Was geht für Kuba?
Das Besondere an der Kubanischen Revolution
Von Tobias Kriele
Für Fidel Castro ist und bleibt ein großes Symbol der Revolution des kubanischen Volkes. Hier am 1. Mai 2005. Foto: Vandrad / CC-by-sa
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„Was geht, wenn nichts geht?“ So hat der Dichter Peter Hacks einmal die Grundfrage unserer (Zwischen-)Epoche formuliert. An Kuba hat Hacks dabei vermutlich nicht in erster Linie gedacht – und dennoch scheint diese Formulierung der Karibikinsel wie auf den Leib geschrieben. Angesichts der aktuellen Situation könnte man sagen: Kuba hat keine Chance, ist aber entschlossen, diese zu nutzen.
Die äußeren Bedingungen dafür sind widrig, um es vorsichtig auszudrücken. Die Aggressionen der USA haben in den letzten Jahren noch einmal deutlich zugenommen und sind vor allem gezielter geworden. Die Blockade trifft das Land heute mehr denn je. Insbesondere lässt sich das im Bereich der Energieversorgung feststellen. Kuba ist seit Monaten nicht mehr in der Lage, mittels seiner veralteten Wärmekraftwerke genug Elektrizität für seine Bevölkerung zu generieren. Treibstoff ist knapp und die Schlangen an den Tankstellen stunden- oder tagelang, was die allgemeine Fortbewegung entscheidend einschränkt. Der chronische Devisenmangel führt dazu, dass auch andere Dienstleistungen nicht mehr garantiert werden können. Jüngstes Beispiel ist die Ankündigung des Telekommunikationsunternehmens ETECSA vom 30. Mai 2025, die Preise für Mobiles Internet exorbitant zu erhöhen.
Einschränkungen bei der Versorgung mit Elektrizität, Treibstoff oder Internet haben zugleich in jüngster Zeit immer wieder zu Protesten geführt, die mitunter in Gewaltakte mündeten. Diese Tatsache haben die USA längst in ihre Strategie eingebaut. Zu dieser gehört auch die hybride Kriegsführung: Kurz nach der Veröffentlichung der Pläne von ETECSA wurden in den Sozialen Netzwerken angebliche Erklärungen des Kommunistischen Jugendverbandes veröffentlicht, die eine große Unruhe an den Universitäten suggerierten. Es handelte sich um täuschend echt gemachte Fake-News, aber sie führten tatsächlich zu Verhandlungsgesprächen und dem Ergebnis von besonderen Internetkonditionen für Universitätsstudenten.
Herausforderungen durch komplexe Mammutaufgaben
Dieses Beispiel zeigt die Komplexität der Lage auf Kuba. Die kubanische Regierung steht vor der Mammutaufgabe, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung abzudecken – denn das ist auf Kuba ungebrochen das zentrale Anliegen der Regierungstätigkeit. Die Ministerien und die staatlichen Unternehmen haben einen immer begrenzteren Handlungsspielraum und zeigen sich gelegentlich unbeholfen dabei, die Perspektive der unter prekären Verhältnissen lebenden Bevölkerung zu verstehen. Gerade die gut ausgebildeten jungen Menschen reagieren auf Einschränkungen in der Lebensqualität (zu der der ständige Zugang zum Internet mittlerweile dazugehört) empfindlich und mitunter drastisch – mit Emigration. Auf Kuba leben heute etwa 15 Prozent weniger Menschen als noch vor drei Jahren.
Ein anderes Beispiel für Kubas Dilemma ist der Tourismus. Als einer der wichtigsten Devisenquellen kommt ihm eine strategische Bedeutung zu. Die USA haben dies erkannt und gehandelt. Nicht nur, dass Kuba auf die Liste der angeblich den Terrorismus unterstützenden Staaten gesetzt wurde. Insbesondere werden europäische Touristen, die nach Kuba reisen, damit bedroht, fortan der Visumspflicht für die Einreise in die USA zu unterliegen. Dies hat dazu geführt, dass einige europäische Tourismusanbieter sich aus dem kubanischen Markt zurückgezogen haben. Insgesamt ging der Tourismus im ersten Quartal 2025 um fast ein Drittel zurück. Dabei hat sicherlich auch eine Rolle gespielt, dass die Rahmenbedingungen für den Tourismus in Kuba teilweise nicht wettbewerbsfähig sind, was wiederum zum Teil auf die allgemeine Devisenknappheit im Land zurückgeht.
Der unzureichende Zugang zu Devisen ist eins der größten Probleme der kubanischen Wirtschaft. Kuba ist international hochverschuldet, ein direktes Ergebnis des Zerfalls der Sowjetunion und der Tatsache, dass sich der Inselstaat fortan auf dem Weltmarkt bewegen musste. Trotz Umschuldungen gegenüber Gläubigern wie dem Pariser Club oder Russland, lasten gewaltige Rückzahlungspflichten auf der Insel. Kuba gehört zur Gruppe der Länder mit der höchsten Verschuldungsquote der Welt. Es ist zugleich in seinen Zugängen zum Internationalen Finanzmarkt erheblich eingeschränkt, was die Ref inanzierung kompliziert macht. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es – unter den Konditionen des Weltmarkts – dem Sozialismus an Kapital mangelt.
Wirtschaftsentwicklung und Pandemie gefährdeten planvolles Gegensteuern
Dabei ist es nicht so, dass Kuba auf diese Entwicklung unvorbereitet gewesen wäre. Seit dem Jahr 2011 setzt Kuba einen wohlüberlegten Prozess der sozioökonomischen Erneuerung um. Dies erfolgte nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Entwicklungsplan, in dem die Maßnahmen und roten Linien gegenüber seinen Zielstellungen abgewogen waren. Das Problem war, dass die Annahmen über die Wirtschaftsentwicklung des Landes, auf denen er beruhte, sich schon der Privatisierung die einzige mögliche Lösung für die wirtschaftlichen Probleme des Landes sehen. Diese Ansichten wurden lange von dubiosen, angeblich „unabhängigen“ Medienportalen wie El Toque befördert. Der Einfluss dieser „unabhängigen Journalisten“ reichte bis nach Deutschland, bis in die Kuba-Solidaritätsbewegung. kurz danach als unhaltbar erwiesen. Dazu kamen die Corona-Pandemie, in der Kuba alle seine Kräfte in die Entwicklung von eigenen, effektiven Impfstoffen setzen musste, um seine Bevölkerung effektiv zu schützen, und die unvorhersehbaren Veränderungen der US-Regierungspolitik. Das strategische Herangehen an den Erneuerungsprozess, welches noch unter Raúl Castro ausgearbeitet worden war, verlor seine innere Statik. Anstatt strategisch vorzugehen, musste auf die verschiedensten Krisen reagiert und improvisiert werden. Mit dem Ergebnis, dass in den Grundsatzentscheidungen der kubanischen Staatsführung heute nicht immer ein roter Faden zu erkennen ist.
Privat- oder Staatsbetriebe? Auswirkung auf Produktion, Preise und Bewusstsein
Die gesellschaftliche Entwicklung auf Kuba wird oftmals unter der Fragestellung „Privat- versus Staatsbetriebe“ diskutiert. Tatsächlich hatten Partei und Regierung vor 15 Jahren die Weichen dafür gestellt, den ohnehin schon existierenden und immer wieder betonten privaten Sektor zu vergrößern. Dies geschah ausgehend von der Einschätzung, dass der sozialistische Staat nicht mehr länger in der Lage sein würde, eine große Zahl an Menschen in unproduktiven Stellungen zu ernähren. Die neuen Möglichkeiten, Unternehmen – oder auch Genossenschaften – zu gründen und zu betreiben, begannen in einem begrenzten Maße, nahmen aber immer größere Dimensionen an. Marxistisch ausgedrückt führte dies zu einer Kapitalakkumulation auf Kuba, die wiederum mit einer Ausweitung des Devisenschatzmarktes verknüpft war. Beides hat im gesellschaftlichen Bewusstsein Spuren in Form von Individualismus und Entsolidarisierung hinterlassen. Auch auf Kuba gibt es Ansichten, die im fortwährenden Ausbau der Privatisierung die einzige mögliche Lösung für die wirtschaftlichen Probleme des Landes sehen. Diese Ansichten wurden lange von dubiosen, angeblich „unabhängigen“ Medienportalen wie El Toque befördert. Der Einfluss dieser „unabhängigen Journalisten“ reichte bis nach Deutschland, bis in die Kuba-Solidaritätsbewegung.
In diesem Fall muss man eine Lanze für die Trump-Regierung brechen. Mit der Entscheidung, der Entwicklungshilfebehörde USAID den Geldhahn zuzudrehen, haben sich einige Dinge geklärt. El Toque zum Beispiel musste auf einen Schlag all seine bezahlten Mitarbeiter entlassen. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, der Ausbau des Privatsektors in Kuba sei ein Fehler gewesen, er war vermutlich unumgänglich. Der Fehler in dieser Diskussion ist die Verabsolutierung. Das lässt sich auch in den Erfahrungen Kubas nachvollziehen. Teilweise erfüllte sich die Erwartung, dass die privaten Kleinunternehmen die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten könnte. Insgesamt aber ist Ernüchterung darüber eingetreten, dass nur in einem kleinen Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten in diesem Bereich Wertschöpfung stattfindet. Mit den privaten Unternehmen haben sich auf jeden Fall Wucherpreise und Steuerhinterziehung allgemein verbreitet. Insgesamt hat die Regierung die Kontrolle über einen nicht unerheblichen Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten eingebüßt. Die Möglichkeiten des Staates, zu bestimmen, was für wen zu welchem Preis produziert und vertrieben wird, sind deutlich eingeschränkt.
Für Gebildet sein ist der einzige Weg, um frei zu sein“, José Martí Foto: Bernhard Stärck/Pixabay
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Die staatlichen Kontrollverluste ergeben sich allerdings auf eine andere Weise ebenfalls bei den Staatsbetrieben. Diese sind angehalten, wirtschaftlicher zu agieren und Verluste zu vermeiden. Wie man am Beispiel von ETECSA sehen kann, sind diese wiederum ihrerseits Marktmechanismen unterworfen. ETECSA finanziert den Unterhalt seiner Infrastruktur durch den Verkauf von in Kuba zu nutzenden Mobilen Daten im Ausland. Die Einnahmen aus diesen Geschäften stehen aber seit einiger Zeit in keinem Verhältnis mehr zu der wachsenden Zahl an Daten, die in Kuba zu subventionierten Preisen angeboten werden. Die Konsequenz, die ETECSA aus dieser Situation zog, war, am 30. Mai 2025 eine „Modif izierung der Prepaid-Angebote“ zu verkünden. Erst auf dem zweiten Blick erschloss sich den Benutzern, dass damit eine massive Preiserhöhung verbunden war. ETECSA rechtfertigte dies anschließend damit, dies sei notwendig, um einen Zusammenbruch der Internetanbindung auf der Insel zu verhindern. Auch staatliche Unternehmen sind also auf Kuba zunehmend Marktmechanismen unterworfen und verstehen sich weniger als Garanten der Erfüllung der Bedürfnisse des kubanischen Volkes als dies in früheren Zeiten der Fall war. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich die kubanische Staatsführung in diesen Konflikt einschaltete und ETECSA dazu bewegte, attraktivere Angebote zu schaffen.
Es geht an die Errungenschaften
Unbestritten ist, dass einige der Errungenschaften, für die die Kubanische Revolution weltweit bewundert wurde, heute zunehmend erodieren. Das gilt auch für das Gesundheitssystem, ein Leuchtturm der Kubanischen Revolution. Heute finden viele Behandlungen nur noch statt, wenn die Patienten mindestens das medizinische Verbrauchsmaterial mitbringen. Medikamente werden zunehmend auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Dieser ist durch die aus einer Notlage begründeten Entscheidung der Regierung, die Medikamenteneinfuhr von Zöllen und Beschränkungen zu befreien, nur noch verschärft worden. Dieser Schwarzmarkt wiederum wurde durch die offizielle Einrichtung von privaten Apotheken quasi institutionalisiert. Dass Behandlungen ausbleiben, weil die Patienten zu arm sind, um für sie aufzukommen, war früher in Kuba undenkbar, heute gehört es zur Realität.
Derlei Berichte nehmen wir in Europa mit Bestürzung auf. Diese führt aber auch zu einer verstärkten Solidarität: Im Bereich der Spendensammlung für medizinische Hilfen für Kuba leisten die im Netzwerk Cuba zusammengefassten Solidaritätsorganisationen so Einiges – am Zustand des kubanischen Gesundheitssystems vermag das aber kaum etwas zu verändern. Aber die kollektive Erinnerung an das Ende des real existierenden Sozialismus in Europa ist noch präsent. Von daher ist es logisch, dass jeder sichtbare Rückschlag, den Kuba erleidet, die Skepsis nährt, welche Zukunft der Sozialismus auf Kuba hat.
Kuba diskutiert Verteidigung des Sozialismus
Die vielleicht wichtigste Nachricht ist, dass diese Debatten auch auf Kuba selbst geführt werden. Die jungen kubanischen Journalisten Dania Socarrás und Jorge „Jorgito“ Jerez (letzterer ist der Cuba-Libre-Leserschaft durch seine Kolumne wohlbekannt) haben zu Beginn des Jahres ein Buch veröffentlicht, in dem sie ehemalige DDR-Bürger zu den Folgen befragt haben, die die sogenannte Wende in der DDR für ihr Leben brachte. Auf einer Präsentation des Buches in der Universität von Camagüey war zu erleben, wie Universitätsprofessoren und Studenten offen über die Möglichkeit einer Konterrevolution in Kuba sprachen. Zu Lebzeiten von Fidel Castro war es üblich, den Begriff „Kubanisches Volk“ im Sinne eines einheitlichen Blockes zu gebrauchen. In den letzten Jahren ist dagegen in Kuba ein Bewusstsein zu spüren, dass im Land Klassenkämpfe toben und dass die Revolutionäre diese anzunehmen haben. Es ist bemerkenswert, dass die Verteidigung des Sozialismus weniger als ein Akt „von oben“, sondern eher als eine notwendige Bewegung „von unten“ argumentiert wird. Darin unterscheidet sich die Situation in Kuba sehr deutlich von der Lage vor der Niederlage in der DDR oder der Sowjetunion.
Socialismo tropical begeistert Freunde des Sozialismus
Der kubanische Sozialismus hat seine Eigenarten, das ist unbestreitbar. Nicht umsonst hat Kuba schon immer eine besondere Faszination auf Freunde des Sozialismus ausgeübt. In der kubanischen Revolution gehen offensichtlich bis heute in vielerlei Hinsicht die Dinge, die im Kapitalismus nicht gehen. Auch das war ein Grund, weshalb in der BRD die Solidarität mit Kuba besonders in den Jahren nach der Niederlage der Sowjetunion wuchs. Dem sozialistischen Kuba, das auf geniale Weise dem Zeitgeist trotzte und auf dem Projekt des Aufbaus einer menschlichen Alternative zum Kapitalismus beharrte, flogen die Sympathien und die Unterstützung zu. Offenbar scheint der Sozialismus in Kuba auf eine besondere Weise konkret geworden zu sein. Man erlebt dies in den menschlichen Beziehungen, man kann es an den Möglichkeiten und dem Respekt ablesen, den Frauen in der kubanischen Gesellschaft genießen. Das Bonmot von José Martí „Gebildet sein ist der einzige Weg, um frei zu sein“ ist in seiner Wirkung in vielen Facetten im kubanischen Alltagsleben zu bewundern. Kubas Internationalismus, wie er sich im Kampf gegen die Apartheid zeigte, aber auch in den internationalen medizinischen Brigaden ausdrückte, begeistert, weil er damit eine Produktivkraft verkörpert, auf die der Kapitalismus keinen Zugriff bekommen kann. Die kubanische Revolution hat den Sozialismus auf eine besondere Weise erlebbar gemacht. Das liegt nicht in erster Linie an seiner sozioökonomischen Formation, an seinen Eigentumsverhältnissen oder seinem politischen System. Was das angeht, hat die kubanische Revolution sehr unterschiedliche Phasen durchgemacht. Die Besonderheit des kubanischen Sozialismus hat möglicherweise sehr viel mit seiner CUBA Kultur und Geschichte zu tun und damit, wie beide bis heute praktiziert und gelebt werden.
Revolution als lange geschichtliche Entwicklungen
Der kubanische Begriff von Revolution ist anders als der, den wir in unserem Sprachgebrauch haben. Aus der kubanischen Perspektive beschreibt „Revolution“ keinen historischen Moment, sondern eine sich über einen langen Zeitraum entfaltende geschichtliche Entwicklung. Fragt man die Kubaner, beginnt die Revolution im Jahr 1868, nicht erst 1959 mit der Machtübernahme durch die Rebellen. Deshalb ist es auch nur logisch, dass die revolutionäre Geschichtsschreibung nach 1959 die kubanische Geschichte – das heißt, auch das koloniale oder bourgeoise Erbe – aufgenommen hat. Nach der Revolution wurden nur wenige Denkmäler geschliffen.
Vielleicht liegt es am jahrhundertelang praktizierten Synkretismus, also der Verschmelzung von katholischer Religion und afrikanischem Pantheismus, dass die Kubaner neugierig und bereitwillig sind, die unterschiedlichsten Einflüsse in ihre Weltanschauung aufzunehmen. Dazu gehört auch das Denken von José Martí, dessen zunehmendes ideologisches Gewicht ab den 1990er Jahren bei entfernten Betrachtern für Skepsis gesorgt hat, weil es als partielle Abkehr vom Marxismus gewertet wurde. Tatsächlich ist die kubanische Revolution zu einem hohen Maße von einer Ethik geprägt. Der Ursprung des politischen Werdegangs von Fidel Castro war die Suche nach einer anständigen Gesellschaft.
Marxismus-Leninismus in Kuba:
H historisch konkret,
H eigenständig und
H internationalistisch
Natürlich hat sich die Kubanische Revolution spätestens ab 1961 dem Marxismus-Leninismus zugeneigt und ab Ende der 1960er Jahre die sowjetischen Vorstellungen eines sozialistischen Aufbaus in vielerlei Hinsicht aufgenommen. Diese „Rezepte“ wurden aber an die historischen Gegebenheiten angepasst. Letzten Endes ist Kuba seinen eigenen Weg gegangen und hat einen endemischen Sozialismus aufgebaut. Dass die Revolution sich dem Dogma und der Anleitung von außen immer verweigert hat, hat sicherlich mit dem Ursprung der Revolution in den antikolonialen Kämpfen zu tun. Dabei war die Kubanische Revolution zwar von Anfang an eine Nationale Befreiungsbewegung, nichtsdestotrotz war sie von Anfang an internationalistisch geprägt. Viele Nicht-Kubaner wie Máximo Gómez haben ihren Beitrag in den Befreiungskriegen geleistet, wie übrigens auch viele Kubaner in Befreiungskämpfen anderer Nationen. Dieser Rolle des Internationalisten wurde später durch Che Guevara ein Gesicht gegeben.
Sozialismus als Weg zur Unabhängigkeit
Eine offensichtliche Besonderheit Kubas besteht darin, dass der Sozialismus nicht als Ziel, sondern als Weg zur Unabhängigkeit und Emanzipation verstanden wird. Aus diesem Grund haben andere emanzipatorische Anliegen wie die Bekämpfung des Rassismus oder die Befreiung der Frau mit Leichtigkeit in das Selbstverständnis der Revolution eingehen können. Der Sozialismus erfüllt in den Augen der Kubaner zugleich seinen Zweck nur mit der Perspektive des Übergangs zum Kommunismus. Dies war eines der Ergebnisse der Volksbefragung zur Überarbeitung der kubanischen Verfassung im Jahr 2019. Sozialismus, das ist in Kuba in allererster Linie die Voraussetzung für einen Entwicklungsprozess.
„Niederlagen in Siege verwandeln“
Die theoretische Beschäftigung mit Dialektik und marxistischer Philosophie war in Kuba nie besonders einflussreich. Im sozialistischen Abschnitt der Kubanischen Revolution hat sich allerdings eine besondere Dialektik der Praxis entwickelt. Hans Heinz Holz hat sie als die Kunst bezeichnet, „Niederlagen in Siege zu verwandeln“. Diese Dialektik der Praxis, die sich auf die in einem historischen Moment enthaltene Möglichkeit fokussiert, hat ihren Ursprung in den Guerillastrategien der Mambisen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wurde von Fidel Castro perfektioniert und hat sich bis heute als strategische Herangehensweise erhalten.
Für Das Selbstbewusstsein der kubanischen Frauen ist auch ein Ergebnis der Revolution. Fotos: Prensa Latina
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Die Essenz des kubanischen Begriffs von Revolution erläuterte Fidel am 1. Mai 2000 auf der Plaza de la Revolución in einer historischen Rede. Die berühmte Formulierung geht wie folgt:
Revolution bedeutet, Gespür für den geschichtlichen Augenblick zu haben; bedeutet, alles zu ändern, was zu ändern ist; bedeutet vollkommene Gleichheit und Freiheit; bedeutet, selbst wie ein Mensch behandelt zu werden und andere so zu behandeln; bedeutet, uns aus eigener Kraft selbst zu befreien; bedeutet, mächtige herrschende Kräfte herauszufordern, innerhalb und außerhalb unseres gesellschaftlichen und nationalen Rahmens; bedeutet, Werte, von denen man überzeugt ist, um jeden Preis zu verteidigen; bedeutet Bescheidenheit, Uneigennützigkeit, Altru is mus, Solidarität und Heroismus; bedeutet, mit Kühnheit, Intelligenz und Gespür für die Realität zu kämpfen; bedeutet, weder jemals zu lügen noch ethische Grundsätze zu verletzen; bedeutet, zutiefst überzeugt zu sein, dass auf der Welt keine Macht existiert, die die Kraft der Wahrheit und der Ideen aufhalten könnte.
Revolution bedeutet Einheit; bedeutet Unabhängigkeit; bedeutet, für unseren eigenen Traum von Gerechtigkeit für Kuba und die Welt zu kämpfen, welcher zugleich die Grundlage unseres Patriotismus, unseres Sozialismus und unseres Internationalismus ist.
Die Revolution gibt die Antwort
Schnell wird deutlich: Dieses Verständnis von Revolution ist beinahe zeitlos, es gibt für jede Etappe der Kubanischen Revolution seit 1868 bis zur Gegenwart Antworten. Und es gilt auch für die heutigen Auseinandersetzungen, die sich natürlich auch um Eigentumsverhältnisse und Klasseninteressen und um die Festlegung der Preise für die mobilen Daten drehen.
Aus Kuba schreibt mir eine Freundin: „Der Aufbau des Sozialismus ist ein weißes Blatt Papier. Jedes Volk beschreibt es auf seine eigene, eigentümliche Weise. Die Kühnheit besteht darin zu akzeptieren, dass nichts so sein wird, wie man es sich vorgestellt hat. Uns treibt an, uns in der Utopie zu verbrüdern und über das Besondere, teilweise Unbegreifliche zu staunen. Man darf nie vergessen, dass die Geschichte der menschlichen Gesellschaft mit Blut und Anstrengung durchtränkt ist. Vielleicht liegt das Bewundernswerte an dieser Revolution in unserer Überzeugung, dass der Grund, aus dem wir kämpfen, zutiefst berechtigt ist.“
In diesem Jahr jährte sich die epische Rede Fidels zum Revolutionsbegriff zum 25. Mal. Und die Kubaner begingen diesen Jahrestag auf ihre Weise. Die Fernsehbilder vom 1. Mai überraschten. Zum Zeitpunkt des möglicherweise schwierigsten Moments der Revolution, inmitten von Stromausfällen, Treibstoffmangel und Kommunikationsproblemen, eilten die Kubaner in lange nicht gesehener Zahl auf die Straße, um der Arbeiterklasse ihren Respekt zu erweisen. Wenn in Kuba nichts mehr geht, dann geht doch noch etwas. Das macht die Kubanische Revolution so besonders.