Diskussion
Regelmäßig veröffentlichen wir in Cuba Libre Beiträge zur Diskussion um die sozio-ökonomischen Reformen auf Kuba. Die Lektüre dieser Texte kann für das deutschsprachige Publikum manchmal überraschend, manchmal sogar irritierend sein. In jedem Fall können wir feststellen, dass wir von dem, was derzeit in Kuba geschieht, verhältnismäßig wenig mitbekommen.
In dieser Ausgabe bringen wir einen Artikel von Javier Gómez Sánchez. Der Autor ist ein kubanischer Film- und Fernsehregisseur und Dekan der Medienfakultät der Kunsthochschule Instituto Superior de Arte in Havanna. Dieser Text erschien am 9. Januar 2024 in spanischer Sprache auf: https://telegra.ph/Como-son-las-cosas-cuando-son-del-Alma-Balance-01-09.
Wir konnten als Redaktion der Cuba Libre nicht sämtliche im Artikel gemachten Aussagen nachprüfen.
Dennoch möchten wir abbilden, dass die Maßnahmen zur Zulassung privatwirtschaftlicher Elemente der letzten Jahre auf der Insel von intensiven und heftigen Debatten begleitet werden. Auch das gehört zu einer Bewertung der Veränderungen innerhalb der Kubanischen Revolution dazu.
Objektiv und realistisch betrachtet war 2023 ein katastrophales Jahr. Ein Jahr, in dem unser Land zwar in einigen Artikeln von "Think Tanks" als strategische Priorität für die neue multipolare Welt auftaucht. In der Realität spiegelt sich dies aber nicht wider, weil weltweit wichtigere Schicksale als das unsere auf dem Spiel stehen oder Kuba nur ein kleines Rad in einem großen globalen Machtspiel ist.
Mit Blick auf die "Festgefahrenheit" der Verhältnisse in Bezug auf unsere Insel, zerbrechen sich einige Leute den Kopf darüber, warum die Vereinigten Staaten ihre Politik uns gegenüber nicht einfach geändert haben, warum Biden keine Änderungen in der US-Kubapolitik beschließt, wenn er sich doch bereits im letzten Amtsjahr vor der Neuwahl befindet und die Stimme Floridas doch entscheidend ist und so weiter. Die Antwort darauf ist, wie fast immer in der Analyse und in der Logik, die Einfachste: Die Vereinigten Staaten haben uns da, wo sie uns haben wollen – warum sollten sie etwas ändern?
Eine stagnierende Wirtschaft, strategische Projekte in einer noch im Entstehen begriffenen multipolaren Welt, ein interner Sektor, der, ob gewollt oder ungewollt, weiterhin den Kompass auf den Norden ausgerichtet hat; gesellschaftliche Probleme und ein "bröckelndes" Bild der Revolution, welches den Slogan des 65-jährigen Jubiläums, "Das ist die Revolution", potentiell zur Farce werden lässt.
Aber allein die Tatsache, dass Kuba noch nicht "kollabiert" ist, dass mit größten Anstrengungen und sogar mit Fehlern die Überlebensfähigkeit des Landes inmitten der globalen Krise erreicht wurde, ist bereits ein Erfolg. Auch wenn dies für einige oder viele kein Trost ist. Die Tatsache, dass einige von der Bevölkerung vorgebrachte Probleme verstanden wurden und dass es Pläne gibt, um sie zu lösen, und dass man - manchmal scheinbar widerwillig - versteht, dass wir einen Teil des Marxismus gelesen haben, der nicht das ist, was wir jetzt brauchen, oder ihn auf eine Art und Weise interpretiert haben, die nicht das ist, was wir jetzt brauchen, ist bereits ein Fortschritt, auch wenn es für die Orthodoxen und Ultralinken nicht genug ist.
Kuba hat durchgehalten, die Revolution hat durchgehalten, der kubanische Sozialismus, auf Basis seiner marxistisch-leninistischen Ideologie und angereichert mit den besten nationalen Idealen, hat Widerstand geleistet. Das ist eine Tatsache.
Fidel konnte im Januar 1959 sagen, dass von nun an alles schwieriger werden könnte, weil es etwas Greifbares war. Nur Menschen, die damals zu dumm waren, hätten etwas anderes denken können. Unsere heutigen Führer könnten das in jeder Rede tun, und dann wären die Kritiker, die sie der Lüge und der falschen Hoffnung bezichtigen, zufrieden. Aber eine politische Rede ist viel mehr als das, sie bedeutet viel mehr als das, sie muss gut vorbereitet sein, mit einem klaren Ziel, welches das Risiko eines Missverständnisses minimiert. So dass ihr einziger Fehler von den unversöhnlichen Feinden, den öffentlichen und den versteckten, gesehen werden kann.
Es gibt keine Formeln für ein besseres Jahr 2024. Lösungen habe ich allerdings nicht, das muss ich nicht erwähnen, aber einige wohlüberlegte Wünsche könnte ich vielleicht vorschlagen.
Erstens: Vergessen wir die Vereinigten Staaten und alles, was von dort kommt, insbesondere die reiche kubanisch-amerikanische Gemeinschaft, die wirtschaftliche Interessen hat und in die Politik involviert ist. Zu verstehen, dass die Blockade nicht die Politik einer Partei oder einer Regierung ist und auch nicht, dass sie mit der Mafia von Miami zustande gekommen ist, wäre für unsere Analysten unerlässlich, unabhängig von ihrer Institution. Die Blockade wurde unterzeichnet und institutionalisiert, weil der Kapitalismus nicht zulassen konnte, dass ein Sozialismus in der Dritten Welt möglich ist, noch dazu in einer De-facto-Kolonie wie Kuba. Sie werden die Blockade nicht aufheben, sie werden keine regulären Flüge zur Normalität werden lassen, keine jahrelangen stabilen Reisen von Kreuzfahrtschiffen, die mit Touristen beladen sind, keine Hunderte von Millionären auf hypothetischen und profitablen Golfplätzen. Sie haben dies nur getan, um uns dort hinzubringen, wo sie uns haben wollen, und uns dann im Regen stehen zu lassen. Denn sie können nicht zulassen, dass eine sozialistische Wirtschaft, selbst wenn sie nach chinesischem Stil funktionieren würde, in Kuba erfolgreich ist. Punktum.
Zweitens: Beenden wir den "Fluch" von Máximo Gómez und hören auf, uns bei dem selbst zu überholen, was wir besser hinter uns lassen sollten, und das hinter uns zu lassen, in dem wir uns selbst überholen sollten. Zum Beispiel sind seit 1994 mehr als 80 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion in Kuba in den Händen des Privatsektors, und wir haben kein Essen! Wie lange wird die Lösung dafür darin bestehen, die Rolle des Privatsektors weiter auszuweiten? Wir sollten andere Varianten ausprobieren.
Drittens bewegt sich die gesamte Welt auf ein multipolares Universum zu. Die BRICS-Staaten werden in diesem Jahr aufhören, den Dollar als Währung für Handelsgeschäfte zu verwenden, alle afrikanischen und asiatischen Länder und sogar einige lateinamerikanische Länder (die, die am wenigsten von den USA abhängig sind), die über ein gewisses wirtschaftliches Potenzial verfügen, bewegen sich auf eine gemeinsame, vielfältige Wirtschaft zu, die ihre eigenen Kapazitäten für die Entwicklung (nicht der Abnahme und der Abhängigkeit) und weg von den Vereinigten Staaten und Europa schafft. Diese beiden hegemonialen Pole befinden sich aufgrund eines Krieges in der Ukraine und eines möglichen Krieges in Taiwan auf dem Rückzug. Ihre Wirtschaft schrumpft und wird aufgrund der Energiekosten teurer, weshalb auch ihre Produkte teurer werden. Ihre Interessen werden in Zukunft keiner Wirtschaft eines sich entwickelnden Landes gerecht werden, am wenigsten der kubanischen, deren Politik und Regierungsideologie sie hassen.
Viertens: China hat gerade ein Gesetz zur politischen Bildung verabschiedet, Russland propagiert alles, was für den Ruhm dieser Nation steht, und das schließt die Glorifizierung des Großen Vaterländischen Krieges und die Errungenschaften der UdSSR ein. Und wir? Wir debattieren über eine integrative oder politisch respektvolle Sprache und Förderungen, die die Revolution und unser sozialistisches Projekt bereits in ihren Grundlagen eingeschrieben haben? Wir sollten in unserem Reden und Handeln etwas weniger selbstgefällig sein. Vielleicht würde uns ein wenig Fehlverhalten, ein wenig weniger Diplomatie nach den Maßstäben der so genannten westlichen Welt, besser stehen.
Fünftens hat Raúl in seiner Rede die Lösung für viele unserer Probleme aufgezeigt: Wer eine Führungsposition innehat und nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zu erfüllen, sollte zurücktreten. In der Fähigkeit unserer Kader liegen die meisten unserer Lösungen, denn wir haben Fidel nicht mehr und es ist sehr schwierig, auf seiner Höhe zu agieren.
Die Effizienz unseres sozialistischen Staatsunternehmens und unserer gesamten Wirtschaft hängt nach Che und Fidel von revolutionären Kadern ab – nicht davon, dass wir bessere Geschäftsleute haben. Die Erziehung unserer jungen Menschen, damit sie einer Zukunft in Kuba den Vorrang geben, hängt in erster Linie davon ab, dass wir ihnen die Liebe zu Kuba innerhalb Kubas einflößen, nicht die nostalgische Liebe von außerhalb Kubas. Wenn wir ein engagiertes, ehrliches, bescheidenes und fleißiges Volk wollen, muss jeder, der eine Vorbildfunktion hat, jeder, der ein öffentliches Amt bekleidet, jeder, der eine Führungspersönlichkeit oder eine gesellschaftliche Figur ist, auch eine solche sein; wenn wir Politiker und Entscheidungsträger auf allen Ebenen wollen, die den Sozialismus stärken, müssen sie zuerst den Sozialismus, den Marxismus-Leninismus und die sozialistische politische Ökonomie wirklich verstehen, und dann wären wir vielleicht kohärenter und könnten besser planen.
Das und andere Dinge könnten 2024 meiner Meinung nach zu einem besseren Jahr für Kuba machen, aber auch, wenn das nicht der Fall ist, und wir auch im Januar 2025 noch immer hier sind und Widerstand leisten, wäre das für mich in Ordnung.
Der Kommunismus ist eine ebenso hypothetische wie notwendige Gesellschaft, aber jeder wahre Kommunist muss sich darüber im Klaren sein, dass ihr Aufbau ein Abenteuer ist, ein sehr weit entfernter Traum, an dem man aber nicht aufhören darf, zu arbeiten. Das hat Lenin gesagt, und ich glaube ihm.
Übersetzt und redaktionell leicht gekürzt von Tobias Kriele
Alejandro Sanchez
CUBA LIBRE 2-2024