Beifallstürme für Kalinka

Russische Kultur in Havanna im Doppelpack
Von Ulli Fausten

Ich komme wohl nicht drumherum, diesem Kulturbeitrag etwas vorweg zu schicken: Von den ungezählten Russland-Sanktionen seit Beginn des „unprovozierten Angri skriegs“, wie es im sogenannten Wertewesten mantramäßig immer wieder zu heißen hat, wenn man sich zum Thema äußert, erschien mir eine derart bescheuert, dass ich sie zunächst nicht glauben konnte. Das rigorose Herausnehmen klassischer russischer Komponisten aus sämtlichen Funkund Fernsehsendungen, samt Volksliedern, wie sie die Älteren von uns vielleicht noch vom Don- Kosaken-Chor her kannten, ihre Verbannung aus Konzertsälen sowie die „Säuberung“ deutscher Bibliotheken von Tolstoi, Puschkin, Dostojewski, Gogol, Turgeniew u.a. mehr. Sergej Prokoews wunderschön vertontes Märchen „Peter und der Wolf“ in Sippenhaft mit Wladimir Putin? Wir wissen ja von Albert Einstein, dass die menschliche Dummheit sich zu ungeahnten Höhen aufschwingen kann. Aber das? Es bedurfte wirklich schon der Auseinandersetzung alternativer Medien mit seriösem Leumund wie etwa den Nachdenkseiten mit dieser Absurdität, um mich zu überzeugen: Nein, hier liegt offenbar kein Irrtum vor, kein Missverständnis. Das ist Realsatire.
Ich will nicht leugnen, dass bei meiner Wahl der Überschrift eine gewisse Portion Häme mit im Spiel gewesen sein mag. Tatsache ist, dass wir hier in Havanna im Monat November 2024 russische Kultur gleich im Doppelpack vorgesetzt bekamen, zwei Wochen hintereinander. Zunächst in den „Tagen der Spirituellen Russischen Kultur in Kuba“ der westsibirischen Provinz Altai und anschließend in den „Tagen von St. Petersburg“– oder der „Kapitale des Nordens“, wie die geradezu einschüchternd prächtige zweitgrößte Metropole dieses Riesenlandes auch genannt wird. Ort der jeweiligen Abschlussevents der beiden ereignisreichen russischen Wochen war das Teatro Nacional an der Plaza de la Revolucion, im Falle der Sibirier die „Sala Covarrubias“, im Falle St. Petersburgs die „Sala de Avellaneda“, die als Haupthalle des Hauses wesentlich mehr Publikum fasst.
In der einen wie der anderen Veranstaltung beherrschte Multimedia die Szene. Das heißt, dass wir bei der Selbstdarstellung Altais am Westrand Sibiriens Videos mit viel Schnee im Hintergrund der Bühne laufen sahen. Ich musste unwillkürlich an das Buch mit Reiseberichten des Ex-DDR-Autors Werner Gilde denken, dessen Dienstausflüge um den Globus ihn einmal nach Jakutien brachten, ins Reich des gewaltigen Stroms Lena im Osten der ehemaligen Sowjetunion. Er wusste (wenn auch wohl nicht ganz ernst gemeint) zu berichten, dass die Jakuten ihre Nachbarn, die Sibirier, für völlig verweichlicht halten. Warum? Weil die– man stelle sich das vor!– schon bei minus 40° nicht mehr vor die Tür gingen. Aber die winterlichen Landschaftsprojektionen Altais waren so hell und freundlich, dass die Schneemassen gar nicht kalt erschienen. Man hätte der wiederholten Auorderung „Kommen Sie uns besuchen“ sofort Folge leisten mögen.
In dem gut, wenn auch nicht gänzlich gefüllten kleineren Saal des Teatro Nacional bestand die erste Hälfte der Darbietungen aus einem Ballett zur Musik des Zweiten Klavierkonzerts von Sergej Rachmaninow. Visuell fiel die konsequent in weißschwarz gehaltene Kleidung der Tänzer und Tänzerinnen auf, womit– nicht so ganz überraschend– Gut und Böse symbolisiert werden sollte, die Polarität des Lebens. In der Pause von etwa 20 Minuten hatte man Gelegenheit, in der Vorhalle eine schöne Ausstellung großformatiger Farbfotos des Klosters von Novodevichi anzusehen, das den 500sten Jahrestag seiner Gründung hatte.
Auch den zweiten Teil des Abends, wie schon den ersten, bestritt das Junge Staatsensemble des Gesangs und Tanzes „Altai“ von Alexander Berezikov. Hier galt es, den kulturellen Abwechslungsreichtum der Region zu zeigen. Deren Folklore stellte sich zumeist temperamentvoll und, was die Kostüme anbetraf, ungemein farbenfroh zur Schau.
Manches von dem getanzten und gesungenen Volksgut kannte man auch als Laie wieder. In einem Fall nicht ohne Erstaunen: „Those Were the Days“ von Mary Hopkin (eine Paul-McCartney-Produktion) kletterte in seinem Erscheinungsjahr 1968 in mehreren Ländern auf erste Plätze in den Pop-Charts. Im Original handelt es sich indes um ein Lied des russischen Komponisten Boris Fomin und stammt aus der Mitte der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Dass uns das damals nicht aufgefallen ist: Der Song klingt auch in seiner angelsächsischen Form so russisch, so slawisch schwer wie nur irgendetwas! Aber man liest halt nicht immer die Credits. Dankenswerterweise teilt sich sein melancholischer Grundton auch im englischen Text mit. Doch worauf ich eigentlich hinaus will: Jeder Russe oder irgendwie mit Russland Assoziierte kennt das Stück in Russisch und singt es mit.
Wo wir gerade beim Mitsingen sind: Der Höhepunkt des sibirischen Abends war „Kalinka“. Ekstatisch-rhythmisches Klatschen, Standing Ovations! Dass die Leute in ihrer Begeisterung nicht auf die Polstersitze sprangen, war alles, was fehlte. Es ist beileibe nicht so, dass die Kubaner um die europäischen Ressentiments gegenüber diesem Land nicht wüssten. Im Gegenteil! Sie sind sehr gut darüber informiert. Aber sie teilen sie nicht.
Das Konzert zur St. Petersburger Woche sechs Tage später begann für meine Frau und mich ein wenig rätselhaft. Als wir ca. eine halbe Stunde vor Beginn am Teatro Nacional eintrafen, war der Hauptsaal bereits ziemlich voll. Man platzierte uns in einem der Außenbereiche für das Publikum. Das war gewiss nicht optimal, aber wir beklagten uns nicht, denn schließlich war die Veranstaltung (wie schon ihre Vorgängerin im selben Haus) gratis. Unsere Platzanweiserin hatte aber mit halbem Auge registriert, dass wir nicht ganz glücklich waren. Sie beriet sich, mehrfach auf uns zeigend, mit einer Kollegin. Dann kehrte sie zu uns zurück und fragte nach unserer Nationalität. Wir outeten uns, wenn auch ungern, als Deutsche. Darauin führte sie uns zum Zentralbereich fürs Publikum, wo mehrere Sitzreihen als „reservado“ ausgewiesen waren. Dort hieß sie uns, direkt neben dem Hinweisschild Platz zu nehmen und fortan nur noch deutsch zu sprechen. Sinn und Zweck der Aktion wollte sich uns nicht so recht erschließen, aber unsere jetzigen Sitze waren eindeutig besser als die vorigen. So what. Doch irgendwie ließ uns die Sache keine Ruhe. Als das Wahrscheinlichste erschien es uns, dass wir den Eindruck erwecken sollten, wir gehörten dem Personal der deutschen Botschaft an. Die Vorstellung, das Angehörige der deutschen Vertretung in Kuba klammheimlich russische Kultur goutierten, die sie in ihrer Heimat zu meiden hatten wie der Teufel das Weihwasser, amüsierte uns schon ein bisschen. Sehr realistisch erschien uns diese Möglichkeit zwar nicht, aber, wer weiß, vielleicht wußte die Innung der Platzanweiserinnen ja mehr als wir...
Die Menge an Leuten– kurz vor halb neun war kaum mehr ein freier Sitz auszumachen – war schon beeindruckend. Das konnten unmöglich alles Teremok-Mitglieder sein. Teremok ist ein hiesiger Verein, in dem sich Kubaner und Kubanerinnen, die in der früheren SU studiert haben, und solche, die mit Russen bzw. Russinnen verheiratet oder sonst wie liiert sind, aus nostalgischen, Sprachpflege- und Traditionsbeweggründen in lockeren Abständen treen. Es ist übrigens ein rein kultureller Verein, kein politischer. Aber seine Teilnehmerzahl beläuft sich allenfalls auf Hunderte, nie und nimmer auf Tausende. Wir ergingen uns in verrückten Spekulationen: Hatte man den beiden Tanz- und Gesangsensembles mehrere Flugzeugladungen russischen Publikums gleich mitgeschickt? Bekanntlich ging es Russland selten so gut wie seitdem wir es sanktionieren. Wie auch immer: Einen einzigen kurzen Werbespot hatte es tags zuvor im Fernsehen gegeben und nun, als der Event pünktlich um 20 Uhr 30 begann, war die Hütte pickepackevoll.
Yuri Balkachev machte die Honneurs in Russisch. Er war auch einer der Sänger, wusste aber über den Abend hinweg stets, in welcher der beiden Funktionen er gerade auf der Bühne stand. Entweder er redete oder er sang. Und das wusste ich zu schätzen. Leute, die nach Operettenmanier sprechend beginnen und dann plötzlich– mitten im Satz – anfangen zu singen, haben mich schon als Kind verstört. Die spanische Übersetzung der Moderation besorgte dann der lang gediente Nachrichtensprecher von Cubavision, Froilan Arencibia, der zwar immer noch recht jung wirkt, aber gar so jung nicht mehr sein kann.

Die Ausstellung „St. Petersburg mit karibischen Farben“ war Teil des Programms der „St. Petersburger Tage in der Republik Kuba“. Die Ausstellung bot anhand von Werken von Grundschülern eine antillianische Interpretation des architektonischen, historischen und kulturellen Reichtums der russischen Stadt St. Petersburg und würdigte nicht nur das Talent junger kubanischer Künstler, sondern stärkte auch die kulturellen Bindungen zwischen Kuba und Russland.
Foto: www.lahabana.gob.cu
Anders als bei dem Konzert eine Woche zuvor, war, dass es keine klare Trennung zwischen Klassik und Folklore gab. Die Lieder waren, wie etwa „Meine Stadt“, vorwiegend solche über St. Petersburg. Ballett gab es zum Adagio blanco in Peter Tschaikovskys „Schwanensee“ sowie zum Adagio in Nikolai Rimsky Korsakovs „Sheherazade“. Die tollen Solisten in beiden Fällen: Tatiana Katchenko und Maxim Zyucin. Kein Ballett gab es zu Aram Khachaturian, dem dritten Klassiker des Abends, dargeboten vom Quintett Ensayo (in seiner spanischen Entsprechung, mein Kyrillisch ist nicht so gut)– bestehend aus einer gewaltigen dreieckigen Kontrabass-Balalaika, einer kleinen Domra, einer Domra viola und zwei Akkordeons. Aram Khachaturian ist einer von den Komponisten, die man, ohne lange nachzudenken, zwingend mit einem einzigen Stück in Verbindung bringt. So wie Edward Grieg mit „Solveigs Lied“ aus den Peer Gynt Suiten oder Franz Liszt mit dem „Liebestraum“ (oder die Rolling Stones mit „Satisfaction“). Im Falle Khachaturians ist es natürlich der „Säbeltanz“. Dieses vorwärts drängende, sich scheinbar selber mit der Peitsche antreibende Thema! Ich kannte es bis dato nur in seiner gewohnt wuchtigen symphonischen Form. Wie völlig anders präsentierte es sich diesmal! Die beiden kleinen, filigranen Saiteninstrumente waren es, die, in extremem Tempo gespielt, den Magen vibrieren ließen. Für mich der begeisternde Höhepunkt des Abends!
Diese mittlerweile weltbekannte Formation mit ausschließlich russischen Instrumenten ist noch gar nicht so alt. Es gibt sie erst seit 2011. Aber sie hat schon viele Auszeichnungen eingeheimst. Tourneen führten sie nach Italien, Deutschland, Tschechien, Kanada, Griechenland, China, ins Baltikum, nach Finnland, Österreich, Polen, Frankreich und Südafrika.
Das Quintett Ensayo begleitete im Folgenden des Abends auch die folkloristischen Tanzgruppen. Vom Russischen – kein Kommentar diesmal zu „Kalinka“– erlaubte man sich, dem Gastgeberland geschuldet, zur Freude des Publikums eine einzige Abweichung: die „Guantanamera“. Ansonsten galt für den hinteren Teil des Programms (eine Pause gab es diesmal nicht) die Selbstdarstellung der „nördlichen Hauptstadt“, visuell durch bewegte Bilder auf der Leinwand im Hintergrund. Bilder übrigens, die ich mir ein bisschen heller gewünscht hätte. Zwei Tage davor hatte es in der Nationalbibliothek an der Plaza de la Revolucion eine geradezu hypnotische schöne Fotoausstellung zu St. Petersburg gegeben, aber die hatte gewiss nicht jeder der beim Konzert Anwesenden gesehen. Die Lieder zum Thema bildeten den harmonischen Aszendenten, etwa die des Komponisten Solovjev-Sedoy „Stadt über der freien Newa“ und „Abend in Leningrad“. Ja, man sollte nicht vergessen, dass St. Petersburg 67 Jahre lang diesen Namen trug. Als– beispielsweise  – die Deutsche Wehrmacht die Stadt nicht weniger als 872 Tage belagerte, um deren Zivilbevölkerung dem Hungertod preiszugeben, hieß sie so.
Der Kulturevent endete damit, dass die Gouverneurin von Havanna und ihr Amtskollege aus St. Petersburg Grußadressen austauschten, wobei sich die Kubanerin eher kurz fasste, sicher nicht aus Mangel an gutem Willen, eher aus Mangel an Mut zur freien Rede (eine beinahe schon notorische Krankheit, wann immer sich hiesige Stellen oziell zu äußern haben), während ihr russischer Gegenpart an Beschränkungen dieser Art nicht zu leiden schien und ebenso eloquent wie herzlich die vergangenen Tage noch einmal Revue passieren ließ.
Die Kubaner waren dankbar, 14 Tage lang Kultur der anderen Art erlebt zu haben – niveauvoll und unterhaltsam zugleich. Und wir waren es auch. Wir waren von Herzen froh, nicht in jenem freudlosen Gebilde zu leben, das Deutschland als Freiheit und Demokratie versteht. Wem auch immer aus Gründen falsch verstandener Staatsraison etwas wie das von uns Erlebte vorenthalten wird, der- oder diejenige ist nur zu bedauern.