Die Casa, die wunderbare Casa de las Americas, hatte Geburtstag.
"Ich habe nicht wirklich verstanden, warum es mich dorthin getrieben hat. Ich gehörte nicht zu den sogenannten Persönlichkeiten der Kunst und Literatur, ich hatte nicht einmal eine Kultur. (...) Es war ein Haus, das wie eine Kirche aussah, und es waren damals Leute dort. Ich verbrachte da zwei oder drei Monate, und wir änderten den Namen. Was sollte das sein: die Kolumbianische Panamerikanische Gesellschaft? Also ändern wir den Namen. Es wurden mehrere vorgeschlagen, darunter auch einige sehr pompöse, und ich entschied mich für Casa de las Américas."
Mit diesen einfachen Worten wandte sich Haydee Santamaría im Juni 1974 – da war sie schon über 15 Jahre in Amt und Würden – rückblickend an eine Delegation von Arbeitern. Haydee, die Schwester Abels – des wohl unglücklichsten, weil später am bestialischsten ermordeten Erstürmers der Moncada – hatte aber vermutlich nicht wirklich eine Wahl gehabt: Fidel Castro wollte seine treue Kampfgefährtin auf ebendiesem Posten sehen. Und seine Wahl, die auf eine Frau fiel, "die sich", wie Miguel Díaz-Canel in seiner Rede betonte, "hartnäckig als unkultiviert bezeichnete", erwies sich als Glücksgriff. Nein, das ist natürlich Unsinn. Fidel verließ sich nie aufs Glück. Aber wie weitblickend sein Streben war, Haydee Santamaría in der jungen – fast noch jungfräulichen – Revolution des Jahres 1959 auf diesen wichtigen Posten zu setzen, wird deutlich, wenn wir sie in jener Rede an die Arbeiter noch ein wenig weiter zitieren:
"Diejenigen von uns, die wir den Compañeros in diesem Land nahe standen, wissen, was passieren kann, vor allem Fidel, und so war uns klar, dass es einen Bruch in den Beziehungen zu Lateinamerika geben würde, dass wir große Konflikte haben würden. Wir wussten, dass das alles kommen würde. So begann ich zu denken, dass es, wenn wir von unserem Kontinent isoliert würden, wichtig wäre, uns nicht von der lateinamerikanischen Kultur zu isolieren."
Mit nur geringfügiger Verzögerung wurden die "Unkenrufe" dann zur vorhersehbaren Wirklichkeit, als das neue Kuba auf Betreiben einer Hegemonialmacht in der näheren Umgebung aus der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) geworfen wurde. Nur Mexiko stimmte seinerzeit dagegen, was die Insel dem größten Land Mittelamerikas nie vergessen hat.
Die erste Leiterin der am 28.4.1959 inaugurierten Einrichtung war entschlossen, die soziokulturellen Beziehungen mit den Völkern Lateinamerikas und der Karibik wie auch mit dem Rest der Welt zu entwickeln und wachsen zu lassen, und in einer Zeit, in der etliche Länder der Region die Bindungen zu Kuba abbrachen, hatte die "Casa" schon frühzeitig den Ehrgeiz, "mit dem besten, was die Epoche zu bieten hatte", einen kulturellen und intellektuellen Austausch zu pflegen, wobei sie es von Beginn an ablehnte, sich merkantilistischen Gesichtspunkten unterzuordnen, die man bis heute – und heute noch verstärkt – Kunst und Literatur überzustülpen pflegt.
Jorge Fornet, Direktor des Literarischen Forschungszentrums der "Casa" äußerte sich im Interview so: "Natürlich spielte die Gründung durch Haydee eine Schlüsselrolle. Dabei denke ich immer noch, wie merkwürdig es war, dass sie sich eine kulturelle Einrichtung aufbürdete, eine Person, die so wenige formale Studien durchlaufen hatte. Diejenigen, die in ihrer Nähe arbeiteten, reden von ihrer natürlichen Intelligenz, etwas, das Leute wie Julio Cortázar, Mario Benedetti und andere große Intellektuelle herausforderte." Der Satz, den er wenig später folgen ließ, war so verblüffend schlicht wie überzeugend: "Wenn etwas den Impakt beweist, den Haydee Santamaría auf andere hatte, dann, dass wir immer noch von ihr reden. Schließlich muss die Casa schon seit 45 Jahren ohne sie auskommen."
Auf Haydee folgte in ihrer Position für eine kurze Zeitspanne der Maler Mariano Rodríguez, ehe für einen vier Jahrzehnte währenden Zeitraum Roberto Fernández Retamar der Casa de las Américas vorstand.
Hierzu noch einmal ein Auszug des Gesprächs mit Jorge Fornet: "Die UNEAC (Union der Kubanischen Schriftsteller und Künstler) entstand nur kurz nach der Gründung der Casa de las Américas – Bruderorganisationen waren sie von Anfang an, nicht zuletzt deshalb, weil beide große, engagierte Persönlichkeiten als Leiter hatten: die Casa Haydee und die UNEAC Nicolás Guillén. Das erklärt ein bisschen die kurzen kommunikativen Wege zwischen beiden. Und Fakt ist: Retamar war Gründer der UNEAC; er hatte dort schon Aufgaben gehabt, bevor er zur Casa kam."
In seiner Ansprache zum 30. Jahrestag der Gründung der Institution kam Retamar auf den "Geist des Dienens, mit dem Haydee die Casa geprägt hat (...), ihre unvergessliche Art, radikale Politik und humanistische Sensibilität zu verbinden", "ihre Überzeugung, dass diejenigen, die in der Casa arbeiten, genauso deren Arbeiter sind wie diejenigen, die an anderen Orten und in anderen Ländern arbeiten". Seiner Auffassung nach besaß die Gründerin ein "organisches Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Schönheit",
"Nichts ist politischer und gleichzeitig kultureller. Das ist die Casa de las Américas", Díaz-Canel zum 65. Jahrestag der Gründung der "Casa". Foto: Juvenal Balán |
Díaz-Canel erinnerte daran, dass "unter diesen >Casa-Arbeitern<, die viele ihrer Projekte von anderen Ländern des Kontinents aus förderten, sich Künstler befanden, die durch vom Imperialismus unterstützte faschistische Diktaturen brutal ermordet wurden, um sie zum Schweigen zu bringen und die moralische Kraft ihrer Ideen zu zerstören, wie Rodolfo Walsh, Paco Urondo, Haroldo Conti und Víctor Jara. Mehrere in ihren Heimatländern verfolgte Intellektuelle wurden in diesem Haus aufgenommen, wo sie ihre Arbeit fortsetzen konnten (...), wie der später ebenfalls ermordete Roque Dalton.(...) Die Casa de las Américas gewährte auch einer Künstlerin wie Violeta Parra Schutz, die vom einfachen Volk ebenso geliebt wurde wie von der extremen Rechten gehasst."
Er erwähnte auch Rubén Darío, Pablo Neruda, Alí Primera, Eduardo Galeano, Ernesto Cardenal und andere Schriftsteller und Künstler unseres Amerikas, die uns die "Casa" näher gebracht hat.
"Die Nueva Trova hatte ihren ersten Sitz in der Casa de las Américas, mit persönlicher Unterstützung von Haydée. Hier, in diesem Saal, spielten Silvio, Pablo und Noel Nicola zum ersten Mal zusammen", wusste der Staatschef zu berichten.
An anderer Stelle heißt es: "Unvergesslich unter den bedeutsamen Aktionen der Casa war das Erste Treffen der Intellektuellen für die Souveränität der Völker unseres Amerikas im Jahr 1981. In der Abschlusserklärung der Veranstaltung verpflichteten sich die Teilnehmer, der imperialen Maschinerie der Lügen und Manipulationen entgegenzutreten, indem sie "Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit verteidigen, und zwar nicht auf abstrakte Weise, sondern mit der Entschlossenheit und Klarheit, die die ursprüngliche Persönlichkeit unserer Völker verlangt und verdient". Diese Worte scheinen für die heutige Zeit geschrieben zu sein, in der die Gespenster des gewöhnlichen Faschismus als gefährliche Karikaturen einer Vergangenheit auftauchen, die noch zu schmerzhaft und zu nah ist, um ihre Abscheulichkeit und ihre Berufung zur Unterwerfung unter imperiale Mandate vergessen zu können"
Nunmehr, sechseinhalb Jahrzehnte nach ihrer Gründung, hält die Institution unverdrossen an ihren Postulaten von damals fest; ihre Heiligung alles Antihegemonischen hat sie zu einer Nische des kulturellen Widerstandes gemacht, in ihrer Authentizität verbunden mit den aktuellen Zeiten, ohne die Vergangenheit aufzugeben.
Laut Präsident Díaz-Canel ging es stets darum, "die kolonialen Vorstellungen zu bekämpfen, die den Völkern aufgezwungen wurden und die seit mehr als fünf Jahrhunderten fortbestehen und erneuert werden". Und er resümiert: "Nichts könnte politischer und gleichzeitig kultureller sein. Das ist die Casa de las Américas. Und das ist die kubanische Revolution".
Am 22. April, also bereits Tage vor der Öffentlichmachung der Preisträger, wurde in der Sala Che Guevara die Jury vorgestellt. Die Eröffnungsrede hielt der guatemaltekische Schriftsteller Arturo Arias, der sich erinnerte, wie er 1981 im Alter von 29 Jahren zum ersten Mal dorthin kam, neugierig auf Persönlichkeiten wie Roberto Fernández Retamar und Manuel Galich (letzterer, nach dem übrigens der kleinere Veranstaltungssaal benannt ist, Guatemalteke wie er selbst).
Die Casa de las Américas fördert den sozio-kulturellen Austausch zwischen Kunstschaffenden aus Lateinamerika, der Karibik und dem Rest der Welt |
Arías in seiner Ansprache: "Für mich ist die Casa de Las Américas die seriöseste Institution auf unserem Kontinent. Es ist schwer vorstellbar, dass andere nach 65 Jahren ihres Bestehens jährliche Preise auf kontinentaler Ebene vergeben, mit den Schwierigkeiten, die wir alle kennen, und noch dazu auf gemeinnütziger Basis." Und er fuhr fort: "Wie viele Institutionen bieten 15 Kategorien für eine Preisvergabe an und reagieren mit Sensibilität auf neue Anliegen, die den traditionellen Kanon durchbrechen, wie etwa karibische, englische, frankophone oder indigene Literaturen?"
Auch verwies er darauf, dass die "Casa" über ihre weithin bekannten Meriten hinaus eine in mehreren Ländern erhältliche Zeitschrift gleichen Namens herausgibt sowie über ein Forschungszentrum verfügt, in dem führende Akademiker zusammenarbeiten.
Seine Kernaussage bestand gewiss darin, dass "der Kompass" der Einrichtung "immer in Richtung des globalen Südens" zeige und sich auf enteignete Völker konzentriere.
"Wenn ich die Sitzung der Jury für den Preis Casa de las Américas 2024 eröffne, dann deshalb, weil wir von Beginn an übereinstimmen, nicht nur in der Flucht vor dem Veralteten, dem Müden, dem Wiederholten, sondern in der ständigen Suche nach dem Neuen, zusammen mit der Verteidigung jener ethischen Beziehung, die uns mit den ewigen Kämpfen und dem Schmerz unserer Völker verbindet", sagte Arías.
Jorge Fornet, Direktor des "Centro de Investigaciones Literarias de la Casa", gab allerdings zu bedenken, dass es eine große Herausforderung und ein Paradoxon sei, den Wettbewerb in zunehmend angespannter wirtschaftlicher Lage durchzuführen, da andererseits die Zahl der Werke jedes Jahr zunehme, so dass es technisch unmöglich sei, den kulturellen Event aufrechtzuerhalten, wenn er so weitergeführt werde.
Die Preisvergabe fand am Vormittag des 26. April statt. Hier einige Preisträger:
- Kategorie Roman: Buenos Aires, Herbstende, Guillermo Adrián Paniaga (Argentinien)
- Kategorie Theater: Die Haut der Erde, Marina Jurberg (Argentinien)
- Kategorie Künstlerisch-Literarisches Essay: Das andinische Zeugnis der politischen Gewalt in Peru, Betina Sandra Campuzano (Argentinien)
- Kategorie Kinder- und Jugendliteratur: (frei übersetzt) Der Rhythmus der Tage, Mario Carrasco Teja (Mexiko)
Die Ehre, diese prestigeträchtige Veranstaltung musikalisch abzuschließen, fiel diesmal am späten Nachmittag desselben Tages auf Diego Gutiérrez, einen nicht jedem bekannten Interpreten des Zeitgenössischen Kubanischen Liedes. Der ungefähr 50jährige, in der Stadt Ciego de Ávila geborene, machte von sich reden, als er 1997 in der Provinz Villa Clara das mittlerweile renommierte Projekt "La Trovuntivitis" aus der Taufe hob. Er kann auf einige Preise zurückblicken und auf eine Nominierung für das "Beste Album Tropischer Fusion" in der 19. Auflage des Latin Grammy Award. Der mit einer "sehr eigenwilligen Spielästhetik" ausgestattete Cantautor wird laut Katia Camejo Montpeller von seinem Publikum geschätzt für "seine exquisite Mischung kreolischer und ausländischer Rhythmen sowie eine Poesie, die das Sublime wie auch das Alltägliche behandelt". Das Programm, das er zur Klausur in der "Casa" spielte, umfasste nicht nur eigenes Material, sondern war – wie es schließlich auch dem Geist dieses Hauses entspricht – angenehm durchsetzt von bekannten Stücken anderer lateinamerikanischer Liedermacher. Diego Gutiérrez wurde bei seinem Gesang zur Gitarre teilweise von dem jungen Pianisten Rodrigo García Ameneiro, mit dem er öfters zusammen auftritt, begleitet. Der hochbegabte Rodrigo ist der Sohn der bekannten Trova-Sängerin Rochy, der Konzerte seiner Mutter schon auf den Tasten begleitete, kaum dass er den Kinderschuhen entwachsen war. Inzwischen fasst er seine Ansprüche wohl etwas weiter.
Zum Schluss noch ein kleiner Schlenker zum großen Roberto Fernández Retamar. Ich besitze eine CD von ihm mit 31 Poemen aus seiner Feder, von ihm selbst vorgetragen. Zum Teil mit sparsamsten Worten anmoderiert, so als wäre ihm das lästig. Vermutlich wollte ich mich auf den zu schreibenden Artikel einstimmen, jedenfalls hörte ich mir besagte Disk nach längerer Zeit mal wieder an. Nicht alles – vor Dichtung kapituliert mein Spanisch sehr schnell; da bin ich schon froh, wenn ich den einen oder anderen Satz verstehe – aber vielleicht die Hälfte verstehend. Retamar hat eine angenehme, klare Stimme. Und da erinnerte ich mich an eine etliche Jahre zurückliegende Episode (die zu unbedeutend ist, um auch nur diesen bescheidenen Namen zu verdienen), als sich unsere Wege einmal für Sekunden kreuzten.
Meine Frau und ich saßen eines Tages unweit des "Hotel Nacional" im Restaurant La Roca – mittelmäßig, geldbeutelschonend – beim Mittagessen. Schweinefleisch mit irgendwas. Am Tisch hinter uns entspann sich ein Gespräch zwischen einem Mann und zwei Frauen, alle den Stimmen nach bereits etwas älter, ersterer eindeutig dominierend. Irgendwann gelang es einer seiner Begleiterinnen, ihn mit der Frage zu unterbrechen: "Du sprichst dauernd von deiner Diskussion mit diesem Mario. Welchen Mario meinst du eigentlich?" Die Stimme des Mannes klang ungnädig, als er antwortete: "Welchen Mario? Welchen Mario wohl? Mario Benedetti natürlich!" Ich weiß noch, dass ich im selben Moment gerade die Gabel zum Munde führte. Ich ließ sie wieder sinken. Möglich ist aber, dass mein Mund offenstehen blieb, denn ich dachte: Wer um alles in der Welt kennt solche Leute? Ich drehte meinen Kopf zunächst nach links, dann ein Stück weit nach hinten, hoffend, dass diese Indiskretion in der Hitze des Gesprächs weitgehend unbemerkt bliebe, was zum Glück der Fall war. Im Profil saß er da, einen knappen Meter entfernt: einer der führenden Intellektuellen Kubas, Dichter, Essayist, Literaturtheoretiker und seit mehr als 30 Jahren Präsident der legendären Casa de las Américas. Da hatte ich also meine Antwort.
Ich könnte nicht sagen, ob ich in der "Casa" die meisten Konzerte in Havanna erlebt habe, aber mit Sicherheit waren es die lohnensten. Zweimal Daniel Viglietti kurz hintereinander, eine kleine Orgie an uruguayischen Flaggen, extatisch geschwenkt von seinen mitgereisten Landsleuten, seiner Hardcore-Solidaritäts-Fan-Group. Der erste Auftritt besprochen in der Cuba Libre, in einer redigierten Fassung dann auch in der Melodie & Rhythmus. Konzerte – unvergesslich bis ans Sterbebett! Ich habe die Casa de las Américas nie zu einem anderen Zweck besucht, als Musik zu sehen und zu hören. Dabei wird sie doch so vielen kulturellen Sätteln gerecht. Aber ich nehme an, es ist egal, ob sie sich mit plastischer Kunst, Theater, Literatur, Musik oder pensamiento, also mit dem Denken, befasst, nicht mit dem Gebrauch des Hirns im anatomischen sondern im emanzipatorischen Sinne – was immer dieser Ort zu seiner Aufgabe macht, es wird gelingen, es wird gut sein, teilhaftig der Magie, die so viele große Geister, die hier gewirkt haben, immer noch verbreiten.
Aktueller Präsident der Einrichtung ist der Schriftsteller, langjährige Kulturminister und persönliche Berater Fidels, Abel Prieto.
Uli Fausten
CUBA LIBRE 3-2024