Perspektiven des kubanischen Sozialismus
Von Wolfgang Mix
Die gegenwärtig schwierige wirtschaftliche Lage Kubas wirft Fragen auf: Schafft sich der „Socialismo Tropical“ selber ab, wenn er mit Konzepten wie „Markt“, „Privateigentum“ oder „freier Wirtschaft“ als Ausweg aus der Krise anstreben würde? Begriffen, die im Kapitalismus von seinen Apologeten mit fast religiöser Inbrunst repetiert werden. Im Alltagsdenken der Gegenwart nehmen diese Litaneien weltweit einen immer breiteren Raum ein, auch in ehedem „linken“ Kreisen und sogar in Teilen der Solidaritätsbewegung mit Kuba. In den USA wird behauptet, die sozialistische Regierung und ihr untaugliches Wirtschaften trügen die Schuld. Dort wird man eine Hinwendung Kubas zu mehr Privatwirtschaft nicht honorieren, sondern das Ziel ist nach wie vor, den Sozialismus auszuradieren und die Ressourcen der Insel wieder in Besitz zu nehmen. Konterrevolutionäre Influencer stiften zusätzlich Verwirrung, bei jenen, bei denen bereits Mangel an politischer Klarheit herrscht.
Man kann ruhig davon ausgehen, dass viele dieser Hohepriester des Mammon selber einen guten Schnitt mit ihren Bemühungen machen, eine sogenannte „sozialistische Marktwirtschaft“ als Heilslehre zu propagieren. Die Millionen, die von den USA für die Subversion gegen Kuba eingesetzt werden, sind in den Taschen solcher Leute sicherlich nicht fehlinvestiert, auch wenn vermutlich nur ein sehr kleiner Teil des Geldes bei ihnen ankommt. Denn das Geschäft mit der Zerstörung des kubanischen Sozialismus ist selbst marktwirtschaftlich organisiert: Die Großen kassieren im ganz großen Stil ab, dann gibt es die bezahlten ideologischen Handlanger und das Ziel ist es, die Massen so zu bearbeiten, dass sie das alles verinnerlichen und als unbezahlte Laienprediger hinterherlaufen.
Wirken solche Kräfte auch in Kuba? Auch in Kuba gab und gibt es immer Leute, die den Kapitalismus als bessere Alternative sehen. Wenn sie nicht irgendwann emigrierten, so hatten sie doch lange Zeit wenig Aussicht, Gehör zu finden. Die revolutionäre Generation hatte nicht gekämpft, ihre Mitstreiter fallen gesehen und letztlich unter großen Opfern gesiegt, um dann der Konterrevolution erneut eine Chance zu geben. Fidel Castro, der sich durch sein Charisma, seine Ehrlichkeit und seine Fähigkeit auszeichnete, auf die Menschen zuzugehen und ihnen die einfachen Wahrheiten nahe zu bringen, steuerte Kuba durch gute wie schwierige Zeiten. Dabei wurden auch unbequeme Wege ausprobiert und eventuell wieder aufgegeben. Doch das Prinzip, eine gerechte Gesellschaft „der einfachen Menschen und für die einfachen Menschen“ zu schaffen, stand niemals zur Disposition.
Fidel ist vor acht Jahren gegangen und nur wenige seiner Mitstreiter sind noch in hohen Positionen aktiv. Der nachfolgenden Generation kann der gute Wille nicht abgesprochen werden. Zudem ist der Sozialismus als Staatsform in der kubanischen Verfassung verankert. Doch die erfolgreiche Bewältigung der CoronaPandemie hat dem kleinen Land enorme Anstrengungen abverlangt und die zynische und ständig verschärfte Wirtschaftblockade der USA lastet schwer auf dem kubanischen Alltag. Alte Menschen wühlen wieder in Mülltonnen, während andererseits Halbkriminelle mit dicken Geldbündeln in der Hosentasche an wenig effektiver Kontrolle vorbei die Situation ausnutzen und in Saus und Braus leben. Den vielen Kubanerinnen und Kubanern, die noch fest an sozialistische Ideale glauben, muss dies sehr weh tun. Zunehmend mehren sich die Stimmen und verschaffen sich Gehör, die sich gegen eine Erweiterung des privaten Wirtschaftssektors wenden.
Dabei gab es anfangs durchaus gute Argumente für die Ausweitung der Arbeit „auf eigene Rechnung“. Viele Stellen in der Staatswirtschaft waren mehrfach besetzt und nicht wenige Menschen erhielten ein Gehalt, ohne dass sie dafür einen ständigen Arbeitsnachweis erbringen mussten. Dahinter stand der berechtigte Wille, das dem Kapitalismus innewohnende Übel der Arbeitslosigkeit zu überwinden und möglichst alle Menschen in Lohn und Brot zu bringen. Doch wirtschaftlich vernünftig war das für ein armes und unterentwickeltes Land nicht und musste korrigiert werden. Und warum soll z. B. ein Friseur nicht eine Schere und einen Rasierapparat sein Eigen nennen, wenn er seine Einkünfte ehrlich versteuert und gleichzeitig alle sozialen Errungenschaften der Revolution wie freie Bildung, ein völlig kostenloses und umfassendes Gesundheitswesen und eine Altersversorgung in Anspruch nehmen darf?
Doch der so ausgeweitete Privatsektor funktioniert anscheinend nicht so, wie viele sich das vorgestellt haben. Die eigentliche Triebfeder des Kapitalismus, die Mehrung des Profits, zu deren Realisierung der Kapitalist gleichzeitig bei Strafe des Untergangs verdammt ist, kann sich unter den Bedingungen der Mangelgesellschaft, der Blockade sowie durch die Einschränkungen, die der immer noch vorhandene sozialistische Anspruch der Gesellschaft verfügt, nicht entfalten. Die Selbständigkeit erschöpft sich weitgehend im Import von Artikeln des gehobenen Bedarfs, die teuer weiterverkauft werden und für die große Mehrheit unerschwinglich bleiben. International gibt es nur schwer Kredite, etwas Geld kommt von Verwandten im Ausland. Eine eigene Produktion oder gar eine Zusammenarbeit mit dem Staatssektor zur beiderseitigen Entfaltung bleiben meist frommes Wunschdenken. Gegenwärtig scheint die Regierung gewillt, weitere „Reformen“ in dieser Richtung nachzuschieben, da die bisherigen zu wenig Wirkung zeigen. So sollen Exilkubaner den Status eines „Investors und Unternehmers“ in Kuba erhalten können. Was dafür erwartet wird, bleibt offen. Im Zustand der Konfrontation, in dem sich Kuba befindet, wirkt das wie eine Flucht nach vorne, eine höchst gefährliche Strategie. Konkret verschärft sie die bereits aufgekommenen sozialen Gegensätze verbunden mit der Gefahr, den Zusammenhalt zu erodieren und würde somit dem Feind in die Hände spielen.
Kuba ist durchaus in der Lage in bestimmten High-Tech-Bereichen wie Biotechnologie, Phamazie und Medizin internationale Standards zu setzen.
Foto: Prensa Latina
Die Alternative, der von Che Guevara angestrebte „Neue Mensch“, an den auch Fidel Castro immer wieder appelliert hat, wird er zur Minderheit? Der gebildete und bewusste Mensch, der eine andere Gesellschaft will und bereit ist, dafür auch große Opfer zu bringen; gibt es diesen Menschen denn im Kuba von heute noch? Ja, denn die Jahrzehnte unter Fidel und der Aufbau des Sozialismus haben die Menschen geprägt. Man rückt in der Krise zusammen und hilft sich. Es wurde berichtet, dass alte Menschen, deren Rente nicht ausreicht, von den Bewohnern ihres Häuserblocks reihum einmal am Tag mit bekocht werden. Menschen leihen sich Konsumgüter wie auch modische Kleidung untereinander aus, wenn eine besondere Feier angesagt ist. Gerade die Mehrheit der Menschen, die den Glauben an den Sozialismus noch nicht aufgeben will, hat um der Einheit willen, welche ein hohes Gut in einer von außen bedrohten Gesellschaft ist, lange Zeit geschwiegen. Doch sie kommt nicht mehr daran vorbei, die Wortführerschaft zu übernehmen.
Wie kann denn ein vermeintlicher Mangel an „Markt“ die Ursache für die Probleme Kubas sein? Tatsache ist, dass das arme Land nur über sehr begrenzte Naturschätze verfügt, deren Ausbeutung anderenfalls eine größere Warenproduktion ermöglichen könnte. Und da, wo man mit großem Erfolg auf die Wissenschaft gesetzt und neue Perspektiven erarbeitet hat wie in der Medizin und der Biotechnologie, erschwert die völkerrechtswidrige Blockadepolitik der USA einen internationalen Handel mit Medikamenten, Impfstoffen und die Verbreitung von neuen Forschungsergebnissen. Kubas Anteil an der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas liegt etwa bei 2 Prozent, doch jeder zehnte Wissenschaftler des Kontinents ist Kubaner. Die kubanische Bildungsrevolution, die der Wissensvermittlung den Warencharakter genommen hat, der ihr im Kapitalismus weitgehend anhaftet, hat dies ermöglicht. Kubas Sozialismus konnte und kann in vielen Bereichen sein großes Pozential verdeutlichen und wird gerade deshalb so fanatisch bekämpft.
Marx und Engels sahen aus ihrer ökonomischen Perspektive die Voraussetzung für den Sozialismus in der Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus. Dessen industrielle Kapazitäten sollten nach ihrer Vergesellschaftung die Basis sein für eine sozialistische Überflussgesellschaft. Jedem solle dann nach seinen Bedürfnissen gegeben werden können. Demzufolge wäre ein Land wie Kuba erst am Anfang. Doch so idealtypisch verlief die Entwicklung nicht. Die schon seit langer Zeit stattfindende Internationalisierung – auch von Ideen – führte dazu, dass erstmals der russische Bolschewismus, dann weltweit besonders im Zuge der Entkolonisierung auch weitere Volksbewegungen, die Macht erkämpften. Nicht in Ländern, die wirtschaftlich „reif“ dazu waren, sondern da, wo das gelebte Elend der Unterentwicklung die neue Weltsicht auf fruchtbaren Boden fallen ließ. Die Errichtung des Sozialismus ist mehr als eine Frage wirtschaftlichen Umbruchs, das Bewusstsein der Menschen ist ebenso ein wichtiger Faktor.
Die Kubanische Revolution hat unter schlechten wirtschaftlichen Voraussetzungen ein hohes Maß an sozialer Entwicklung geschaffen. Wissen diejenigen Menschen Kubas, die die Zeit vor 1959 nur noch vom Hörensagen kennen, diese Errungenschaften noch zu würdigen? Gegenwärtig verlassen viele Jüngere ihr Land, um in der kapitalistischen Welt ein „besseres“ Leben zu suchen. Dies in einer Zeit, in der der globale Kapitalismus immer weniger in der Lage ist, die Bedingungen für eine menschliche Zukunft zu wahren: Kriege werden zur Normalität und der Umweltkollaps zeichnet sich ab. Die Leute verlassen Kuba, obwohl ihnen durch diverse Landreformen die wertvollste Ressource angeboten wurde, die längst nicht mehr überall auf dieser Erde zu haben ist: Guter Ackerboden, um das zum Leben Benötigte zu pflanzen und zu ernten. Die Resonanz war bescheiden. Ein Land, welches sich weitgehend selbst ernähren könnte, importiert 80 Prozent seiner Nahrungsmittel.
Die Frage, warum das so ist, müsste man direkt an die Kubaner richten. Die Gründe sind sicher vielfältig: Unter Kolonialismus und Neokolonialismus konnten sich keine bäuerlichen Traditionen entwickeln. Landarbeit war Sklaven oder Tagelöhnern zugewiesen und die Eliten in der Nachfolge der spanischen Konquistadoren nahmen sich, was sie wollten oder importierten es. Diese Vorstellungen hat die Revolution trotz aller Bemühungen nicht überwinden können. Hohe Bildung und körperliche Arbeit werden nach wie vor als Widerspruch empfunden. Sind die Möglichkeiten im eigenen Land begrenzt, irgendeine besondere Gelegenheit beim Schopf zu packen, um sein schnelles Glück zu machen, versucht man es im Ausland. Die Propagandamaschinerie des Kapitalismus verbreitet pausenlos und dazu passend das Märchen vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde. Die Ordnung Kubas wird unter Einsatz von Millionensummen pausenlos über sogenannte „soziale“ Netzwerke angegriffen und verleumdet und das hinterlässt unter den Mühen des Blockadealltags bei manchen Menschen seine Wirkung.
Wie kann der Sozialismus unter diesen Umständen weitermachen? Fidel Castro sagte 2005 in einer Rede vor Studenten, die damals schockierte und heute wieder häufig zitiert wird: „Wir können uns nur selbst zerstören, aber sie können uns niemals zerstören. Wir könnten uns selbst zerstören und es wäre unsere Schuld“. Eine zentrales Element der kubanischen Politik ist die bereits erwähnte Einheit gegen den mächtigen äußeren Feind. Gewänne dieser Feind auch in Kuba selbst die Deutungshoheit, würde es kritisch. Das ist aber bislang höchstens in Ansätzen der Fall. Wirtschaftlich wird man weiterhin improvisieren müssen und ein materiell armes Land bleiben, dessen Lebensstandard mit dem der kapitalistischen Mächte nicht vergleichbar sein wird. Es ist zu hoffen, dass die Ausuferung der Illusionen über Privatwirtschaft angesichts ihres Scheiterns auf ein verträgliches Maß beschränkt wird. Aber der erreichte hohe Sozialstandard, die Fülle der Kultur für alle, die Gleichberechtigung von Hautfarbe und Geschlecht, der uneigennützige Internationalismus und der gelebte Anspruch der Gleichheit dürfen nicht verspielt werden.
Auch mit der Feindschaft der USA wird man leben müssen. Die Blockade in ihrer über Jahrzehnte verfestigten Form könnte selbst ein gutwilliger US-Präsident nicht aufheben, falls so eine Figur jemals ins Weiße Haus einzöge. Dazu wäre nur ein fundamentaler Wandel der politischen Kultur in den USA imstande, was utopisch erscheint. Immer wieder kommt dort die Forderung auf, Kuba militärisch anzugreifen. Doch die Revolution ist darauf in vielfältiger Weise vorbereitet. Die viele Hunderttausende starken Volksmilizen verfügen über die Ausstattung und die Bereitschaft, Invasoren einen höchst kostspieligen Guerillakrieg aufzuzwingen. Diese Kosten sollen und werden einen möglichen Aggressor, der sicherlich beständig über seine Ziele nachdenkt, aber noch halbwegs bei Sinnen ist, abschrecken. Kuba ist eine Insel, was seine Verteidigung extrem erleichtert. Und das kubanische Beispiel hat in der Welt viele Bewunderer und Unterstützer. Wie Fidel sagte: „Sie können uns niemals zerstören.“ Das Zauberwort ist die Einigkeit der Menschen, die in Kuba bleibe dort weiter ihren Sozialismus leben wollen.