Schöne Atmosphäre, gute Ergebnisse - aber wohin geht´s?

Panamerikanische Spiele Santiago de Chile-2023

Fast war es wie in alten Zeiten. Als wir 1994 zum ersten Mal nach Kuba kamen, befand sich das Land nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa nicht nur in der sogenannten Spezialperiode, sondern – so seltsam unpassend zum allgemeinen Elend – sportlich auf dem Höhepunkt. Es war noch nicht lange her, dass man die Panamerikanischen Spiele von Havanna 1991 nach Nationen gewonnen hatte – d. h. vor den Vereinigten Staaten. Ein Jahr später war Kuba bei den Olympischen Spielen von Barcelona-1992 Fünftplatzierter im Medaillenspiegel geworden. Der Himmel schien die Grenze, und das inmitten eines Alltags, in dem die Leute oft nicht wussten, wie sie anderen Tags die Familie ernähren sollten. Derzeit mag sich die Lage nicht ganz so dramatisch darstellen, aber äußerst schwierig sind diese Zeiten auch. Und einmal mehr gibt der Sport Anlass zur Freude. Einziger signifikanter Unterschied: der Baseball! Kubas Nationalsport schlechthin, in dem früher internationale Turniere zur Not bei örtlicher Betäubung oder im Halbschlaf gewonnen wurden, verbreitet heute Tristesse.

Aber sonst war alles eitel Sonnenschein, auch wenn die Sache etwas zähflüssig anlief. Das erste Mal ertönte die kubanische Hymne beim Gewichtheben, das zweite Mal für Leuris Pupo, den Schnellfeuerpistolenschützen und Olympiasieger von London 2012, das dritte Mal beim Rudern. Diesmal gewann nicht der ruhmreiche "Deutschland-Achter", sondern der Achter aus Kuba. Wenn wir beim Wasser als Element bleiben, so kamen eine Woche später noch zwei Goldene im Kanusport hinzu, eine davon durch die 21jährige Yarisleidys Cirilo, die es unter einen Hut bringt, in ihren jungen Jahren nun schon zum zweiten Mal Weltmeisterin des 200-m-Sprints im Einer-Kanadier und gleichzeitig Abgeordnete in der Nationalversammlung zu sein.

Panamerikanische Spiele 2023 Hoch erfreulich waren zwei Titel, mit denen man wirklich nicht gerechnet hatte: die des gemischten Doppels und des Männerdoppels im Tischtennis. In beiden Fällen war das klar favorisierte Brasilien der Finalgegner, dessen prominentester Vertreter immerhin die Nr. vier der Weltrangliste ist. Dennoch war Brasilien im ersteren Fall mit einem kaum zu glaubenden 0:4 und im letzteren mit einem 2:4 gegen Kuba unterlegen.

Das Boxen ließ Befürchtungen aufkommen. Julio César la Cruz (91 kg) und Arlen López (81 kg) "lieferten", wie man in Kuba sagt. Aber zwei Titel? Nur zwei? Da hatte man ja bei den viel schwerer besetzten Olympischen Spielen und WMs schon mehr geholt!

Eine Art Erweckungserlebnis war das Judo. Fünf Goldmedaillen in den Einzeldisziplinen waren aller Ehren wert. Aber der Teamwettbewerb stand ja noch aus, und da hatte Kubas Finalgegner Brasilien in den letzten Auseinandersetzungen zwischen den beiden immer das bessere Ende für sich gehabt. Drei weibliche Judoka der Insel waren nicht lange vor den Panamerikanischen Spielen buchstäblich "von der Fahne gegangen" (mitsamt ihren jeweiligen Gewichtsklassen), und das gemischte kubanische Rest-Team begann einen jeden seiner vier Länderkämpfe mit einem 0:1 Rückstand. Auf den Schultern von drei Männern und zwei Frauen ruhte die Last der Verantwortung, dieses Dauerhandicap auszugleichen. Die hochdekorierte Idalys Ortíz verlor überraschend ihren Finalkampf und so stand Kuba bei 2:3 Punkten mit dem Rücken zur Wand. Andy Granda, der +100-Kilo-Mann, dessen Gegner theoretisch auch fünf Zentner wiegen darf, hatte es mit einem Riesen zu tun, der vom optischen Erscheinungsbild her nicht weit darunter liegen konnte. Andy schaffte es, dass sein Kontrahent mit drei Passivitätsverwarnungen aus dem Kampf genommen wurde und damit stand es 3:3 unentschieden. Ein weiterer Kampf war erforderlich, genauer gesagt: nochmal der gleiche! Nach einer – kurzen! – Regenerationspause wurden beide Judoka wieder auf die Matte gerufen. Hier machte sich die bessere Kondition des Kubaners bezahlt. Sein 50kg schwererer Rivale ermüdete von Minute zu Minute sichtlich immer mehr und der Gladiatorenkampf endete mit Kubas sechstem Titel in dieser Sportart.

Apropos Judo: Wenn der Jubel über sportliche Erfolge in Kuba am größten ist, kommt es gar nicht so selten zu einem Phänomen, das ich in Ermangelung eines besseren Begriffes Maximalismus-Manie nenne. So auch in diesem Fall. Kuba hat sechs Goldmedaillen im Judo gewonnen. Die Gemeinschaft der Fernsehsport guckenden Couch Potatoes ist happy. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen. Dann passiert Folgendes: Irgendein Schlaumeier von der Statistik findet heraus, dass kubanische Judoka seit Anbeginn der Spiele bereits 70 Goldmedaillen gesammelt haben. Zwar über Jahrzehnte hinweg, aber 70! Diese bahnbrechende Nachricht muss nun unters Volk gebracht werden. Die Sportreporter von Tele Rebelde gehen damit – je öfter, je lieber – ebenso hausieren wie die arme Iris de la Cruz Saborit, Sonderkorrespondentin der Granma in Santiago de Chile. Und? Interessiert das irgendwen? Die Konsumenten dieser News gewiss nicht, allenfalls deren Verbreiter. Was bei der Politik in Kuba so gut funktioniert, nämlich die Einbettung von Ereignissen des Hier und Jetzt in einen großen historischen Kontext, ist im Sport weitgehend wirkungslos. An Edelmetall erfreuen will man sich zu konkreten Zeiten in konkreten Räumen. Es muss einfach greifbar sein. Das soll beileibe nicht heißen, dass den jubelnden Fans die Meriten aus der Vergangenheit egal wären. Natürlich sind sie das nicht. Nur spielen sie halt in solchen Momenten keine Rolle. Überhaupt keine.

Übertroffen wurde Kubas Ausbeute im Judo noch von der im Ringen. Acht Titel wurden hier gewonnen. Dabei sind die Sieger aus der Modalität des klassischen Griechisch-Römisch- Ringen vielen bekannt: Gregorich, Rosillo, Orta, Pino. Was das Freistilringen angeht, in dem die Größte der Antillen bislang merklich weniger erfolgreich war, sind die Namen der Cracks (darunter zwei Frauen) noch gewöhnungsbedürftig.

Hier ist ein Einschub angebracht: 16 der insgesamt 30 Goldmedaillen, die Kuba schließlich auf der Habenseite hatte, wurden in Kampfsportarten geholt. Das ist knapp über die Hälfte, aber was viel erscheinen mag, ist in Wahrheit eher wenig, denn der Wert lag anteilig schon mal nahe 90 % - was den Eindruck erwecken mochte: Kubaner können nur kämpfen. Etwas anderes haben sie im Sport nicht drauf.

kubanische Sportler
Die kubanischen Sportler waren sehr erfolgreich. Foto: Endrys Correa Vaillant

Das Überding bei den Panamerikanischen Spielen von Santiago war aber die Leichtathletik. Bevor ich einige Wermuthstropfen in das totale Glück träufeln muss, seien wir erst einmal glücklich! Silber und Bronze von Parada und Vidal im Weitsprung der Männer – erfreulich, aber auch erwartet. Die "Königssportart" Leichtathletik, die sich über eine ganze Woche hinzog, begann erst so richtig mit Yunileidy Garcías Sieg im 100-m-Lauf der Frauen. Miguel Díaz-Canel schrieb in seinem Glückwunsch-Tweet, dass zu dem Zeitpunkt, da so Unerhörtes zum letzten Mal geschah, die SprintsieManie nenne. So auch in diesem Fall. Kuba hat sechs Goldmedaillen im Judo gewonnen. Die Gemeinschaft der Fernsehsport guckenden Couch Potatoes ist happy. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen. Dann passiert Folgendes: Irgendein Schlaumeier von der Statistik findet heraus, dass kubanische Judoka seit Anbeginn der Spiele bereits 70 Goldmedaillen gesammelt haben. Zwar über Jahrzehnte hinweg, aber 70! Diese bahnbrechende Nachricht muss nun unters Volk gebracht werden. Die Sportreporter von Tele Rebelde gehen damit – je öfter, je lieber – ebenso hausieren wie die arme Iris de la Cruz Saborit, Sonderkorrespondentin der Granma in Santiago de Chile. Und? Interessiert das irgendwen?

Die Konsumenten dieser News gewiss nicht, allenfalls deren Verbreiter. Was bei der Politik in Kuba so gut funktioniert, nämlich die Einbettung von Ereignissen des Hier und Jetzt in einen großen historischen Kontext, ist im Sport weitgehend wirkungslos. An Edelmetall erfreuen will man sich zu konkreten Zeiten in konkreten Räumen. Es muss einfach greifbar sein. Das soll beileibe nicht heißen, dass den jubelnden Fans die Meriten aus der Vergangenheit egal wären. Natürlich sind sie das nicht. Nur spielen sie halt in solchen Momenten keine Rolle. Überhaupt keine. Übertroffen wurde Kubas Ausbeute im Judo noch von der im Ringen. Acht Titel wurden hier gewonnen. Dabei sind die Sieger aus der Modalität des klassischen Griechisch-Römisch- Ringen vielen bekannt: Gregorich, Rosillo, Orta, Pino. Was das Freistilringen angeht, in dem die Größte der Antillen bislang merklich weniger erfolgreich war, sind die Namen der Cracks (darunter zwei Frauen) noch gewöhnungsbedürftig. Hier ist ein Einschub angebracht: 16 der insgesamt 30 Goldmedaillen, die Kuba schließlich auf der Habenseite hatte, wurden in Kampfsportarten geholt. Das ist knapp über die Hälfte, aber was viel erscheinen mag, ist in Wahrheit eher wenig, denn der Wert lag anteilig schon mal nahe 90 % - was den Eindruck erwecken mochte: Kubaner können nur kämpfen. Etwas anderes haben sie im Sport nicht drauf.

Das Überding bei den Panamerikanischen Spielen von Santiago war aber die Leichtathletik. Bevor ich einige Wermuthstropfen in das totale Glück träufeln muss, seien wir erst einmal glücklich! Silber und Bronze von Parada und Vidal im Weitsprung der Männer – erfreulich, aber auch erwartet. Die "Königssportart" Leichtathletik, die sich über eine ganze Woche hinzog, begann erst so richtig mit Yunileidy Garcías Sieg im 100-m-Lauf der Frauen. Miguel Díaz-Canel schrieb in seinem Glückwunsch-Tweet, dass zu dem Zeitpunkt, da so Unerhörtes zum letzten Mal geschah, die Sprintsiegerin von Santiago 2023 noch lange nicht geboren war. Und in der Tat stehen ihren 23 Lebensjahren 32 Jahre kubanischer Abwesenheit von höchsten Punkt des Podiums in dieser Disziplin gegenüber. "Ich bin völlig durch den Wind. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", meinte sie im Interview. Aus diesem ihrem Staunen wird sie gar nicht mehr herausgekommen sein, denn wenig später holte sie Silber über die 200 Meter und am letzten Wochenende der "Panamericanos" krönte sie ihren Auftritt als Schlussläuferin der siegreichen 4x100-m-Staffel, die seit sage und schreibe 56 Jahren nicht mehr gewonnen hatte.

A star is born? Nein, nicht wirklich. Seit einem halben Jahr schon ist sie nationale Rekordhalterin über die 100 m in respektablen 11,08 Sekunden, und so schnell musste sie auf der nach einhelliger Meinung langsamen Bahn von Santiago gar nicht rennen, um sich zur klaren Siegerin zu küren. Weitere Erfolge auf der kurzen Strecke: die 4x100-m-Staffel der Männer mit Silber und ebenfalls ein zweiter Platz für Greisys Roble über 100-Meter-Hürden, gerade mal drei Hundertstel hinter der hohen Favoritin. Wäre die Strecke nur fünf Meter länger gewesen, hätte sie im Ziel die Nase vorn gehabt. "Ich muss meinen Start verbessern", sagte sie später, "das hat Priorität im Hinblick auf das nächste Jahr."

Im Dreisprung der Frauen gab es Gold und Silber für Kuba durch Leanys Pérez und Liadagmis Povea. Nicht überraschend nach dem Ausfall der Ausnahmespringerin Yulimar Rojas aus Venezuela. Gold und Bronze im Dreisprung der Männer durch Lazaro Martínez und Cristian Napoles – auch dies durfte man zumindest erhoffen. Die Wiederholung des Hochsprung-Golds der Panamerikanischen Spiele von Lima vor vier Jahren durch Luis Enrique Záyas war dagegen eine eher knifflige Angelegenheit. Am Ende gelang das Unternehmen, nicht zuletzt wegen Záyas' Nervenstärke: 2,27 Meter im letzten Versuch.

Sehr schön, weil nicht erwartet, auch der Erfolg der Mädchen in der 4x400-m-Staffel, u. a. mit Sahily Diago und Rosemary Almanza, die eigentlich 800-Meter-Läuferinnen sind. Über diese Strecke holte sich dann Sahily ihre zweite Goldmedaille, während Rosemary Dritte wurde. Auf der kurzen Mittelstrecke (800 m) haben Kubas Leichtathletinnen ja durchaus Tradition: Man denke an die legendäre Ana Fidelia Quirot, und auch Zulia Calatayut war Weltmeisterin über die zwei Stadionrunden. Die 1500 m jedoch waren noch nie eine Strecke für uns Insulaner. Wahrscheinlich ist sie uns einfach zu lang. Dieser Umstand war der Kubanerin Daily Cooper offenbar nicht bekannt, denn sie gewann zur Verblüffung aller hier die Silbermedaille.

Ja, die Leichtathletik der Panamerikanischen Spiele in Santiago de Chile war aus kubanischer Sicht stellenweise schon ein Stück aus dem Tollhaus. Natürlich ein sehr positives – etwas, das ungeachtet der vielen, klar ersichtlich frierenden Menschen im Stadion das Herz erwärmte.

Aber man darf, ja, man muss – namentlich bei den Sprintstrecken – die Frage stellen: Was ist aus den Superstars geworden? Denen aus den USA? Aus Jamaika? Wo sind die geblieben? Oder, um es hart auf den Punkt zu bringen: Welche Chance hätte z. B. Kubas umjubelte Yunileidy García gegen eine Shelley-Ann Frazer gehabt? Falls diese denn erschienen wäre? Welch ein dürftiges Bild im Vergleich zu dem vor erst vier Jahren bei den Panamerikanischen in Lima, ganz zu schweigen von denen in Toronto vor acht Jahren – mit einer völlig anderen Dichte an sportlicher Prominenz, die sich von der bei Weltmeisterschaften gewohnten nicht nennenswert unterschied!

Gewiss fanden im Stadion auch die Vereinigten Staaten von Amerika statt. Die meisten ihrer Vertreter kannte bloß kaum einer. Zweite Garde. Nachwuchsleute. Das Angenehme daran: Keine merklichen Allüren. Jeder ging mit jedem nett und freundlich um – mit dem sehr beifallfreudigen Publikum sowieso. Das Bedenkliche daran: Wenn Spitzenathleten keinen rechten Bock mehr auf die Panamerikanischen Spiele haben, entweder weil die nicht ins Vorbereitungskonzept für die Olympischen passen oder weil es auf parallelen Meetings, deren Veranstalter Antrittsgelder zahlen und fette Siegprämien ausschütten, es also was zu verdienen gibt, dann läuft dieser amerikanische Event eher über kurz als über lang Gefahr, zu einem "besseren Sportfest" zu degenerieren. Daran wiederum könnte sich unmittelbar die Überlegung anschließen, ob der Norden nicht vielleicht besser sein Ding machen sollte und wir auf dem "Subkontinent" unser eigenes. Das ist nicht meine Idee, ich greife sie nur auf und stelle sie als Frage in den Raum. Einen anderen Anspruch kann sie eh' nicht haben. Sportler, die ein Ereignis ernst nehmen, erwarten gewiss auch von all den anderen Teilnehmern, dass sie dies tun. Wer weiß, möglicherweise kriegen wir irgendwann "Spiele Unseres Amerika" hin, bei denen dann Brasilien, das man im Sport mit Fug und Recht als Tigerstaat bezeichnen kann, ähnlich schnell enteilen wird wie jetzt noch die USA und das dann die knapp vierzig übrigen Länder wie einen Adler seine Kreise ziehen lassen werden, derweil Kuba und Mexiko sich – in aller Freundschaft, natürlich – um den zweiten Platz "kloppen". Und? Was spräche dagegen?

CUBA LIBRE
Ulli Fausten

CUBA LIBRE 1-2024