Aber es reicht nicht: ein Reisebericht

Eine der ersten Eindrücke, die ich aus früheren Kuba-Besuchen erinnere, ist der, dass auf der Insel die Zeit zu verweilen schien. In den Gesprächen vor Ort war es, als hätte die Revolution erst gestern gesiegt. Der Charme, mit dem auf Kuba einleuchtende und einfache Antworten auf die komplexesten Problemlagen,die ich aus Deutschland schilderte, gefunden wurden, war einnehmend. Maldito capitalismo, verfluchter Kapitalismus! So sind die Kubaner, so erwarteten wir sie vorzufinden und so machen sie uns glücklich. So komisch es klingt und wohl auch ist. Aber dazu später.

Vor dieser Reise um die Jahreswende 2023/2024 standen ganz andere Fragen im Raum. Wie geht es den Kubanern an sich und meinen Freundinnen im Besonderen? Gibt es genug zu essen, anzuziehen, gibt es Gas, Elektrizität und Benzin? Kann man sich auf den öffentlichen Verkehr verlassen? Wie ist die Stimmung auf der Straße? Man musste auf alles vorbereitet sein.

Nach der Ankunft in Havanna zeigte sich schnell, dass in Kuba derzeit praktisch alles zu bekommen ist, wenn man das entsprechende Geld dazu hat. Für den europäischen Reisenden ist Kuba zwar kein Schnäppchenland mehr, aber die Preise sind denen im inflationsgeprägten Deutschland im Durchschnitt grob vergleichbar. Das gilt vor allem, wenn man wie wir zum staatlichen Kurs tauscht. Wobei das eine Herausforderung ist: Man muss erst einmal in Playa eine CADECA-Wechselstube finden. Es gibt sie, aber ich habe nie einen Kubaner getroffen, der mir Auskunft darüber hätte geben können, wo sie zu finden sind. Eine Bekannte sagt im Scherz zu mir: "Wenn Du dort auftauchst, erschrecken sich die Angestellten, denn du bist seit Jahren der erste Kunde." Dazu muss man wissen, dass die Gesetzgebung zur Bekämpfung des Schwarztauschs von Devisen auf Kuba kürzlich verschärft wurde. Illegaler Devisentausch ist strafbar, aber das scheint niemanden zu kümmern.

öffentlichen Busse
Die Preise für die öffentlichen Busse decken die Kosten für‘s Benzin nicht annähernd
Foto: Ismael Francisco / Cubadebate


In Havanna geht es den Freundinnen gut, auch wenn sie sich aufgrund des schlechten Nahverkehrs lange nicht mehr zu viert gesehen haben. "Busse? Vergiss es! Sind praktisch nicht mehr vorhanden", heißt es. Für unseren ersten Ausflug nehmen wir dann gleich ein Taxi, das man sich über Whats-App ruft. Wir fahren für einen Besuch in einen anderen Stadtteil und zahlen hin und zurück den aktuellen Gegenwert von drei Dutzend Eiern in kubanischen Pesos. Nicht viel für uns, aber genau das, was Elena an monatlicher Rente erhält. Weshalb sie auch keine Taxis benutzt. Sondern? Den Bus. Sie habe da so einen Engel, sagt die 87jährige. Jedes Mal, wenn sie sich einer Haltestelle nähere, erscheine dort ein Verkehrsmittel. Am nächsten Tag probieren wir es aus. Kaum an der Haltestelle angekommen, erscheint gleich einer Fata Morgana die Linie 8. Die Fahrt inklusive Sitzplatz kostet 2 Pesos, umgerechnet etwas mehr als ein Eurocent. Ich schaue mich um, im Bus sitzen etwa 20 zahlende Fahrgäste. Zusammengenommen reicht unser Fahrgeld nicht für einen Liter Diesel. Ein anständiger Preis für die darauf Angewiesenen, ein Devisengrab für den kubanischen Staat. Aus dem Fenster sehen wir lange Schlangen von Autos, die darauf warten, an der einen Kilometer entfernten Tankstelle Benzin zu erheischen. Hunderte von Fahrern, die vier, fünf Stunden nichts anderes tun als anzustehen. Außerhalb von Havanna, erfahren wir später, werde derzeit überhaupt kein Benzin verkauft. Für eine Volkswirtschaft kann das nicht gut sein. Und natürlich erfahren wir auch bald am eigenen Leib, dass das Busglück nur Elena immer hold ist. An den Haltestellen sieht man Menschentrauben, die offensichtlich seit langer Zeit auf einen Bus warten. Wie gelangen eigentlich die Arbeiter und Angestellten zur Arbeit? "Das ist eine Herausforderung. Um halb fünf aus dem Haus gehen und dann hoffen, dass man vor der Mittagspause da ist" lautet die lakonische Antwort eines Bekannten. Schwer zu sagen, was mehr schmerzt, die wirtschaftliche Krise oder der beißende Spott.

Tankstelle
Benzin zu bekommen, ist derzeit schwierig
Foto: trabajadores.cu


In der Silvesternacht stehen wir kurz vor Mitternacht um den Fernseher herum, alle mit einem Glas Cidre in der Hand. Auf dem Bildschirm erscheinen Filmaufnahmen von Fidel, und unsere Freundinnen, alle mittlerweile in den Achtzigern, verdrücken eine Träne. Als die Kanonen auf der Festung der Cabaña donnernd das Neue Jahr begrüßen, erheben wir das Glas und stoßen auf Kuba, Fidel und die Revolution an. Es ist wie immer.

Zuvor hatten wir drei wundervolle Tage im Viñalestal verbracht. Ich hatte gezögert, bevor ich die Besitzerin einer Casa Particular anrief, bei der wir vor vielen Jahren immer wieder untergekommen waren. Wer weiß, wie sich die Welt der Vermieterinnen und Vermittler von damals bis heute weitergedreht hat. Als wir in Viñales ankommen, ist alles wunderbar vertraut. Meine Vermieterin empfängt uns mit Umarmungen. Ich frage sie nach dem Preis. Sie nennt denselben Betrag wie immer und entschuldigt sich bei mir. Alles sei schließlich teurer geworden. Sie schaut mich an. "Aber weißt Du was? Wenn Dein Geld nicht reicht, wohnt Ihr bei mir umsonst." Ich protestiere. Wir verbringen drei herrliche Tage bei ihr. Unsere vier kubanischen Begleiterinnen genießen das Frühstück, den Kaffee, das Brot, die Früchte und natürlich die gediegenen Mahlzeiten. Unsere Vermieterin und ihr Mann wirken bedrückt. Am zweiten Tag erzählt sie mir, dass ihr Sohn vor einem Monat das Land verlassen hat. Warum? Er hatte das Gefühl, nicht voranzukommen, sagt sie. Er habe an der Universität von Pinar del Rio studiert. Seitdem dorthin keine Busse mehr fahren, habe er für private Linientaxen ein Vermögen ausgeben müssen, um auf den Campus zu kommen. Ich schaue mich in der Wohnung um. Sieht nicht so aus, als würde es nicht für das Taxi reichen. Es stellt sich dann auch heraus, dass es wohl eher um den Traum gegangen ist, woanders mit unbegrenzten Möglichkeiten komplett neu anzufangen. Jetzt arbeite er in Guatemala in einer Fabrik, in der Toilettenpapier hergestellt wird. Seine Freundin hat er nachgeholt, sie verpackt die Rollen in Plastik. Beide haben Heimweh und würden gerne die Eltern besuchen, aber der Lohn reicht gerade so für die Miete und das Essen. Und die Eltern? "Ich gehe hier nicht weg", sagt die Mutter. "Ich wäre außerhalb von Viñales überhaupt nicht lebensfähig", sagt der Vater.

Bevor wir uns am nächsten Tag verabschieden, verlange ich die Rechnung. Als ich sie nachprüfe, fällt mir auf, dass sie viel zu niedrig ist. "Geld ist nicht wichtig, Freundschaft schon" sagt mir unsere Gastgeberin, nachdem ich sie darauf hinweise. Als wir abfahren, winkt sie und ruft mir hinterher: "Vergiss nicht, mir viele deutsche Touristen zu schicken!".

Als wir im Bus Richtung Camagüey unterwegs sind, fällt mir wieder ein, während ich den Verkehr beobachte, dass angeblich außerhalb der Hauptstadt offiziell weder Benzin noch Diesel verkauft werden. Es ist nicht zu erkennen, dass deshalb weniger Autos unterwegs wären. Es bedarf nicht viel Spürsinn, um darauf zu kommen, dass offensichtlich das Gros des Treibstoffes auf dem Schwarzmarkt besorgt wird. Rätselhaftes Kuba.

Noch am Busbahnhof von Camagüey sind wir wieder in familiärer Begleitung. Jorgito lässt es sich nicht nehmen, uns um zwei Uhr morgens persönlich abzuholen. Nach wenigen Minuten sind wir mitten in einer Lagebesprechung. Wie steht es um den Sozialismus? Jorgito sagt einen Satz, über den ich noch öfters nachdenken werde: "Wir müssen lernen, dass es kein Widerspruch ist, bedingungslos zur Revolution zu stehen und zugleich die Arbeit der Regierung kritisch zu begleiten." Das sind neue Töne. Wir erfahren in den folgenden Gesprächen viel über alte und neue Probleme Kubas, darüber, wie viele darben, während andere sich die Taschen vollmachen. Die Sozialen Netzwerke haben vieles komplizierter gemacht, Miami ist in der Meinungsmache immer mit dabei und auch die User, die in Kuba wohnen, haben teilweise den Kompass verloren, wie Jorgito es ausdrückt. Die kleinen und mittleren Unternehmen, welche sich in den letzten Monaten und Jahren in Kuba ausgebreitet haben, erzeugen mindestens genau so viele Probleme, wie sie lösen, sagt er. Das neue Gesetz, welches alle Unternehmen dazu verpflichtet, eine elektronische Bezahlung zu ermöglichen, sei ja in der Theorie nicht schlecht, sagt er. Damit könnte theoretisch die Steuerhinterziehung, derzeit ein massives Problem der Privatunternehmen, eingedämmt werden. In der Praxis werde es aber darauf hinauslaufen, dass sich niemand daran hält. Unser Staat hat an Autorität verloren, und jedes Mal, wenn ein Gesetz erlassen wird, an das sich anschließend niemand hält, schwindet sie ein bisschen mehr, sagt Jorgito. Ich muss an das Verbot des Tausches von Devisen denken.

Am nächsten Tag besuchen wir eine weitere Freundin, ihres Zeichens 88 Jahre jung, aber von einer betörenden Lebendigkeit, angesichts derer ich mich in die Jahre gekommen fühle. Wir sprechen über dieses und jenes. Sie erzählt, dass ihr Sohn am Grauen Star operiert werden muss, die Klinik aber nicht über eine dafür notwendige Flüssigkeit verfügt. Auf dem Schwarzmarkt werde sie für 200 Dollar verkauft, erzählt sie. "Ich könnte meine Tochter, die in Miami lebt, bitten, mir das Geld zu schicken. Aber ich möchte nicht, dass sie den Eindruck bekommt, wir könnten unsere Probleme nicht selbst lösen. Dafür haben wir die Revolution nicht gemacht!". Zwei Tage später treffen wir sie wieder. Sie hat eine Bekannte getroffen, die ihr über Beziehungen das Medikament besorgen konnte. Ohne dafür Geld zu nehmen. Sie ist zufrieden, fügt aber hinzu, dass das Verbrechen, Medikamente zu verknappen und dann auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, eigentlich hart bestraft werden sollte.

Am nächsten Tag erleben wir die Ankunft der Caravana in Camagüey. Jedes Jahr fahren junge Leute auf Militärlastern die Route nach, die einst Fidel und Genossen aus dem Osten Richtung Havanna nahmen. So wie damals in jeder Provinzstadt gestoppt und Reden gehalten wurden, geschieht das heutzutage auch. Auf dem Platz vor dem Balkon, von dem Fidel einst sprach, sind Klappstühle aufgestellt. Es gibt Musik und eine Tanzdarbietung. Die einzige Rede des Abends kommt von der Vorsitzenden des Kommunistischen Jugendverbands in der Provinz Camagüey. Die Ansprache erinnert die Anwesenden an den historischen Umbruch, den die Revolution den Kubanerinnen und Kubanern brachte. Und dann ein Satz, der mich elektrisiert: "Und weil die kubanische Jugend nicht vergessen hat, was diese Revolution für uns getan hat, kämpfen wir heute dafür, sie zu erhalten und dafür zu sorgen, dass in diesem Land die Reichen nicht immer reicher und die Armen nicht immer ärmer werden." Ich schaue zu einer jungen Frau direkt neben mir. Sie hat die Faust in den Himmel gereckt. Kuba im Klassenkampf.

An unserem letzten Tag in Camagüey werden die Pläne der Regierung bekannt, die Energiepreise deutlich anzuheben. Um uns herum herrschen Empörung, Wut und Unverständnis. Man erklärt mir, dass die Schwarzmarktpreise sich an den staatlichen Preisen orientieren. Auch wenn der Wirtschaftsminister es offensichtlich nicht vorherzusehen vermöge, werde sich diese Preiserhöhung negativ auf den Lebensstandard der großen Menge der Bevölkerung auswirken. Meine Freunde stöhnen. Morgen werden sie in den Sozialen Netzwerken gegen einen gewaltigen Shitstorm arbeiten müssen. Einige Tage später wird der Wirtschaftsminister Alejandro Gil Fernández nicht nur dieses Amtes, sondern auch seiner Funktion als Vizeministerpräsident enthoben.

Die letzte Station unserer Reise ist Bayamo am Fuße der Sierra Maestra. Dort haben wir die angenehme Aufgabe, dem ICAP eine Geldspende zu übergeben. Der Vorsitzende hält eine Dankesrede. Peinlich genug, das Geld ist ja noch nicht einmal von uns gesammelt, wir übergeben es doch nur im Auftrag. Er spricht von der internationalen Solidarität, von der Freundschaft zwischen den Völkern und von der Bedeutung, die unser Kampf in Deutschland gegen die Blockade hat. Er erklärt, dass die US-Blockade gegen Kuba eine feindselige Umgebung schaffe, die es der Revolution schwermache, ihren Sozialismus so zu entwickeln, wie die Kubanerinnen und Kubaner sich dies wünschen. "Stimmt, die Blockade", denke ich bei mir, "wenn man nur mehr Ideen hätte, wie ihr an den Kragen zu gehen ist." Die Rede endet mit: "Es lebe die Revolution!" Ich wähne mich wieder in dem Kuba, wie ich es vorzufinden erwartet habe und wie es mich glücklich macht. Und doch ist da etwas komisch. So viele Dinge, die mir in den letzten Wochen aufgefallen sind, die Kuba besser machen könnte. Und zugleich so wenige Ideen, was wir gegen die Blockade tun könnten. Ist es das, was ich sein will, ein nostalgischer Besucher, der sich an den Kubanern erfreut, wenn sie seinen Erwartungen entsprechen?

Ich denke an die nicht vorhandenen Medikamente, an die jungen Kubaner, die anlässlich ausfallender Busverbindungen den Kompass verlieren und nach Norden ziehen. Und an die Faust im Nachthimmel von Camagüey.

Es ist gut, nach Kuba zu fahren. Aber es reicht nicht.

Unblock Cuba!

CUBA LIBRE Tobias Kriele

CUBA LIBRE 2-2024