Venezuela – Die Verfassung gehört allen

Von Andre Scheer

Fidel war die historische Bedeutung dieses Augenblicks bewusst. Als der damalige kubanische Präsident am 3. Februar 1999 in Caracas zu den Studierenden der Zentraluniversität von Venezuela sprach, hatte er kaum 24 Stunden zuvor an der Amtseinführung des neuen Staatschefs Hugo Chávez teilgenommen. „Ich will euch an eure Pflicht erinnern“, sagte er seinen meist jungen Zuhörerinnen und Zuhörern. „In der Vergangenheit wurden schon Gelegenheiten ausgelassen, aber euch würde man nicht verzeihen, wenn ihr diese vergebt.“
Drei Monate zuvor war Hugo Chávez zum Präsidenten des südamerikanischen Landes gewählt worden. Er hatte nicht weniger als eine Revolution versprochen, und sein wichtigstes Anliegen war es, Venezuela über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung von Grund auf neu aufzubauen. Am Tag seiner Amtseinführung rief er tausenden Anhängerinnen und Anhängern zu: „Bereitet euch darauf vor, zu regieren! Denn genau das ist die Idee der Demokratie, es ist das Volk, das regiert.“
Chávez übernahm als Staatschef ein sozial und politisch zerrüttetes Land. Zehn Jahre zuvor, 1989, war eine Hungerrevolte der Bevölkerung vom Militär blutig niedergeschlagen worden – ein traumatisches Erlebnis für den damals 34-jährigen Offizier. Unter seiner Führung versuchten Teile des Militärs 1992, die Regierung des damaligen sozialdemokratischen Staatschefs Carlos Andrés Pérez zu stürzen. Der Putschversuch scheiterte, aber Chávez wurde durch einen kurzen Fernsehauftritt bekannt und in der verarmten Bevölkerung so populär, dass er am 6. Dezember 1998 zum Präsidenten gewählt wurde.
Chávez war entschlossen, sein Wahlprogramm Wirklichkeit werden zu lassen. Als er am 2. Februar 1999 den Amtseid ablegte, schwor er „vor Gott, dem Heimatland und meinem Volk, dass ich über diese todgeweihte Verfassung die not­wendigen demokratischen Verän­derungen vorantreiben werde, da­mit die Republik ein neues Grund­gesetz erhält, das den neuen Zei­ten angemessen ist“. Bereits weni­ge Stunden später erließ er ein De­kret über die Durchführung einer Volksabstimmung zur Einberu­fung der „Constituyente“, der Ver­fassunggebenden Versammlung. Der Umweg über die Volksabstim­mung war notwendig, weil das da­mals geltende Grundgesetz von 1961 keine Instrumente zu seiner grundsätzlichen Veränderung vor­gesehen hatte. Das Plebiszit fand am 25. April 1999 statt, über 87 Prozent der Teilnehmenden votier­ten für die Wahl der Constituyen­te. Obwohl die Beteiligung mit 38 Prozent niedrig lag, war das Re­ferendum für Chávez ein histori­scher Meilenstein: „Das ist die In­anspruchnahme der wirklichen Demokratie, der partizipativen De­mokratie, einer Demokratie, die um Rat fragt“. Niemals zuvor habe ein Präsident „ob zu Pferd oder zu Fuß, ob uniformiert oder zivil“, das Volk in einem nationalen Referen­dum um Rat gefragt.
Die Verfassunggebende Ver­sammlung wurde am 25. Juli 1999 gewählt – und das bolivarische La­ger feierte einen Triumph. Von 131 Sitzen der Asamblea Nacional Con­stituyente entfielen 121 auf die Kan­didatinnen und Kandidaten des „Patriotischen Pols“, wie sich das Bündnis der um Chávez gruppier­ten Parteien nannte. Die Opposi­tion, die sich als „Demokratischer Pol“ bezeichnete, kam auf vier Man­date, drei weitere Sitze entfielen auf andere Parteien. Und zum ersten Mal zogen drei indigene Abgeord­nete ein, die von den originären Gemeinden selbst gewählt worden wa­ren.
Die Constituyente beschränk­te sich nicht darauf, den Entwurf eines neuen Grundgesetzes aus­zuarbeiten, sondern ordnete sich alle Staatsgewalten unter, indem sie sich die Befugnis zuschrieb, de­ren Wirken einzuschränken oder zu unterbinden. So übernahm die Verfassunggebende Versammlung auch die Befugnisse des bisherigen Parlaments. Der Kongress wurde für aufgelöst erklärt und die Abge­ordneten, die mehrheitlich in Op­position zu Chávez standen, nach Hause geschickt. Die Constituyen­te führte so zur politischen Revolu­tion in Venezuela, schon bevor die erste Zeile der neuen Verfassung ge­schrieben war.
Einen ersten Entwurf für das neue Grundgesetz steuerte Chávez selbst bei. Am 5. August präsentier­te er vor den Abgeordneten seine „grundlegenden Ideen für die Bo­livarische Verfassung der Fünften Republik“. Zu diesen Vorschlägen gehörte unter anderem, dem bishe­rigen Staatsnamen Republik Vene­zuela das Attribut „Bolivarische“ voranzustellen. Auch die Möglich­keit, den Präsidenten und andere Mandatsträger nach der Hälfte ih­rer jeweiligen Amtszeit per Refe­rendum abzusetzen, geht auf eine Initiative von Chávez zurück.
Den Hauptteil der Arbeit an der neuen Verfassung leisteten 20 Kommissionen, die sich mit den je­weiligen Kapiteln befassten, be­vor im Oktober und November 1999 der Gesamttext im Plenum disku­tiert und abgestimmt wurde. Dabei setzten sich die progressiven Kräfte weitgehend durch. So scheiterte der katholische Klerus mit dem Ver­such, ein uneingeschränktes Ab­treibungsverbot festzuschreiben. Weiße Nationalisten warnten, dass Chávez Venezuela an die „Indianer“ verschenken wolle, weil erstmals die Autonomie und Rechte der indigenen Völker fest­geschrieben wurde. Ei­ner von ihnen wütete, die Verfassunggebende Versammlung habe „54 Pro­zent des nationalen Territo­riums an eine Minderheit von 1,5 Prozent der Bevölkerung abge­treten“. Verboten wurde jede Pri­vatisierung der staatlichen Erdöl­gesellschaft PDVSA. Die Arbeit von Hausfrauen wurde als „wertschöp­fende Tätigkeit“ anerkannt, aus der sich Rentenansprüche ableiten lie­ßen. Der Unternehmerverband Fe­decamáras verurteilte den Text als „katastrophal“, was Chávez mit der Aussage beantwortete, die Kapita­listen seien „mit schuld am Nieder­gang“ des Landes.
Die neue Verfassung wurde am 15. Dezember 1999 in einem Refe­rendum zur Abstimmung gestellt und mit fast 72 Prozent der abge­gebenen Stimmen angenommen. Die Beteiligung lag allerdings nur bei gut 44 Prozent, was auch auf ein katastrophales Unwetter zu­rückzuführen ist, das Venezue­la genau in jenen Tagen heimsuch­te. Schwere Regengüsse führten vor allem im Bundesstaat Vargas (heute La Guaira) zu Überschwem­mungen und verheerenden Erdrut­schen, die Tausende Menschen un­ter sich begruben und ganze Städte zerstörten.
Venezuela sei „voller Schmerzen in die neue Republik gegangen“, er­klärte Chávez in einer Ansprache an die Bevölkerung. Für die hohe Zahl an Opfern und die schwe­ren Zerstörungen machte der Prä­sident die Vorgängerregierungen verantwortlich, die sich nie um die Zustände in den armen Vier­teln der Städte gekümmert hätten. Doch noch heute ziehen sich in Ca­racas und anderen Städten die „Barrios“ die Berghänge hoch, ent­stehen von niemandem organisier­te und kontrollierte Slums. Versu­che der bolivarischen Regierung, durch großangelegte Wohnungsbauprogramme die Situation in den Griff zu bekommen, haben nur in Ansätzen Erfolg gehabt. Eine Wiederholung der „Tragödie von Vargas“ kann deshalb auch 25 Jahre später nicht ausgeschlossen werden.
Die Reaktion der Regierung von Hugo Chávez auf die Katastrophe von 1999 zeigte jedoch auch den neuen Charakter ihrer Politik. Tausende Soldaten wurden nach Hause geschickt, um in den Kasernen Platz für obdachlos gewordene Menschen zu machen, sogar der Präsidentenpalast Miraflores wurde zur Notunterkunft. Und Kuba eilte zu Hilfe, schickte Hunderte Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Personal zur Unterstützung der Rettungsarbeiten.
Die reaktionäre Opposition bekämpfte die Verfassung auch noch, nachdem sie am 1. Januar 2000 in Kraft getreten war. Im April 2002 putschten Teile des Militärs, Hugo Chávez wurde verschleppt und sollte ermordet werden. Der Chef des Unternehmerverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona, vereidigte sich selbst als neuen Staatschef und verkündete sofort die Absetzung von Regierung, Parlament, Oberstem Gerichtshof und allen anderen Staatsgewalten sowie die Rückbenennung des Landes in „Republik Venezuela“. Doch die Putschisten hatten die Rechnung ohne das Volk gemacht. Hunderttausende Menschen gingen ge Verfassung in der Hand. Schließlich griffen auch die Ehrengarde des Präsidenten und andere loyal gebliebenen Teile der Streitkräfte ein und beendeten den Putsch. Am 13. April 2002, keine 48 Stunden nach seiner Absetzung, kehrte Chávez nach Caracas zurück. In einer über alle Fernsehsender des Landes übertragenen Ansprache betonte er die Bedeutung der Verfassung, die „nach der Bibel“ das wichtigste Buch des Landes sei. An seine Gegner gerichtet erklärte er: „Seien sie gegen mich, ich kann nichts dagegen tun, aber stellen sie sich nicht gegen diese Verfassung, sie gehört allen, lassen Sie sich nicht vergiften.“
Zumindest dieser Appell des 2013 verstorbenen Comandante hat sich bewahrheitet: 25 Jahre nach der Verabschiedung der Bolivarischen Verfassung berufen sich praktisch alle relevanten Kräfte Venezuelas auf das kleine blaue Buch. Tatsache ist jedoch auch, dass die darin festgeschriebenen Ziele noch lange nicht erreicht sind. Im Gegenteil: Vor allem bedingt durch die von den USA und der Europäischen Union gegen Venezuela verhängten Sanktionen, eine jahrelange Hyperinflation und durch Fehler in der Regierungspolitik unter Nicolás Maduro hat sich die soziale Lage der Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Trotzdem gibt es Initiativen, die die von der Verfassung garantierten Spielräume einer partizipativen Demokratie einfordern und mit Leben füllen. Sie sind die Hoffnung, dass der bolivarische Prozess doch noch wieder Fahrt aufnehmen kann.