Zur aktuellen ideologischen Wirklichkeit in Kuba

Von Roberto Reinaldo Dávila Cabrera

Unser Land hat sich stark verändert und tut dies auch heute noch, sowohl in Bezug auf die wirtschaftliche Basis und die sich daraus ergebenen Verhältnisse, die unsere Realität bestimmen, als auch in politischer, ideologischer, kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht, kurz gesagt, in Bezug auf Themen, die jeden im täglichen Leben betre en. (…)
stand; obwohl ich einen guten Teil meines Lebens diesen Themen gewidmet habe, habe ich von meiner jetzigen Position aus nicht mehr die Möglichkeit, diese Prozesse aus wissenschaftlicher Perspektive und Debatte zu verfolgen, aber mit dem Vorteil, dass ich diese Realitäten und ihre Auswirkungen tagtäglich aus einer anderen gesellschaftlichen Position heraus erlebe. (…)
Die Einbeziehung alter Eigentumsformen, die heute von vielen als neu bezeichnet werden, ohne dass sie es wirklich wären, ergab sich aus der Notwendigkeit der Entwicklung heutigen Welt, in die sich Kuba allmählich einfügen musste. Ihre Folgen sind heute stark zu spüren, verschärft durch das, was man heutzutage als „Verzerrungen“ und nicht mehr als „Fehler“ bezeichnet, die in jedem gesellschaftlichen Prozess unvermeidlich sind.
Nur wer handelt und wer arbeitet, macht Fehler; die kritischen Beobachter hinter dem Zaun, die wir seit jeher als „Heckenschützen“ bezeichnet haben, tun alles andere als das, weil sie nicht einmal wissen, wie man eine genaue und ernsthafte Kritik an den Themen übt.
Wenn es etwas wirklich Besorgniserregendes an der Realität gibt, in der wir heute in Kuba leben, dann ist es die Tatsache, dass viele Menschen, darunter Verantwortliche in Verwaltung und Politik, durch ihr Handeln von dieser entfremdet zu sein scheinen, als ob sie die Augen verschließen und sich weigern, die Folgen der sich vollziehenden Veränderungen wahrzunehmen; oder, wenn sie sie wahrnehmen, dann handeln sie nicht mit revolutionärem Sinn, mit menschlicher Sensibilität gegenüber dem Leiden Anderer. Das betri t gleichermaßen revolutionäre oder nicht-revolutionäre Leute, politisch aktiv oder nicht, die sich nur ihren eigenen Problemen widmen, also denen, die sie unmittelbar selbst betre en.
All dies ist Ausdruck des allmählichen Wandels der individuellen und gesellschaftlichen Werte, der sich in unserer Realität vollzieht. Angelegenheiten, die früher als „ideologische Probleme“ galten, sind heute plötzlich keine mehr. Es gibt einen anderen Blick darauf. Es tauchen neue Probleme auf, die früher verpönt waren: heute sind sie es nicht mehr. Es tauchen neue Probleme auf, die wir früher nicht kannten und mit denen wir heute konfrontiert sind. Sie werden nicht mehr als ideologische oder politische Probleme angesehen, obwohl sie es aufgrund ihres Inhalts und ihres Wesens sind. Sie werden nicht als solche betrachtet und es wird nicht dagegen vorgegangen, mit den entsprechenden individuellen und gesellschaftlichen Folgen.
Es gibt einige Fragen, die ich gerne ansprechen möchte, weil ich an den Wert einer kollektiven Sichtweise und eines kollektiven Handelns glaube:
Welches sind im heutigen Kuba die wichtigsten Widersprüche, ob antagonistisch oder nicht, im ideologischen Bereich? Welche Ziele und Inhalte sind angesichts der politischen, wirtschaftlichen, ideologischen, kulturellen und sonstigen Veränderungen im Lande vorrangig zu verfolgen?
Wer sind die ideologischen und politischen Feinde, denen die Revolution im In- und Ausland gegenübersteht und die sie besiegen muss? Wer sind die „unverbesserlichen Konterrevolutionäre“, mit denen man ideologisch nicht zusammenarbeiten sollte, wie Fidel es 1961 in seinen „Worte an die Intellektuellen“ definierte?
Wie muss die inhaltliche ideologische Arbeit aussehen, um zu verhindern, dass die Tendenzen des zerstörerischen Kapitalismus, der keine besseren Bedingungen für das menschliche Leben scha t, das individuelle und gesellschaftliche Bewusstsein ergreifen? Was können Mittel und Zugänge sein, um darauf Einfluss zu nehmen? … Welches sind die wichtigsten ideologischen Tendenzen, die sich in den verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren, Schichten und Klassen im heutigen Kuba in Bezug auf die Revolution und ihre Feinde manifestieren?
Wie zeigen sich ideologische Widersprüche in den Stadtteilen, Arbeitskollektiven, Familien, Schulen und anderen politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen und Organisationen, einschließlich der Partei? Welche ideologischen und politischen Probleme haben sich aus dem notwendigen Generationswechsel in der Führung des Landes ergeben, von der Basis bis zur nationalen Ebene, und wie werden sie angegangen? Welche Trends gibt es bei der Verbreitung ideologischer Inhalte in sozialen Netzwerken und wie wird ihnen begegnet? Mit welchen ideologischen Tendenzen sind die Medien heute konfrontiert und wie werden die neu verabschiedeten Gesetze über Kommunikation und Informationstransparenz umgesetzt? Welches sind die ideologischen Probleme, die sich in der Partei und dem Jugendverband manifestieren und welche vorrangig angegangen werden müssen? … Wie spiegelt sich die wachsende Akzeptanz des Privateigentums als Perspektive für das Land im Bewusstsein der Kubanerinnen und Kubaner wider?
Wie sieht die Strategie für die politische und ideologische Kaderentwicklung auf allen Ebenen aus, um die Nachhaltigkeit der Führung der sozialistischen Gesellschaft im Land zu gewährleisten? Welche Strategie ergreifen wir, um die Massen und die revolutionären Aktivisten darauf vorzubereiten, sich den Veränderungen und ihren Folgen, den Gefahren und den feindlichen Aktionen zu stellen, sie zu mobilisieren und sie für die Aufgaben zu sensibilisieren, die es vorrangig zu bewältigen gilt?
Es gibt noch viele andere Themen, die Gegenstand von Debatten sein könnten, die sich aus den Beiträgen aller Beteiligten ergeben. Das Wichtigste und heute schon fast als dringlich zu Bezeichnende ist, dass diesen Fragen nachgegangen wird und sie erforscht werden, und zwar mit dem notwendigen weltanschaulichen und kämpferischen Fokus, nicht mit bürokratischen oder technokratischen Ansätzen auf lange Sicht – wenngleich es auch Fragen geben mag, die es erforderlich machen, aus genau dieser Perspektive vorzugehen.
Ich lege die hier dargelegten Überlegungen mit dem Ziel vor, die Diskussion zu bereichern und einen Meinungsaustausch anzuregen, der uns unserem genannten Ziel näherbringt.