Sozialismus und der neue Mensch

Ernesto Guevara, Fidel Castro und die Wirtschaft der Übergangsperiode
.Von Wolfgang Mix

Einer der bedeutendsten Beiträge zur marxistischen Wirtschaftstheorie sind die Vorstellungen, die Ernesto „Che“ Guevara in der relativ kurzen Zeit entwickelte, in der er in Kuba in hohen Funktionen als Präsident der Zentralbank und als Wirtschaftsminister fungierte (1959–65). Guevara war Arzt und musste sich als eine Art „Quereinsteiger“ in die Materie einarbeiten, was er neben seiner Arbeit in ständigem, oft nächtelangem Selbststudium tat. Doch er hatte einen unverstellten Blick auf die Materie und das kam ihm dabei zugute.
Schon während des Revolutionskrieges hatte er in einer befreiten Kernzone in der Sierra MaestCUBA ra Werkstätten organisiert, um mit minimalen Ressourcen und unter einfachsten Bedingungen Waffen, Landminen, Bekleidung, Schuhe und andere benötigte Dinge herzustellen. Fidel Castro äußerte sein unerschütterliches Vertrauen so: „Genosse Guevara ist jemand, dem man jede Mission, jeden Posten, jede Aufgabe anvertrauen kann in der Gewissheit, dass er nicht eine Sekunde zögern wird. Er ist die Art von Person, die dieses Land braucht, die Art, die wir in schwierigen Zeiten brauchen. Und es sind die schwierigen Zeiten, wo sich zeigt, aus welchem Material die Leute gemacht sind.“
Zentrales Element von Guevaras Wirtschaftsdenken ist die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins, die Schaffung eines „Neuen Menschen“: Der revolutionäre Mensch, für den Arbeit nicht die lästige Bürde ist, um die zum Leben benötigten Dinge kaufen zu können, sondern eine soziale Verpflichtung, um in der Gemeinschaft mit anderen eine neue, gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Der uneigennützige sozialistische Kämpfer, der gewillt ist, den für den Kapitalismus typischen Individualismus zu überwinden und der für eine bessere Welt bereit ist, Beschränkungen hinzunehmen und persönliche Opfer zu bringen.
Die tradierten Begriffe wirtschaftlicher Theorie, Konzepte und Methoden sah er als etwas an, das in Frage gestellt und zurückgedrängt werden müsse. Man werde noch eine unbestimmte Zeit damit leben und arbeiten müssen, doch sie ständen seiner Meinung nach der Entwicklung des sozialistischen neuen Menschen im Wege. „Nach unserer Auffassung verbleiben die Kategorien des Kapitalismus während einer gewissen Zeit in Geltung, und es ist nicht möglich, diese Zeitspanne im voraus zu bestimmen. Aber die Merkmale der Übergangsperiode sind durch eine Gesellschaft gekennzeichnet, die ihre alten Fesseln abstreift, um schnellstens eine neue Etappe zu erreichen. Die Tendenz müsse daher darin bestehen, die alten Kategorien gründlich zu beseitigen und darin sind der Markt, das Geld und folglich der Hebel des materiellen Interesses (...) mit inbegriffen. Materielle Anreize (mehr Geld, Sonderleistungen, Prämien etc.) versuchte er durch moralische Anreize wie Auszeichnungen, Belobigungen, sozialistisches Wetteifern von Abteilungen in einem fast sportlichen Sinne zu ersetzen. Che: „Die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins steht im Widerspruch zur Entwicklung materieller Anreize, die auf das individuelle Interesse abzielen.“ Er initiierte eine Bewegung zu freiwilligen Arbeitseinsätzen, da, wo sie gerade notwendig waren. Doch war ihm wichtig, dass die Teilnahme nicht unter Druck erfolgte. Ihm war klar, dass dieses Umdenken ein ständiger und langwieriger Prozess sein würde und ging selbst immer mit gutem Beispiel voran.

Che bei einem Freiwilligeneinsatz auf einer Zuckerrohrerntemaschine in der Provinz Camaguey im Jahr 1963
Foto: Granma
Den Staat sah er als eine einzige wirtschaftliche Einheit. Die Betriebe sollten zentral mit Finanzmitteln nach dem geplanten Bedarf ausgestattet, in der Produktion überwacht und kontrolliert werden und die Erlöse dann wieder in das Staatsbudget zurückfließen. Was er auf Reisen in Jugoslawien und der Sowjetunion gesehen hatte, irritierte ihn: Die relativ große, auch finanzielle Autonomie von Betrieben, die teilweise in Konkurrenz zueinander arbeiteten, eigene Kredite aufnehmen konnten, sich Arbeitskräfte durch höhere Lohnzahlungen abwarben und im kleinen Rahmen unter kapitalistischer Logik arbeiteten. Diese Form der Wirtschaftsführung tendierte dahin, immer weitergehende Zugeständnisse an ihre Ausweitung zu machen und begünstigte nicht nur keine neue sozialistische Moral, sondern stand darüber hinaus im Widerspruch zum sozialistischen Anspruch dieser Staaten. 20 bis 25 Jahre, bevor der osteuropäische Realsozialismus kollabierte, sah Che bereits die Gefahr, dass ein Abgleiten in ein hybrides System den Rückzug des Sozialismus herbeiführen könne.
Nochmal Che: „Dem Hirngespinst nachjagend, den Sozialismus mit den morschen Waffen verwirklichen zu können, die uns der Kapitalismus hinterlassen hat (die Ware als ökonomischer Kern, die Rentabilität, das individuelle materielle Interesse als Ansatzpunkt usw.), kann man in einer Sackgasse landen. Und man landet in ihr, nachdem man eine lange Strecke zurückgelegt hat, auf der sich die zurückgelegten Wege mehrmals kreuzen und es schwerfällt, den Augenblick zu erkennen, da man sich in der Richtung irrte. In der Zwischenzeit hat diese ökonomische Basis ihre Wühlarbeit in der Entwicklung des Bewusstseins vollbracht. Um den Kommunismus aufzubauen, müssen wir mit der materiellen Basis gleichzeitig den neuen Menschen schaffen.“ Ches Vorstellungen stießen in Kuba durchaus nicht überall sofort auf Verständnis.
Fidel Castro verband mit Che Guevara eine enge, von höchstem Respekt getragene Beziehung. Wie Guevara war auch er kein Dogmatiker und hatte seine eigene Herangehensweise. Sein vorrangiges Medium war das gesprochene Wort, er ging auf die Menschen zu, diskutierte über die Probleme und suchte pragmatisch nach Lösungen. Dabei gab er grundlegende Prinzipien niemals auf. Immer wieder in den langen Jahrzehnten, in denen er die kubanische Politik mitentscheidend beeinflusste, kam er auf die Ideen seines in Bolivien ermordeten Gefährten zurück und unterstrich ihre Bedeutung: „Aber denkt nicht, dass Che naiv war, ein Idealist, oder jemand ohne Bezug zur Realität. Che verstand die Realität und bezog sie in seine Überlegung ein. Aber Che glaubte an die Menschen. Und wenn wir nicht an die Menschen glauben, falls wir sie für unverbesserliche kleine Tiere halten, die nur in der Lage sind, vorwärts zu gehen, wenn du sie mit Gras fütterst oder sie mit einer Karotte lockst oder sie mit einem Stock schlägst – jeder, der daran glaubt, jeder, der davon überzeugt ist, wird niemals ein Revolutionär sein.“
Als sich nach Ches Tod eine stärkere Anbindung an die UdSSR entwickelte, „... schaffte dies,“ so Fidel später, „eine Kultur des Aufkommens und der Anwendung von Methoden für die Konstruktion des Sozialismus, die in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern gebräuchlich waren. (...) Nach 10 oder 11 Jahren zeigten sich, während wir auf Resultate warteten, so viele Fehlentwicklungen und Abwege, dass ich bremste und ständig an Ches Vorahnungen dachte und seine Ablehnung dieser Methoden. Was mit dem sozialistischen Lager geschah, macht Ches wirtschaftliches Denken für den Aufbau des Sozialismus zeitgemäßer als jemals zuvor.“ An anderer Stelle bezeichnete er es als Verbrechen, die Ideen Che Guevaras gering zu schätzen oder zu ignorieren. Sein eigenes Fazit: „Der Kapitalismus, seine Marktwirtschaft, seine Werte, seine Kategorien und seine Methoden können niemals den Sozialismus aus seinen gegenwärtigen Schwierigkeiten herausziehen oder Fehler irgendwelcher Art, die gemacht wurden, berichtigen.“
Gegenwärtig ist in Kuba in schwieriger Lage eine gewisse Unsicherheit spürbar. Das Bemühen, eine möglichst große Mehrheit auf einen gemeinsamen Nenner, die Fortführung des sozialistischen Projektes, zu vereinen, birgt die Gefahr gefährlicher Zugeständnisse an abgestandenes kapitalistisches Denken sichtbar. Für Fidel war aber Prinzi pienfestigkeit eine der höchsten Tugenden. Auch hält sich bislang eine Mehrheit, die noch an den Sozialismus glaubt, zurück. Die Menschen Kubas entscheiden selbst über ihre Zukunft, doch genauso wie bei uns wollen auch dort die wenigsten das Land auf einer Autobahn in Richtung Kapitalismus wiederfinden. Die materiellen Voraussetzungen, diesen Abweg zu vermeiden und weiter standzuhalten, sind durchaus vorhanden. Das geistige Rüstzeug dafür liegt in der Geschichte des Sozialismus, dem kubanischen Beispiel selbst und in den Ideen und dem Vorbild seiner bedeutendsten Denker.