Die Zukunft wird nicht enden

Von Enrique Ubieta

Ab 2010 hatte ich die Gelegenheit, in kurzen, unregelmäßigen Abständen einige deutsche Städte zu bereisen. Ich schrieb einige Gedanken für meinen Blog auf und fügte sie später zu meinem Buch Cuba, ¿revolución o reforma? zusammen. Ich spazierte durch Berlin – eine Stadt, die damals mit ihren Mauerresten, den rekonstruierten „Wach“-posten, den provokanten Plakaten und den Verkaufsständen für Medaillen, Schulterklappen, Mützen und Symbolen des besiegten Sozialismus wie ein Museum des Antikommunismus wirkte. Ich war sehr beeindruckt, als ich eine zerfledderte und verblasste sowjetische Flagge fand, die den Witterungseinflüssen an der Wand eines Gebäudes ausgesetzt war, mit einer wenig glaubwürdigen Aufschrift: „Die letzte Flagge, die im Kreml wehte“; und ganz in der Nähe – vermutlich eine Kopie – die Bronzetafel von Leonid Breschnew, dem ehemaligen Generalsekretär der KPdSU, die wohl in dem Haus gestanden hatte, in dem er in Russland gelebt hatte. Symbolische (mittelalterliche) Kriegstrophäen.
Ich bin auf diese Notizen zurückgekommen, nachdem ich das Buch von Jorge Enrique Jérez Belisario und Dania Díaz Socarrás gelesen habe – Donde se acaba el futuro (Wo die Zukunft endet, Verlag Ácana, Camaguey, 2024). Jorgito lernte ich im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts kennen, als er noch Journalismus studierte und sein Engagement in den sozialen Netzwerken auf drei bereits offensichtlichen Tugenden beruhte: Willenskraft, Intelligenz und Engagement. Die „magische“ Gleichung wurde durch Dania, seine Lebensgefährtin und Mitstreiterin, vervollständigt. Das Buch, das ein eindringliches Nachwort von Abel Prieto enthält, trägt den Untertitel: Leben, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer verändert haben.
Die Erzählung der Restauration ist besonders rachsüchtig; ihr Ziel ist es, die Geschichte umzukehren, jeden möglichen Anspruch auf die sozialistische Utopie zu zerstören, die künstlich vergrößerten schwarzen Löcher das natürliche Licht des sozialen Experiments verschlucken zu lassen, um eine neonfarbene, glänzende und bunte Beleuchtung zu schaffen, die es ersetzt. Wenn der Kapitalismus in einer Sache gut ist, dann darin, das Wesentliche durch das Überflüssige zu ersetzen, die Wahrheit durch einen Splitter der Wahrheit, der in Stücke gesprengt wurde: dieses winzige, tödliche Stückchen Wahrheit, das falscher ist als jede Lüge.
Jorgito und Dania interviewen 16 Ostdeutsche, deren Leben sich mit dem Fall der Mauer drastisch verändert hat. Männer und Frauen, die mit der medialen Verzerrung ihres Lebens konfrontiert sind, die mit einem Schlag ihre Ruhe, ihre Sicherheit und die Träume verloren haben, welche ihr Leben inspirierten. Einige von ihnen nahmen an den Demonstrationen gegen den unvollkommenen sozia lis tischen Staat teil und waren an gesichts der Angebote des Westens hoffnungsvoll, obwohl sie – was materielle Dingen angeht – viel besser lebten als wir in Kuba. Andere waren Lehrer,Journalisten, Polizisten. Es gibt eine schwarze Deutsche, wie sie sich selbst gerne bezeichnet, Tochter einer Deutschen und eines Afrikaners, und einen schwulen Mann. Beide fühlten sich manchmal von den „Normalen“ diskriminiert, aber sie genossen den Schutz des sozialistischen Staates. Jetzt sind sie allein, ausgesetzt der Ausbreitung rassistischer und homophober Gruppen. Jetzt trauern sie um das, was sie verloren haben.

Enrique Ubieta
Foto: Dietmar Koschmieder
Denn diese Erzählung beginnt nicht mit dem Untergang, sie geht ihm voraus, bohrt sich jahrelang in unsere Sinne, bis sie sie abstumpft. Sie verleitet uns, eine Veränderung zu wünschen, irgendeine Veränderung, nur um die Bestrafung durch das Imperium abzuschütteln; sie verwirrt, akkumuliert Müdigkeit und Zweifel im realen Dasein, während sie die Pracht einer Kulisse zeigt; sie greift an, verhindert, blockiert und beschuldigt das System der Unfähigkeit; aber ihren Höhepunkt erreicht sie in den Tagen der Rache. Der Rachedurst des vertriebenen Kapitals ist enorm, er will gestillt werden, um sicherzustellen, dass es nie wieder enteignet wird.
Angesichts der Überflutung durch die Lichter des Kapitalismus bieten die ständigen und lang anhaltenden Stromausfälle das gewünschte Spektakel. In meinem Buch zitierte ich einen Auszug aus dem Roman Das Vertrauen der kommunistischen Schriftstellerin Anna Seghers, eine ungewöhnliche „Erklärung“ für die Faszination, die WestBerlin ohne Stromausfälle auf die Menschen im Osten ausübte:
Wenn du aus dem Bahnhof rauskommst, nachts, in Lichter hinein, in Lichter, da sind die Sterne nichts dagegen. Denn die Sterne, die sind nur Pünktchen in ein und derselben Farbe und auch weit weg. Dort siehst du Leuchtbuchstaben in allen Farben. Gehen aus. Gehen an. Und hinter den Scheiben liegen Tag und Nacht unglaubliche Sachen.
Thomas lachte. Doch Pimi blieb ernst. Sie sagte: „Man fühlt sich erst richtig glücklich mit soviel Licht. Und wenn man sich alles ansieht, denkt man: Das gibt es alles.“
Die Krise zwingt uns, mit gefesselten Händen am Rand der Klippe entlangzugehen. Der Imperialismus will uns stoßen. Er verwendet dieses Verb nicht. Er sagt: „Wir wollen Euch helfen“,... zu fallen, natürlich. Die bezahlten – und in sicherer Distanz sitzenden – Provokateure schreiben Proklamationen aus Miami und Madrid. Sie beleidigen und bedrohen die Kubaner, die sich „nicht unterkriegen lassen“, obwohl das Leben schwierig und bedrückend wird. In diesen Tagen der Trump-Wut haben sie immerzu zu Aufständen aufgerufen und träumen von einem unmöglichen Krieg des Volkes gegen das Volk, um eine Intervention zu rechtfertigen. Der Vertreter des Imperiums auf der Insel reist durch das Land und hält Reden vor denen, die bereits gekauft sind. Das sind nur wenige. Wie Johana Tablada, Beamtin des Außenministeriums, betont, muss man „zynisch, ignorant, feige oder böswillig“ sein, um den Zusammenhang zwischen den gravierenden Problemen Kubas und den seit 2019 seitens des Imperialismus ergriffenen Maßnahmen nicht zu erkennen.
Wir werden die Revolution bis zum letzten Atemzug verteidigen und mit ihr die nationale Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu Deutschlands Osten, der vom Westen annektiert wurde, wobei beide Gebiete zu derselben Nation gehören, würde Kuba vom US-Imperialismus verschlungen werden. Die in diesem Buch interviewten Deutschen warnen uns: „Lasst euch nicht einreden, dass der Sozialismus gescheitert ist“, sagt beispielsweise Margitta Zellmer. Natürlich war der Sozialismus in der DDR und anderen sozialistischen Staaten nicht perfekt; es war ein unausgereifter Sozialismus, aber zweifellos besser als das, was wir jetzt haben. Der Kapitalismus ist unmenschlich.“ Bei Zweifeln empfehle ich die Lektüre dieser Erfahrungsberichte. In Kuba wird die Zukunft nicht enden.