José Delgado in der Casa de las Américas, Foto: cubarte.cult.cu
Zwei Konzerte innerhalb von drei Tagen, so etwas bietet auch diese verdienstvolle Kulturadresse nicht allzu häufig. Den Anfang machte Mittwoch, den 17. Januar 2024, die "Wind Symphony Orchestra Band" der Universität Cornell aus den USA. Eher ein "Symphony Orchestra" als eine "Band" – dies war der erste Einruck, der sich einem durch die schiere Anzahl der Musiker und Musikerinnen aufdrängte. Die Besucher aus den Vereinigten Staaten hatten bereits eine ereignisreiche Woche auf der Insel hinter sich, als sie in die Casa kamen, einen Ort, den man wohl für einen würdigen Abschluss der Konzertreise als passend empfand.
Was es mit dem Wort "Wind" im Namen der Formation auf sich hat, war ich zu faul zu recherchieren, aber da der Auftritt ausschließlich mit Blasinstrumenten in Szene gesetzt wurde, muss man sich wohl nicht arg den Kopf darüber zerbrechen.
Sie existiert seit über 12 Jahren und wird von James Spinazzola geführt, der zuvor schon Bands, Orchester und Jazz-Gruppen in den Vereinigten Staaten, China, Indien, Haiti und der Dominikanischen Republik geleitet hat, also ein Stück weit in der Welt herumgekommen ist.
Madelaine Masses, Direktorin des Nationalen Zentrums für Konzertmusik, hatte sich gegenüber Prensa Latina dahingehend geäußert, dass die Zusammenkunft von kubanischen und US-Musikern, die es an diesem Abend gab, auf einen Vorschlag zum kulturellen Austausch zwischen Kuba und den USA zurückgehe – mit der Entwicklung eines Programms, das die Fusion von Gruppen beider Länder erlaube. Wie immer man diese etwas kryptische Aussage in seiner Vorstellung in einen konkreten Vorgang umzusetzen hat, bleibe mal dahingestellt. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass, wenn irgendetwas zwischen beiden Staaten realisiert werden kann, es noch am ehesten im Kulturbereich ist. Andererseits kann man kaum umhin, sich zu wundern, dass in diesen verhärmten und verhärteten Zeiten Austausch überhaupt noch passiert.
Die Begrüßung der jungen Gäste übernahm der Direktor der "Banda Nacional de Conciertos de Cuba", Igor Corcuera, der von seinem US-Kollegen auch direkt am Anfang in das Programm eingebunden wurde: Er, selber Blasinstrumentalist, interpretierte zusammen mit dem "Quinteto Habana Brass", drei Stücke, darunter den Bolero Espanol des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona.
Dann erhielt Corcuera dankenswerterweise die Gelegenheit, Spinazzolas ungleich größere "Wind Symphony Orchestra Band" zu dirigieren – und zwar bei der Obertura Cubana von George Gershwin aus dem Jahr 1932, die der berühmte US-Komponist nach einem kurzen Aufenthalt in Havanna schrieb. Ein weiteres Werk, das im Laufe des Abends der Annäherung beider Länder dienen sollte, war Danzón cubano (1942) von Aaron Copland aus den Vereinigten Staaten.
Apropos Annäherung: Man hatte sehr intensiv den Eindruck, dass die beiden Kapellmeister James Spinazzola (der nicht zum ersten Mal in Kuba war) und Igor Corcuera freundschaftlich bis herzlich miteinander umgingen, als wollten sie dem ex catedra verordneten Kalten Krieg eine Portion subversive menschliche Wärme entgegensetzen. Und die musizierenden Studenten der New Yorker Cornell University? Dass die US-Regierung Austausche wie diesen zuweilen durchgehen lässt, heißt ja keineswegs, dass sie sie gutheißt. Am liebsten wäre ihr, dergleichen fände überhaupt nicht statt. Aus naheliegendem Grund: Da impft man die Gehirne junger Menschen mit griffigen Hollywood-Klischees von roten Diktaturen, und dann kommen sie in dieses Land! Ich habe ja selten Verständnis für US-Regierungen, aber hier verstehe ich ihre Besorgnis schon ...
Der Abend in der Sala Che Guevara der Casa de las Americas endete mit der Ouvertüre zu Leonard Bersteins hinreißender West Side Story. Man hätte dem großen Ensemble mehr Publikum gewünscht. Nur etwa die Hälfte des Saales war besetzt. Die Bewohner von Matanzas sind anscheinend kulturbeflissener. Das Teatro Sauso, in dem sie dort aufgetreten waren, war praktisch ausverkauft gewesen. Jeder einzelne der Studierenden gehört übrigens technischen und/oder wissenschaftlichen Fakultäten an. Keiner hat das Ziel, Berufsmusiker zu werden. Einem Laien wie mir wäre das gar nicht aufgefallen.
Zwei Tage später, Freitag den 19. Januar, war der nächste Event in der Casa, diesmal allerdings in der Sala Manuel Galich im Erdgeschoss – wesentlich kleiner als die oben erwähnte, dafür aber auch proppenvoll.
Eines der vielen "65. Jubiläen", die es in diesem Jahr zu feiern gibt, ist der 65. Jahrestag der Gründung der Casa de la Americas, die in der Ägide ihrer ersten – langjährigen – Präsidentin Haydee Santamaría, unter der die Institution bereits früh eine Ausrichtung auf Lateinamerika und die Karibik hin erfuhr, stets kulturelle Kontakte mit Venezuela pflegte.
Venezolaner war dann auch der Cantautor dieses Abends, José Delgado. Der aktuelle Botschafter der Bolivarischen Nation in Havanna ließ es sich nicht nehmen, in der vordersten Reihe zu sitzen, neben dem Hausherrn der Casa, der ihr seit dem Tod von Roberto Retamar vorsteht: Abel Prieto, Schriftsteller, beliebter Ex-Kulturminister und Berater Fidels, der mit seiner ewig rockigen Mähne immer noch so aussieht, als wäre er chronisch einen Fußbreit neben der Mittellinie der Partei.
José Alejandro Delgado, geb. 1980 in Caracas, wuchs in einem Elternhaus auf, in dem Musik eine große Rolle spielte. Speziell sein Vater beeinflusste ihn in dieser Richtung stark. Bereits als Kind lernte José Cuatro und Mandoline spielen. In seiner Adoleszenz kam die Gitarre hinzu. Nach eigener Aussage hörte er als Junge viel Kubanisches älteren Datums wie Benny Moré, Bola de Nieve und das Trio Matamoros. Während des Konzerts in der Casa merkte man von Einflüssen dieser Art allerdings nicht viel.
2016 hatte er ("trotz seines jugendlichen Alters", wie ein Biograph anmerkte, wobei man durchaus fragen darf, ob jemand mit den 36 Jahren, die er damals alt war, noch als Jugendlicher durchgeht) schon fünf Alben herausgebracht. Bis zu seinem sechsten, Anterior, dauerte es dann weitere sieben Jahre. Er war in seiner Schaffensphase viel unterwegs, nicht nur auf Liedermacherfestivals in Lateinamerika, sondern auch in Europa. Und er war nicht nur am Lieder schreiben interessiert. Seine Liebe galt auch dem Theater. Einmal war er sogar mit einem Schauspiel-Ensemble in Spanien.
Doch zurück zum Abend des19. Januar: Der mittlerweile 43jährige – wenngleich jünger aussehende – Cantautor begann unter freundlichem Beifall. Viele Kubaner im Publikum kannten ihn offenbar ebensowenig wie ich. Er kündigte an, dass er Stücke aus seinem jüngsten Album Anterior (2023) vorstellen wolle und bestritt die erste Hälfte des Programms mit Gesang zur Gitarre. Die Darbietung war anfangs schon etwas gewöhnungsbedürftig, weil definitiv nichtkubanisch. Ich muss gestehen, dass ich mit venezolanischer Musik kaum vertraut bin; nicht mal Ali Primera kenne ich sonderlich gut. Aber mein Fremdeln dauerte nicht lange und richtig spannend wurde es dann im zweiten Teil. Eingeladene Musiker waren die Kubaner Alejandro Falcón und Adrián Berazaín sowie der Argentino-Kubaner Rodrígo Sosa.
Der Pianist Alejandro Falcón ist einer der prominentesten Vertreter des so genannten JoJazz, des jungen kubanischen Jazz, aber er ist nicht auf dieses Genre beschränkt. Eine Nummer an diesem Abend ist mir besonders in Erinnerung: José Delgado, der sein Instrument weggestellt hatte, begann a capella zu singen, länger als nur ein paar Takte, und als man schon dachte, es werde so weitergehen, kamen die ersten Töne vom Flügel, nicht wirklich begleitend sondern sich eher vorsichtig und scheu an die Stimme herantastend. Gerade so, als wäre es nicht mehr als ein spontaner Versuch. Stimme und Piano fusionierten nicht, Sie lebten nebeneinander. Dabei war dies sicher nur genau der Eindruck, der entstehen sollte, aber das tat er sehr suggestiv.
Anders als Falcón hatten die beiden anderen Gastmusiker eher kurze, aber durchaus wirkungsvolle Auftritte. Adrián Berazaín beherrscht bekanntlich mehrere Instrumente. Eines davon ist die Mundharmonika, und die brachte er – neben einer Vokal-Einlage, mit der er einen Song von José Delgado als Harmoniestimme begleitete – virtuos zum Einsatz. Rodrígo Sosas spärisch-meditatives Spiel auf der Quena, einem flötenartig klingenden, aber optisch sehr exotisch anmutenden Blasinstrument, sorgte für einen weiteren Akzent.
Die Protagonisten hatten das zirka hundert Personen zählende Publikum, von denen manche stehen mussten, nunmehr vollkommen in ihrem Bann. Es gab mehrere Male Szenenapplaus. Bei dem Lied "Liberen al Prometeo" ("Befreit Pometeus!") wurde kräftig mitgesungen. Für die letzten Stücke stand der Hauptakteur aus Venezuela wieder allein auf der Bühne. Am Ende wurde José Delgado mit Standing Ovations verabschiedet.
Ulrich Fausten
CUBA LIBRE 2-2024