Die Herausforderung …

… sich nicht aufs Kreuz legen zu lassen

Von Tobias Kriele

Mariel

Die Sonderwirtschaftszone Mariel verfügt bereits über 401 Kilometer fertige Straßen und 125 Kilometer Aquäduktnetze, um nur einige der Fortschritte zu nennen.
Foto: Ricardo López Hevia



Am 7. August 2024 wurde dem 41-jährigen kubanischen Ringer Mijaín López in Paris die olympische Goldmedaille im GriechischRömischen Ringen in der Gewichtsklasse 130 kg umgehängt. Zuvor hatte er Yasmani Acosta besiegt. Sein Kontrahent ist wie Mijaín von Geburt Kubaner, er trainierte in früheren Jahren sogar gemeinsam mit Mijaín. Doch 2015 entschied sich Acosta, von einem Wettkampf in Santiago de Chile nicht mehr nach Kuba zurück zu kehren. Er ließ sich in Chile einbürgern und vertritt dieses Land seit 2017 bei Internationalen Wettkämpfen.


Seinen Olympiasieg 2016 hatte Mijaín López Fidel Castro gewidmet. Auch dieses Mal salutierte er während der Siegesfeier. Der Kampf eines aufrechten Kubaners gegen einen „Deserteur“, wie abtrünnige Sportler in Kuba lange Zeit genannt wurden, faszinierte das ganze Land. Mit seinem Finalsieg erlangte Mijaín seine Fünfte Goldmedaille bei Olympischen Spielen: ein Wert, der weltweit unerreicht ist. In Kuba wurde diese Goldmedaille auch als ein Sieg derjenigen gefeiert, die trotz aller Schwierigkeiten geblieben sind.

Die Emigration stellt für Kuba nicht mehr nur ein vorrangig politisches, sondern längst auch ein demografisches und auch wirtschaftliches Problem dar. Die Gesamtbevölkerungszahl Kubas ist von 2020 bis heute um 10 Prozent, von gut 11 Millionen auf knapp 10 Millionen, gesunken. Hintergrund ist die massenhafte Auswanderung mehrheitlich junger Männer, die, das lässt sich vermuten, aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Krise Kuba verlassen haben. Die größten Auswanderungsbewegungen werden in der Hauptstadt Havanna verzeichnet. Kuba droht eine Überalterung der Bevölkerung mit einem hohen Anteil an Rentnern und Pensionären. Aktuell machen sie fast ein Viertel der Bevölkerung aus.

Dass die Bevölkerung Kubas schrumpft, war nur eine von vielen komplizierten Nachrichten, mit denen sich die kubanische Nationalversammlung in ihrer Sitzung vom 17. bis 19. Juli 2024 auseinanderzusetzen hatte.

Die in den Zeiten der Pandemie abgestürzte kubanische Wirtschaft wächst langsamer als erwartet und als notwendig. Das Bruttoinlandsprodukt sank im Jahr 2023 um 1,9 Prozent und liegt damit immer noch etwa 10 Prozent unter dem Niveau von 2019. Es scheint auch unwahrscheinlich, dass das für das Jahr 2024 geplante Wachstum des Bruttoinlandsprodukts erreicht wird. Dies zeigt sich insbesondere im primären Sektor, der die Landwirtschaft und andere Bereiche umfasst. Insbesondere die Produktion vieler entscheidender landwirtschaftlicher Produkte wie Bohnen, Wurzelgemüse, Mais, Eier, Rindfleisch, Gemüse und Milch bleibt hinter dem Plan zurück.

Auch die Warenexporte bleiben unter den Erwartungen. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2023 steigen sie zwar in diesem Jahr um 24 Prozent, bleiben damit aber 12 Prozent unterhalb des Plans für das erste Halbjahr 2024. Die Dienstleistungsexporte haben im Vergleich zum ersten Halbjahr 2023 erfreulicherweise zugenommen. Hervorzuheben sind die medizinischen Dienstleistungen, die 12 Prozent über dem Plan liegen.

Der Tourismussektor, immerhin der größte Investitionsbereich des Landes, zeigt weiterhin nur eine langsame Erholung mit einem Wachstum von 1,8 Prozent gegenüber 2023. Der Tourismus bewegt sich heute bei 51,6 Prozent des Niveaus von 2019, er erreicht nur 88 Prozent des Plans. Die meisten Touristen kommen aus Kanada, Russland und Deutschland oder sind emigrierte kubanische Staatsangehörige. Auch wenn die konkreten Schäden schwer zu beziffern sind, spielt hier sicherlich Kubas Brandmarkung durch die US-Liste der angeblich den Terrorismus unterstützenden Staaten eine Rolle. Reisende, die Kuba besuchen wollen, werden durch eine in der Folge erheblich verkomplizierte Einreise in die USA bestraft.

Derzeit sind in Kuba 343 ausländische Investitionsprojekte mit Beteiligung aus 40 Ländern zugelassen. Wurden im Jahr 2023 noch 42 neue Vorhaben zugelassen, waren es in diesem Jahr bislang 12. Neben der unsicheren wirtschaftlichen Lage dürfte hier der zunehmende Druck aus den USA und der Contra-Szene auf mögliche Investoren eine Rolle spielen. So sah sich der spanische Hotelkonzern Meliá zuletzt einer Boykott-Kampagne von Contras ausgesetzt. In Kuba selbst gibt es heiße Debatten um einen notwendigen „Bürokratieabbau“ für ausländische Investoren, so wie auch wirtschaftsliberale Forderungen nach einer befreiten Rolle der Märkte zu vernehmen sind.

Es gibt im Land 11.046 Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU), von denen 22,8 Prozent im Bereich Gastronomie tätig sind. Davon sind 19,7 Prozent in der Bauwirtschaft und 17,5 Prozent im Bereich der industriellen Fertigung tätig. Die Herstellung von Getränken und Lebensmitteln liegt mit 13,4 Prozent dahinter. Die privaten Importe des nicht-staatlichen Sektors erreichen 936 Millionen US-Dollar, wovon etwa 70 Prozent durch KMU erfolgten. Die durch private Firmen erfolgten Exporte lagen zugleich bei unter 16 Millionen US-Dollar.

Eine gute Nachricht ist, dass die Inflation seit Mai 2023 von 45 Prozent auf 31 Prozent gefallen ist. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies weiterhin steigende und oftmals unerschwingliche Preise für die Bevölkerung bedeutet.

Im Energiebereich übersteigt die Nachfrage die Möglichkeiten der Energieerzeugung. Mit Blick auf die Zukunft wird die Produktion und Aufstellung von Photovoltaik-Anlagen priorisiert. In der näheren Zukunft werden die Schlüsselfaktoren Treibstoff und Devisen weiterhin knapp bleiben. Im Wohnungsbau wurde mit 4159 neu gebauten Wohnungen nur 49 Prozent des Plans erfüllt.

Insgesamt muss man feststellen, dass die wirtschaftlichen Wachstumsziele erneut nicht erreicht werden konnten. Gleichzeitig deuten die offiziellen Zahlen auf eine Abschwächung der Inflationsdynamik hin. Präsident Díaz Canel verwies darauf, dass mit dem Rückgang der Möglichkeiten der Wirtschaftsentwicklung, deren Planung, Einsparungen und die Kontrolle über die wirtschaftlichen Abläufe an Bedeutung gewinnen werden.

Einige der angekündigten Maßnahmen werden die Rolle des Dollars in der nationalen Wirtschaft stärken. Zwar werden alle Finanzaktionen innerhalb Kubas in kubanischen Pesos abgewickelt, es gibt aber Ausnahmen wie die Sonderwirtschaftszone Mariel, sowie zugelassene Einzel- und Großhandelsunternehmen und ausländische Unternehmen, die Operationen in Devisen vornehmen dürfen. Devisen werden auch als Bargeld in bestimmten Bereichen und Aktivitäten akzeptiert, wie beispielsweise im Tourismus. Private Unternehmen müssen ihre Zölle zukünftig in Devisen zahlen.

Für Aufsehen hat gesorgt, dass die Staatsführung das Verhalten der KMUs scharf kritisiert hat.

Eine der Maßnahmen zur Ordnung des Außenhandels ist die Pflicht für den Privatsektor, seine Zahlungen über Konten kubanischer Banken abzuwickeln. Schon seit dem letzten Jahr gibt es ein Gesetz, wonach Bezahlungen in Kuba per Bankkarte erfolgen können müssen, die sogenannte „Bankarisierung“. Der kubanische Präsident Díaz-Canel hatte die Bankarisierung im Juni 2024 als einen der wichtigsten Prozesse der digitalen Transformation der kubanischen Gesellschaft bezeichnet. Sie trage dazu bei, das makroökonomische Stabilisierungsprogramm des Landes verbessert umzusetzen und stehe unter anderem im Zusammenhang mit der Kontrolle des Bargeldumlaufs sowie des Verhältnisses zwischen der Geldmasse in Landeswährung und in Devisen. Wie sehr es dem Staat wirklich gelingt, die Geldflüsse zu kontrollieren, muss sich zeigen. Private Händler bestehen – Gesetz hin, Gesetz her – oftmals auf Barzahlung und sitzen gegenüber den Kunden am längeren Hebel. Die derzeit allgegenwärtigen Stromausfälle machen es den Behörden nicht leichter, hier mehr Disziplin einzufordern.
Strom

Der Investitionsprozess in die Stromversorgung soll im nächsten Jahr an Dynamik gewinnen und die Rettung eines Teils der im Land installierten Stromerzeugungskapazität ermöglichen. Der Einsatz von Stromaggregaten zur dezentralen Stromerzeugung (Foto) wurde zwischen 2005 und 2009 entwickelt.
Foto: Juventud Rebelde




Zwar nehmen die KMUs eine zunehmende Rolle im Wirtschaftsgefüge und der Versorgung der Bevölkerung ein; mit ihnen verbunden bleibt aber eines der größten Probleme: die Steuerhinterziehung, sei es durch falsche Angaben oder durch die Verweigerung der Abgaben. Ein weiteres Problem besteht in der Kontrolle der harten Währungen, die zunehmend durch Privatakteure ausgeübt wird. Die staatlichen Läden nehmen kaum mehr Devisen ein. Das beschleunigt den Schwarzhandel damit, welcher in der Regel nach den fiktiven Wechselkursen des Contra-Internetportals El Toque erfolgt. Dies beschleunigt den Prozess der Inflation und macht es für den Staat umso schwieriger, in ihn einzugreifen.

Die bevorstehende erneute „Dollarisierung“ der kubanischen Wirtschaft sorgt derweil in Kuba für Unruhe. Dies hat auch mit schwindendem Vertrauen in die kubanischen Banken zu tun, die für die Tiendas MLV, eine fiktive Dollar-Ersatzwährung, geschaffen haben, mit der die KubaLIBRE CUBA ner operieren müssen, die sie aber nicht in reale Devisen zurücktauschen können. Für die Bevölkerung ist es ein Problem, dass es in den Geldautomaten oftmals kein Bargeld gibt, während die privaten Händler auf der Bezahlung mit Bargeld bestehen (auch wenn das gegen das staatliche Projekt der Bankarisierung verstößt). Die Strategie der Bankarisierung würde es eigentlich erforderlich machen, dass der Staat Einblick in die Geschäftsbücher nehmen kann, so dass die Steuerabgaben der Unternehmen nicht mehr auf einer Selbsteinschätzung beruhen.

Auf der Juli-Sitzung der Nationalversammlung wurde festgelegt, in welche Richtung sich Kuba weiter entwickeln soll. Es wurde vereinbart,
das makroökonomische Gleichgewicht wieder herzustellen,
Wege zu finden, die Schulden neu zu verhandeln,
das landwirtschaftliche Produktionssystem zu reformieren,
das Konzept des „Staatsbetriebs“ grundlegend zu überarbeiten,
alle Märkte und Akteure in eine einzige Dynamik zu integrieren den Charakter der bürokratischen Planung zu verändern,
die Prioritäten der Investitionspolitik zu verändern,
die Infrastruktur auszubauen,
die Sozialpolitik effektiver zu gestalten.

Keine Frage, die kubanische Regierung muss das Rad herumreißen, will sie ihre langfristig angelegten wirtschaftlichen Entwicklungsziele annähernd erreichen. Die Ziele des 2011 verabschiedeten sozioökonomischen Entwicklungsplanes für das Jahr 2030 scheinen mittlerweile unerreichbar.

Kubas Regierung ist gezwungen, in einem Umfeld zu agieren, welches durch vielfältige Einflüsse geprägt ist: der Wirtschaftskrieg der USA gegen Kuba mit der Blockade im Zentrum, die anhaltenden Auswirkungen der Krise, die mit der Pandemie verbunden war, die Unsicherheit der Internationalen Lage, der Klimawandel mit seinen spezifischen Auswirkungen auf Kuba (Hurrikans), schwaches Wirtschaftswachstum und hohe Inflation auf weltweiter Ebene sowie eine hohe Staatsverschuldung zu ungünstigen Bedingungen.

In den Beratungen der Nationalversammlung war der Tenor: Kuba muss weiterhin im Rahmen einer „Kriegswirtschaft“ agieren und zugleich insbesondere den jungen Menschen eine Perspektive bieten, damit sie im Land bleiben. Zugleich muss Kuba darauf achten, die Kontrolle nicht aus der Hand zu geben. Präsident Díaz-Canel bekräftigte daher: „Unser Land steht nicht zum Verkauf – und das wird es auch niemals tun.“ Die Unabhängigkeit und Souveränität des Landes werde weiter ohne Einschränkungen verteidigt.

Kuba steht wieder einmal vor gewaltigen Herausforderungen. Gerade richtig, dass der Koloss Mijaín López in Paris der ganzen Welt demonstriert hat, dass die Kubaner mit Ausdauer, Disziplin und den Werten der Revolution den Gegner immer noch aufs Kreuz legen können.