Fidel war die historische Bedeutung dieses Augenblicks bewusst. Als der damalige kubanische Präsident am 3. Februar 1999 in Caracas zu den Studierenden der Zentraluniversität von Venezuela sprach, hatte er kaum 24 Stunden zuvor an der Amtseinführung des neuen Staatschefs Hugo Chávez teilgenommen. „Ich will euch an eure Pflicht erinnern“, sagte er seinen meist jungen Zuhörerinnen und Zuhörern. „In der Vergangenheit wurden schon Gelegenheiten ausgelassen, aber euch würde man nicht verzeihen, wenn ihr diese vergebt.“
Drei Monate zuvor war Hugo Chávez zum Präsidenten des südamerikanischen Landes gewählt worden. Er hatte nicht weniger als eine Revolution versprochen, und sein wichtigstes Anliegen war es, Venezuela über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung von Grund auf neu aufzubauen. Am Tag seiner Amtseinführung rief er tausenden Anhängerinnen und Anhängern zu: „Bereitet euch darauf vor, zu regieren! Denn genau das ist die Idee der Demokratie, es ist das Volk, das regiert.“
Chávez übernahm als Staatschef ein sozial und politisch zerrüttetes Land. Zehn Jahre zuvor, 1989, war eine Hungerrevolte der Bevölkerung vom Militär blutig niedergeschlagen worden – ein traumatisches Erlebnis für den damals 34-jährigen Offizier. Unter seiner Führung versuchten Teile des Militärs 1992, die Regierung des damaligen sozialdemokratischen Staatschefs Carlos Andrés Pérez zu stürzen. Der Putschversuch scheiterte, aber Chávez wurde durch einen kurzen Fernsehauftritt bekannt und in der verarmten Bevölkerung so populär, dass er am 6. Dezember 1998 zum Präsidenten gewählt wurde.
Chávez war entschlossen, sein Wahlprogramm Wirklichkeit werden zu lassen. Als er am 2. Februar 1999 den Amtseid ablegte, schwor er „vor Gott, dem Heimatland und meinem Volk, dass ich über diese todgeweihte Verfassung die notwendigen demokratischen Veränderungen vorantreiben werde, damit die Republik ein neues Grundgesetz erhält, das den neuen Zeiten angemessen ist“. Bereits wenige Stunden später erließ er ein Dekret über die Durchführung einer Volksabstimmung zur Einberufung der „Constituyente“, der Verfassunggebenden Versammlung. Der Umweg über die Volksabstimmung war notwendig, weil das damals geltende Grundgesetz von 1961 keine Instrumente zu seiner grundsätzlichen Veränderung vorgesehen hatte. Das Plebiszit fand am 25. April 1999 statt, über 87 Prozent der Teilnehmenden votierten für die Wahl der Constituyente. Obwohl die Beteiligung mit 38 Prozent niedrig lag, war das Referendum für Chávez ein historischer Meilenstein: „Das ist die Inanspruchnahme der wirklichen Demokratie, der partizipativen Demokratie, einer Demokratie, die um Rat fragt“. Niemals zuvor habe ein Präsident „ob zu Pferd oder zu Fuß, ob uniformiert oder zivil“, das Volk in einem nationalen Referendum um Rat gefragt.
Die Verfassunggebende Versammlung wurde am 25. Juli 1999 gewählt – und das bolivarische Lager feierte einen Triumph. Von 131 Sitzen der Asamblea Nacional Constituyente entfielen 121 auf die Kandidatinnen und Kandidaten des „Patriotischen Pols“, wie sich das Bündnis der um Chávez gruppierten Parteien nannte. Die Opposition, die sich als „Demokratischer Pol“ bezeichnete, kam auf vier Mandate, drei weitere Sitze entfielen auf andere Parteien. Und zum ersten Mal zogen drei indigene Abgeordnete ein, die von den originären Gemeinden selbst gewählt worden waren.
Die Constituyente beschränkte sich nicht darauf, den Entwurf eines neuen Grundgesetzes auszuarbeiten, sondern ordnete sich alle Staatsgewalten unter, indem sie sich die Befugnis zuschrieb, deren Wirken einzuschränken oder zu unterbinden. So übernahm die Verfassunggebende Versammlung auch die Befugnisse des bisherigen Parlaments. Der Kongress wurde für aufgelöst erklärt und die Abgeordneten, die mehrheitlich in Opposition zu Chávez standen, nach Hause geschickt. Die Constituyente führte so zur politischen Revolution in Venezuela, schon bevor die erste Zeile der neuen Verfassung geschrieben war.
Einen ersten Entwurf für das neue Grundgesetz steuerte Chávez selbst bei. Am 5. August präsentierte er vor den Abgeordneten seine „grundlegenden Ideen für die Bolivarische Verfassung der Fünften Republik“. Zu diesen Vorschlägen gehörte unter anderem, dem bisherigen Staatsnamen Republik Venezuela das Attribut „Bolivarische“ voranzustellen. Auch die Möglichkeit, den Präsidenten und andere Mandatsträger nach der Hälfte ihrer jeweiligen Amtszeit per Referendum abzusetzen, geht auf eine Initiative von Chávez zurück.
Den Hauptteil der Arbeit an der neuen Verfassung leisteten 20 Kommissionen, die sich mit den jeweiligen Kapiteln befassten, bevor im Oktober und November 1999 der Gesamttext im Plenum diskutiert und abgestimmt wurde. Dabei setzten sich die progressiven Kräfte weitgehend durch. So scheiterte der katholische Klerus mit dem Versuch, ein uneingeschränktes Abtreibungsverbot festzuschreiben. Weiße Nationalisten warnten, dass Chávez Venezuela an die „Indianer“ verschenken wolle, weil erstmals die Autonomie und Rechte der indigenen Völker festgeschrieben wurde. Einer von ihnen wütete, die Verfassunggebende Versammlung habe „54 Prozent des nationalen Territoriums an eine Minderheit von 1,5 Prozent der Bevölkerung abgetreten“. Verboten wurde jede Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA. Die Arbeit von Hausfrauen wurde als „wertschöpfende Tätigkeit“ anerkannt, aus der sich Rentenansprüche ableiten ließen. Der Unternehmerverband Fedecamáras verurteilte den Text als „katastrophal“, was Chávez mit der Aussage beantwortete, die Kapitalisten seien „mit schuld am Niedergang“ des Landes.
Die neue Verfassung wurde am 15. Dezember 1999 in einem Referendum zur Abstimmung gestellt und mit fast 72 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen. Die Beteiligung lag allerdings nur bei gut 44 Prozent, was auch auf ein katastrophales Unwetter zurückzuführen ist, das Venezuela genau in jenen Tagen heimsuchte. Schwere Regengüsse führten vor allem im Bundesstaat Vargas (heute La Guaira) zu Überschwemmungen und verheerenden Erdrutschen, die Tausende Menschen unter sich begruben und ganze Städte zerstörten.
Venezuela sei „voller Schmerzen in die neue Republik gegangen“, erklärte Chávez in einer Ansprache an die Bevölkerung. Für die hohe Zahl an Opfern und die schweren Zerstörungen machte der Präsident die Vorgängerregierungen verantwortlich, die sich nie um die Zustände in den armen Vierteln der Städte gekümmert hätten. Doch noch heute ziehen sich in Caracas und anderen Städten die „Barrios“ die Berghänge hoch, entstehen von niemandem organisierte und kontrollierte Slums. Versuche der bolivarischen Regierung, durch großangelegte Wohnungsbauprogramme die Situation in den Griff zu bekommen, haben nur in Ansätzen Erfolg gehabt. Eine Wiederholung der „Tragödie von Vargas“ kann deshalb auch 25 Jahre später nicht ausgeschlossen werden.
Die Reaktion der Regierung von Hugo Chávez auf die Katastrophe von 1999 zeigte jedoch auch den neuen Charakter ihrer Politik. Tausende Soldaten wurden nach Hause geschickt, um in den Kasernen Platz für obdachlos gewordene Menschen zu machen, sogar der Präsidentenpalast Miraflores wurde zur Notunterkunft. Und Kuba eilte zu Hilfe, schickte Hunderte Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Personal zur Unterstützung der Rettungsarbeiten.
Die reaktionäre Opposition bekämpfte die Verfassung auch noch, nachdem sie am 1. Januar 2000 in Kraft getreten war. Im April 2002 putschten Teile des Militärs, Hugo Chávez wurde verschleppt und sollte ermordet werden. Der Chef des Unternehmerverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona, vereidigte sich selbst als neuen Staatschef und verkündete sofort die Absetzung von Regierung, Parlament, Oberstem Gerichtshof und allen anderen Staatsgewalten sowie die Rückbenennung des Landes in „Republik Venezuela“. Doch die Putschisten hatten die Rechnung ohne das Volk gemacht. Hunderttausende Menschen gingen ge Verfassung in der Hand. Schließlich griffen auch die Ehrengarde des Präsidenten und andere loyal gebliebenen Teile der Streitkräfte ein und beendeten den Putsch. Am 13. April 2002, keine 48 Stunden nach seiner Absetzung, kehrte Chávez nach Caracas zurück. In einer über alle Fernsehsender des Landes übertragenen Ansprache betonte er die Bedeutung der Verfassung, die „nach der Bibel“ das wichtigste Buch des Landes sei. An seine Gegner gerichtet erklärte er: „Seien sie gegen mich, ich kann nichts dagegen tun, aber stellen sie sich nicht gegen diese Verfassung, sie gehört allen, lassen Sie sich nicht vergiften.“
Zumindest dieser Appell des 2013 verstorbenen Comandante hat sich bewahrheitet: 25 Jahre nach der Verabschiedung der Bolivarischen Verfassung berufen sich praktisch alle relevanten Kräfte Venezuelas auf das kleine blaue Buch. Tatsache ist jedoch auch, dass die darin festgeschriebenen Ziele noch lange nicht erreicht sind. Im Gegenteil: Vor allem bedingt durch die von den USA und der Europäischen Union gegen Venezuela verhängten Sanktionen, eine jahrelange Hyperinflation und durch Fehler in der Regierungspolitik unter Nicolás Maduro hat sich die soziale Lage der Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Trotzdem gibt es Initiativen, die die von der Verfassung garantierten Spielräume einer partizipativen Demokratie einfordern und mit Leben füllen. Sie sind die Hoffnung, dass der bolivarische Prozess doch noch wieder Fahrt aufnehmen kann.