgesehenen Mittel sind völlig unzureichend.
Cuba empfindet es als angenehm, zu hören, daß die Vereinigten Staaten die Vorstellungen über die Sicherheit in Lateinamerika ändern will, die sich während des Kalten Krieges entwickelt haben und diesbezüglich an einer neuen Art von Beziehungen arbeiten will, die nicht mit der Präsenz von nordamerikanischen Militärstützpunkten in der Region verbunden ist. Konsequenterweise müßten die Vereinigten Staaten die Marinebasis von Guantánamo räumen und Cuba das Land zurückgeben, das sie schon seit etwa 100 Jahren besetzt halten. Sie müßten sich von ihren Basen in Panama zurückziehen, wie es vereinbart ist und aus jedem anderen Land Lateinamerikas.
Wenn es den Vereinigten Staaten um eine eigenständige und nachhaltige Entwicklung der Region und um die Vermeidung von Umweltverschmutzung zu tun ist, dann sollen sie die Agenda 21 des Gipfels von Rio unterzeichnen.
Cuba ist damit ein verstanden, daß in dieser Hemisphäre Mechanismen der Zusammenarbeit geschaffen werden, um dem Drogenhandel zu begegnen, aber dies soll nicht auf Kosten der Souveränität der beteiligten Länder geschehen. Die Sorge der Streitkräfte des Kontinents, als Drogenpolizei benutzt zu werden sind berechtigt. Ebenso berechtigt sind die Forderungen nach einer Reduzierung des Drogenkonsums in Nordamerika.
Die Vereinigten Staaten müssen ihre Einwanderungspolitik in Bezug auf Lateinamerika und die Karibik ändern und ein Gesetz erlassen, das den Aufenthalt der Staatsangehörigen dieser Länder in den USA legalisiert, wie das heute bei den cubanischen Staatsbürgern geschieht. Heute, da es keine Berliner Mauer mehr gibt, sollte die Mauer zerstört werden, die an der mexikanisch-nordamerikanischen Grenze aufgebaut wird.
Cuba erscheint die Idee der Nordamerikaner gut, die Nichtregierungsorganisationen einzuladen um Empfehlungen in Bezug auf die Tagesordnung zu gewinnen, aber es müssen alle eingeladen und die Forderungen der Indígenas, der Frauen, der Bauernorganisationen, der Gewerkschaften gehört werden - ohne ungerechtfertigte Ausschlüsse - und die anderen Vertreter der Zivilgesellschaften, die viel zu den Themen des Gipfels zu sagen haben.
Schließlich ist dies eine vorzügliche Gelegenheit, von der Regierung der Vereinigten Staaten die Erfüllung der Resolutionen der Vereinten Nationen über die kriminelle und ungerechte Blockade gegen Cuba zu fordern, die unser Volk ausbluten und aushungern soll.
Wenn diese Themen auf dem Gipfel debattiert werden, dann wünscht ihnen Cuba Erfolg. Wenn sich alles darauf reduziert, Regeln für diese Hemisphäre festzusetzen, Cuba zu isolieren, die lateinamerikanschen Märkte gegenüber Europa, Japan und dem Rest der Welt zu kompilieren, dann wird man sich an die Worte von José Martí erinnern müssen, mit denen er ein ähnliches Treffen beurteilte, das vor 105 Jahren in Washington stattfand:
"Nach der Betrachtung der Vorgeschichte, Ursachen und Faktoren des Gastmahls mit den Augen des Richters, muß gesagt werden, weil es die Wahrheit ist, daß für das spanische Amerika die Stunde gekommen ist, zum zweiten Mal seine Unabhängigkeit zu erklären."
Vielen Dank.
Fidel Castro Ruz
Cartagena de Indias, Kolumbien, 15. Juni 1994
Übersetzung und Überschrift: Manfred Sill
Quelle: NETZWERK CUBA – Nachrichten Nr. 7, September 1994