Am 11. September 1973 beendete ein blutiger Staatsstreich die legitime Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und die damit verbundenen Hoffnungen.
Die letzten Stunden Salvador Allendes mit einigen Getreuen im Präsidentenpalast Moneda |
Allende hatte seine politische Strategie auf einer parlamentarischdemokratischen Umgestaltung der Gesellschaft aufgebaut. Das kam im Wahlprogramm seiner Parteienkoalition "Unidad Popular" zum Ausdruck: "Wir erleben den Moment, in dem durch den Willen der Mehrheit die Parteien und Bewegungen an die Macht kommen, die als Sprecher der abgelehntesten Gruppen auftreten. Wenn wir einen Augenblick verweilen, um nachzudenken und Rückschau auf unsere Geschichte zu halten, können wir Chilenen stolz darauf sein, den politischen Weg über die Gewalt gesetzt zu haben. Das ist eine noble Tradition und eine unvergängliche Errungenschaft."
Salvador Allende
Er wurde am 26.6.1908 in eine wohlhabende bürgerliche Familie hinein geboren, die auf eine lange Tradition sozialen Engagements zurückblickte. Nach seinem Militärdienst studierte er Medizin in Santiago. Früh war er in politische Aktivitäten involviert. Bei der Beerdigung seines Vaters im Jahr 1932 machte er das Versprechen, sein Leben dem sozialen Kampf und der Freiheit Chiles zu widmen. Er wurde mehrfach verhaftet, saß im Gefängnis und wurde exiliert. 1937 wurde er Abgeordneter im Unterhaus des Kongresses. Er war beliebt bei den Menschen wegen seiner Prinzipienfestigkeit und Ehrlichkeit. Zwei Jahre später übernahm er im Kabinett von Präsident Aguirre Cerda das Amt des Gesundheitsministers. Er brachte den Mutterschutz voran und setzte kostenloses Mittagessen für arme Kinder durch. Er schaffte die gesetzlichen Grundlagen für das nationale Gesundheitswesen. 1958 kandidierte er selbst für das Präsidentenamt und verlor nur knapp. 1967 nahm er sich an der Grenze zu Bolivien fünf überlebenden Mitstreitern Che Guevaras an, die sich durchgeschlagen hatten und organisierte für die drei Kubaner unter ihnen die sichere Rückkehr in ihre Heimat. 1970 gewann er die Präsidentschaftswahlen.
Chile unter der Regierung Allende
Seiner Volksfrontkoalition gehörten neben der Sozialistischen Partei noch die Kommunistische Partei Chiles an sowie einige kleinere linksbürgerliche bzw. christlich orientierte Parteien. Die Unidad Popular trat mit einem radikalen Reformprogramm an und sah ihren Wahlsieg als den Anfang des Prozesses des Übergangs zum Sozialismus an – auch wenn z. B. die Frage der Koexistenz eines privaten und eines öffentlichen Sektors der Wirtschaft unklar blieb. Im Programm wurde es so formuliert: " Die vereinigten Volkskräfte sehen das wichtigste Ziel darin, die gegenwärtige Wirtschaftsstruktur durch eine neue zu ersetzen und die Macht des in- und ausländischen Monopolkapitals und des Grundbesitzes zu beenden, um mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen." Die Regierung ging sofort daran, versprochene Maßnahmen umzusetzen, die bei großen Teilen der Bevölkerung sehr populär waren. Jedes Kind erhielt täglich einen halben Liter Milch und soziale Leistungen wurden angehoben und ausgebaut. Zugleich wurden die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien wie der Textil,- Eisen-, Automobil- und der Kupferindustrie sowie eine Landreform in Angriff genommen. In der ersten Hälfte des Jahres konnte die Inflationsrate auf 7,5% reduziert werden im Vergleich zur ersten Hälfte des Vorjahres, als sie bis auf 22% angestiegen war. Das Wirtschaftswachstum erreichte 8,5%, ein höherer Zuwachs als in den vorangegangenen zehn Jahren. Es wurde ein erfolgreiches erstes Jahr. Doch der Widerstand formierte sich. Bürgerliche Sektoren sahen ihre Pfründe gefährdet und lehnten die Reformen ab. Auf dem Lande stießen die Veränderungen auf die Sabotage der landwirtschaftlichen Produktion durch die Agrarbourgeoisie. Die herrschende Klasse in den Städten, welche die Verteilung der Waren kontrollierte, begann zu horten und einen Schwarzmarkt zu schaffen. Hohe Preissteigerungen und Inflationsraten waren die Folge: Der Anstieg der Verbraucherpreise zeigt die dramatische Entwicklung, der Index stieg von Januar 71 bis Januar 72 um 24,8 Prozentpunkte, von Juli 72 bis Juli 73 sogar um 323,2 Prozentpunkte. Unterstützung erhielt die Bourgeoisie von außen: Sämtliche Wirtschaftshilfe und Kredite wurden den Chilenen gestrichen und es begann ein de facto Boykott durch das nordamerikanische Kapital. Sinkende Preise für Chiles Hauptexportgut Kupfer führten 1971 und 1972 zu einem Verlust von 400 Millionen US-Dollar.
Salvador Allende, 1972 |
Frühere Regierungen hatten eine gewaltige Staatsverschuldung hinterlassen. So musste ein Drittel der Staatseinnahmen für die Schuldentilgung eingesetzt werden. Darüber hinaus kontrollierte ausländisches Kapital 1970 fast alle wichtigen Wirtschaftssektoren wie z. B. Eisen, Stahl und Metallprodukte. Zusätzlich kontrollierten US-Firmen 80% der Kupferförderung. Die Verstaatlichungen änderten nichts an der Tatsache, dass die Wirtschaft extrem abhängig war von Krediten und Ersatzausrüstungen, welche bald ausblieben. So zog sich die Schlinge zu. Bereits kurz nach dem Regierungsantritt der UP wurde bei einem Treffen zwischen US-Präsident Nixon, Außenminister Kissinger und CIA-Direktor Helms eine Abfolge von Schritten erörtert, wie die chilenische Wirtschaft zu zerrütten sei. Die Notizen von Helms gipfelten in dem Satz, "... die Wirtschaft zum Schreien zu bringen."
Die außerparlamentarische Linke
Die Frage, ob ein friedlicher Weg zum Sozialismus überhaupt möglich sei, wurde heftig debattiert. Die 1965 gegründete Bewegung der Revolutionären Linken (MIR), die durch das Beispiel der kubanischen Revolution inspiriert wurde, verneinte dies. Nur durch den Umsturz der bürgerlichen Herrschaft und die Zerstörung ihres staatlichen und repressiven Apparates könne ein sozialistisches Programm umgesetzt werden. Dennoch gab es regelmäßige Kontakte zwischen Allende und den Miristen. Die MIR, die vor dem Wahlsieg der UP teilweise im Untergrund gearbeitet hatte, stellte ihre illegalen Aktivitäten ein, nachdem Allende bei einem Treffen erklärt hatte, dass diese seiner Wahlkampagne schaden würden. Miristen, gegen die von staatlicher Seite ermittelt wurde, wurden amnestiert. Ihr junger Führer Miguel Enríquez war Arzt wie Allende und beide hatten ein respektvolles Verhältnis. Allende hätte Enríquez nach dem Wahlsieg gerne als Gesundheitsminister in sein Kabinett aufgenommen. Doch die Miristen, zu deren Führungskreis auch Pascal Allende, ein Neffe des Präsidenten, gehörte, wollten sich nicht vereinnahmen lassen und für eine Politik Verantwortung tragen, von deren Scheitern sie ausgingen. Sie versprachen, Allende nicht öffentlich zu kritisieren, ohne vorher mit ihm über ihre Kritik geredet zu haben. Für einige Zeit stellten Aktive der MIR die persönliche Leibwache des Präsidenten. Auf die Frage eines Reporters, wer diese Leute seien, antwortete Allende: "Eine Gruppe persönlicher Freunde." Die Kontakte zwischen beiden Seiten liefen über Allendes Tochter Beatriz "Tati" Allende, die eng an seiner Seite im Regierungspalast arbeitete und mit den Revolutionären sympathisierte.
Kuba und das Chile der Unidad Popular
Schon im Programm der UP wurde auf Kuba als "Avantgarde von Revolution und Aufbau des Sozialismus in Lateinamerika" Bezug genommen. Am 10.11. 1971 traf Fidel Castro zu einem längeren Besuch in Chile ein. Er erlebte die Begeisterung und Zuneigung der arbeitenden Bevölkerung und diskutierte auf Straßen, in Versammlungen und in Fabriken mit den Menschen. Doch mit Beunruhigung nahm er die Manöver und die Sabotage der Opposition zur Kenntnis sowie ihre Stimmungsmache gegen seinen Besuch. Mehrfach brachte er gegenüber Allende seine Bedenken zum Ausdruck, dass diesem sein Konzept eines parlamentarischen und legalen Übergangs zum Sozialismus zum Verhängnis werden könne: "Sie haben das System durch Gewalt aufrechterhalten und sie werden es mit Gewalt verteidigen." Und weiter: "Ich habe keinerlei Zweifel, nicht einmal den geringsten, dass hinter alledem die Hände des Imperialismus stecken." In einer Abschiedsrede für Castro unterstrich Allende seine Position erneut: "Ich werde die Volksregierung verteidigen, denn das Volk hat mich beauftragt. Ich habe keine andere Alternative. Nur indem sie mich mit Kugeln durchsieben, können sie mich davon abhalten, das Programm des Volkes zu erfüllen." Pascal Allende war einer von nur wenigen aus der Führung der MIR, die den Putsch und die Jahre der Diktatur überlebten. Er schrieb später: "In der Stadt wie auf dem Land standen Tausende von Werktätigen bereit, die Waffen zur Verteidigung der Volksregierung in die Hand zu nehmen. Bei verschiedenen Gelegenheiten baten wir den Kommandanten Fidel Castro, uns mit Waffen bei dem Aufbau von Volksmilizen zu unterstützen. Castro antwortete uns jedes Mal, dass er dazu gern bereit sei, wenn der Präsident Allende dies autorisiere – was nie geschah." Zwei Wochen nach dem Militärputsch sagte Fidel auf einer Massenversammlung in Kuba: "Das chilenische Beispiel lehrt uns, dass es unmöglich ist, eine Revolution zu machen nur mit dem Volk: Waffen sind ebenso notwendig. Und dass Waffen allein auch nicht genug sind, eine Revolution zu machen: ebenso notwendig sind die Menschen."
Der Putsch und die Folgen
Am 4. März 1973 gewann die UP die Kongresswahlen mit 43,4% der Stimmen. Das war eine Steigerung um 7 Prozentpunkte gegenüber den Präsidentschaftswahlen von 1970. Das Ergebnis unterstrich einmal mehr die Spaltung der Bevölkerung in zwei gegensätzliche Lager. Das letzte halbe Jahr der Volksregierung wurde bestimmt durch Streiks bürgerlicher und kleinbürgerlicher Sektoren in Handel, Transport, im Bildungswesen und in der Kupferindustrie, welche die wirtschaftliche Lage weiter verschlechterten. Ende Juni scheiterte ein Putsch von Teilen der Streitkräfte am Widerstand loyaler Teile des Militärs. Die Regierung versuchte, der Gegenseite Zugeständnisse zu machen, um die Lage zu kontrollieren: Fabriken, die von Arbeitern besetzt waren, wurden von Polizei und Sicherheitskräften geräumt und an die früheren Besitzer zurückgegeben. Im August bildete Allende ein neues Kabinett, in dem hohe Militärs Ministerposten erhielten. Augusto Pinochet übernahm die Armeeführung. Am 11. September schlug das Militär gegen die Regierung los. Das Regierungsviertel wurde von Panzern eingeschlossen und der Präsidentenpalast von Flugzeugen bombardiert. Präsident Allende befahl seinen Mitarbeitern und Getreuen, sich in Sicherheit zu bringen. Bevor er sich erschoss, sandte er über einen Rundfunksender eine letzte Rede an die Bevölkerung, wobei er u. a. sagte: "Arbeiter meines Landes! Ich will euch danken für die Treue, die ihr immer gezeigt habt; das Vertrauen, das ihr in einen Mann gesetzt habt, der nur der Interpret war des großen Wunsches nach Gerechtigkeit; der sein Wort gab, dass er die Verfassung und das Gesetz respektieren würde, und das genau tat ich. (...) Ich glaube an Chile und seine Bestimmung. Andere Männer werden diesen grauen und bitteren Moment überwinden, wo der Verrat sich zu erheben sucht. Ihr sollt weiterhin wissen, dass sich viel früher als später die großen Straßen öffnen werden, auf denen freie Menschen voranschreiten, um eine bessere Welt zu errichten." In den folgenden Tagen und Wochen wurden tausende von Anhängern der Volksfront ermordet oder verschwanden spurlos, zehntausende durchliefen das Räderwerk von Folter und Erniedrigung. Wer konnte, floh aus dem Land. Diese Ereignisse waren Teil einer weltweiten Strategie, fortschrittliche Bewegungen zu vernichten durch die massenhafte Tötung von Menschen oder zumindest durch ihre politische Neutralisierung. Diese Zusammenhänge wurden schnell klarer: Das kapitalistische System, das zunehmend destruktiver und immer weniger zukunftsfähig agiert, tritt nicht ab, ohne mit monströsen Verbrechen sein Ende hinauszuzögern. Aus der Gruppe der Putschisten trat bald Augusto Pinochet als der starke Mann in den Vordergrund. Der Oberkommandierende der Luftwaffe, Gustavo Leigh, gab später in einem Interview unumwunden zu, dass die Junta kein Konzept zur Verwaltung des Landes hatte: "Kein Programm, keine Pläne, nichts." Einzige Rechtfertigung war die "Rettung" des Vaterlandes vor der "marxistischen Bedrohung." Die Reformen der Allende-Regierung wurden rückgängig gemacht und obwohl die Unterstützung aus dem Ausland wieder einsetzte, befand sich das Land zwei Jahre nach dem Putsch in einer schweren wirtschaftlichen Depression. Die Jahresinflation lag immer noch bei 400%, fast überall gab es rückläufige Produktionsziffern und anwachsendes soziales Elend.
Die Verwüstungen des Neoliberalismus
Währenddessen versuchte eine Gruppe von Ökonomen, die in Chicago mittels der Ideen von Milton Friedman und Friedrich August von Hayek ihr technokratisches Halbwissen erworben hatten, das Mantra des Neoliberalismus, demzufolge "der Markt alles regelt", in der Praxis zu beweisen. Sie hatten freie Hand, da es keine demokratische Kontrolle gab und jeder Widerstand blutig niedergeschlagen wurde. Die Maßnahmen waren brutale Kürzungen sozialer Leistungen und die Beseitigung aller Hindernisse für die Privatwirtschaft sowie die Privatisierung von Staatsbetrieben. Die Einfuhrzölle auf ausländische Produkte wurden drastisch reduziert. Dahinter stand die Überlegung, dass Länder wie Chile ihre "komparativen Vorteile" nutzen sollten, indem sie das billig auf dem Weltmarkt anböten, was vorhanden sei. Sie sollten aber die Finger davon lassen, selbst das herzustellen, was fremde Industrien ihnen günstiger liefern könnten. Indem man die eigene Industrie der totalen Konkurrenz aus dem Ausland aussetzte, zerstörte man die mühsam aufgebauten Industrialisierungsansätze und stufte sich selbst wieder auf die Rolle eines Rohstofflieferanten für die entwickelten Industrieländer zurück. Der Antrieb, einen neoliberalen "Modellfall" zu präsentieren, führte zu verstärkten Angriffen auf die Naturschätze des Landes: Neben gesteigerter Ausbeutung von Kupfer erfolgte die dramatische Abholzung von Primärwäldern und eine Überfischung der Meeresressourcen. Es wurde der brachiale Versuch gemacht, Chile in kurzer Zeit zu einem bedeutenden Exporteur von Obst und Wein zu machen, mit gönnerhaftem Einverständnis reicher Importländer. Der Spiegel wusste 1994 unter der Überschrift "Giftige Trauben" zu berichten, dass Trauben, Kiwis und Äpfel mit chemischen Kampfstoffen und lebensbedrohenden Pestiziden haltbar gemacht wurden. Die Missbildungen bei Kindern lagen beispielsweise im Obstanbaugebiet von Rancagna achtfach über dem lateinamerikanischen Durchschnitt. Die Schäden sind schwer zu beziffern, der "Erfolg" dieser Politik ist der Nutzen für eine Minderheit. Die schwere Wirtschaftskrise von 1981–83 verstärkte die Kritik auch in Sektoren, die den Putsch befürwortet hatten. Darüber hinaus setzte die Reagan-Administration in den 1980er Jahren verstärkt auf eine "Redemokratisierung". Die Diktatur von Pinochet erlebte die längste Regierungszeit in der chilenischen Geschichte und trat ab, ohne dass ihre Verbrechen geahndet wurden. Erst nach dem Tod von Pinochet gab es zaghafte Versuche einer juristischen Aufarbeitung. Chile ist eines der Länder mit den höchsten Einkommensunterschieden und krassen Gegensätzen zwischen Arm und Reich. Und es hat weiterhin eine orientierungslose und gespaltene Gesellschaft, wie nach den Massenprotesten von 2019 die Ablehnung der neuen Verfassung in dem Referendum von 2022 gezeigt hat. Die unter der Diktatur Ermordeten fehlen und haben große Lücken hinterlassen. Die fünf Jahrzehnte seit dem Putsch sind insgesamt in Bezug auf eine solide, in die Zukunft gerichtete Politik eher eine Zeit des Rückschritts und der Stagnation.
Wolfgang Mix
CUBA LIBRE 4-2023