Die Buchautorin und Wirtschaftshistorikerin Helen Yaffe spricht mit Cuba Libre über ihr Interesse an Kuba, ihre Forschungsthemen, die Folgen der US-Blockade für die Forschungskooperationen mit Kuba und die Kampagne "1C4Cuba".
Helen Yaffe ist aktiv in der Kuba-Solidaritätsbewegung und die Autorin von "We are Cuba" (Yale University Press, 2020). Sie lehrt an der Universität Glasgow. |
Cuba Libre: Dein Forschungsschwerpunkt an einer britischen Universität ist Kuba. Warum gerade Kuba?
Helen Yaffe: Meine Eltern sind Kommunisten und antiimperialistische, antirassistische Aktivisten. Ich bin im Umfeld dieser sozialen Bewegungen in London aufgewachsen. Ich habe mich bereits in jungen Jahren am "Nonstop Picket Against Apartheid" beteiligt, das am Trafalgar Square vor der südafrikanischen Botschaft veranstaltet wurde. Ich wuchs also mit einem sozialistischen Bewusstsein auf. Als ich dann 18 Jahre alt wurde und meinen Schulabschluss machte, ging ich mit meiner Schwester nach Kuba, um dort ein Jahr zu leben.
Sie war bereits ein Jahr zuvor, 1994, in Kuba gewesen. Das war die schlimmste Phase der kubanischen Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Damals hat Kuba 34, vielleicht 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verloren, 86 oder 87 Prozent seines Außenhandels und der Investitionen sind weggefallen. Meine Schwester schloss sich einer Solidaritätsbrigade an und war sofort gefangenen vom Land. Sie hat es absolut geliebt. Aber es war auch sehr schwierig. Sie war in Havanna während des Maleconazo. Das war zu dieser Zeit der erste gewaltsame Protest seit der Revolution. Das alles hinterließ einen großen Eindruck bei ihr.
Sie wollte zurückkehren und ich beschloss, mit ihr mitzukommen. Wir haben dann 1995 in Kuba gelebt. Die Dinge sind damals etwas besser geworden, aber es war immer noch der Höhepunkt der Sonderperiode. Geld hatte eine ganz andere Bedeutung als bei uns. Wir waren ja Kinder aus einem recht privilegierten Umfeld in einem imperialistischen Land. Wir lernten über den kubanischen Sozialismus in seiner schwersten Phase. Es waren sehr wenige Leute aus anderen Ländern damals dort. Wir lernten, wie die Kubanerinnen und Kubaner mit den Problemen umgegangen sind und wie sie Probleme lösten.
Wir gingen auf den Bauernmarkt und ernährten uns einfach von dem, was gerade da war. Wir hatten nicht einmal eine Libretta (Lebensmittelkarten), wie die Kubanerinnen und Kubaner sie besaßen. Es war alles eine unfassbar wichtige Erfahrung. Es hat unser komplettes Verständnis von kulturellen Normen und Konsum geändert. Wir haben dann damals die erste Brigade einer neuen Solidaritätskampagne ins Leben gerufen. Sie nannte sich "Rock Around the Blockade". Dahinter stand die Revolutionary Communist Group (RCG), die bis heute die Zeitung "Fight Racism Fight Imperialism" herausgibt.
Wir halfen ihnen von Havanna aus, die Kampagne zu koordinieren. Die Kampagne sammelte Geld für Musikanlagen für junge Leute. Das überrascht jetzt vielleicht, weil es eine Zeit war, in der die Leute wenig zu Essen hatten. Aber es war genau das, um was uns die Union of Young Communists bat. Sie haben gesagt, es ist ihnen besonders wichtig, dass junge Menschen in Kuba nicht aufwachsen und Sozialismus mit Armut und Austerität verbinden und niemals Spaß haben können.
Als wir in Kuba waren, sind wir auch nach Mexiko gefahren. Das war 1996 und Mexiko war kurz zuvor Mitglied der NAFTA (nordamerikanischen Freihandelsabkommen) geworden. Es wurde damals viel darüber gesprochen, dass Mexiko bald ein Land der "1. Welt" werde. Für uns war der Unterschied schockierend. Wir sahen dort unvorstellbare Armut und Verzweiflung von jungen, älteren und indigenen Menschen, die auf der Straße um Essen bettelten. Der Vergleich zwischen Mexiko und Kuba, so wie wir das erlebten, war schockierend.
Mexiko erlebte damals ebenfalls eine revolutionäre Erhebung, die Zapatistas. Das war natürlich nicht mit der kubanischen Revolution vergleichbar, aber das Verständnis für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes existierte und war im Bewusstsein der Menschen. Das war eine sehr interessante Erfahrung.
CL: Und was habt ihr in Kuba erlebt?
Helen Yaffe: Wir sind in die ländlichen Gebiete gefahren und da waren hunderte Jugendliche, die sich freiwillig zum Arbeitsdienst gemeldet haben. Das war sehr harte Arbeit: Aufstehen um 5 Uhr morgens und unter der heißen karibischen Sonne arbeiten. Das waren alles Freiwillige und sie waren in unserem Alter. Ich habe sie gefragt, wieso sie das machen und sie sagten zu mir: "Das ist unser Beitrag, um das sozialistische System zu verteidigen."
Ich begann damals, mir über den Zusammenhang von Bewusstsein und Produktivität Gedanken zu machen. Und wer war die Person, die sich am meisten in Kuba damit beschäftigt hat? Che Guevara. Daher habe ich mich intensiv mit den ökonomischen Arbeiten von Che Guevara beschäftigt und seinen Beitrag zu den großen sozialistischen Debatten über Ökonomie seit den 1950er und 1960er Jahren. Also den Fragen, wie in der Sowjetunion und China der Sozialismus entwickelt werden kann.
Che Guevara hat diese Debatten genau verfolgt, er hat sich Notizen gemacht, darüber gelesen, diskutiert. In Kuba gab es eine vergleichbare Debatte, die im Nachhinein "die große Debatte" genannt wurde. Ich habe dann begonnen, mich auch theoretisch damit zu beschäftigen, nachdem ich dort gelebt habe und das System selbst miterlebt habe. Ich habe mit der Zeit mich immer mehr der Beschäftigung mit anderen Fragen der Entwicklung zugewandt und gesehen, wie ausgesprochen erfolgreich Kuba in der Frage der medizinischen Versorgung ist – im Verhältnis zu den eingesetzten Ressourcen. Und damit zusammenhängend sind die Fortschritte in der Biotechnologie zu sehen.
Ich lehre heute Wirtschaftsgeschichte an der Universität Glasgow und schaue mir mit den Studierenden immer wieder unterschiedliche biotechnologische Zentren auf der ganzen Welt an: Wie funktionieren sie? Wie werden sie finanziert? Welche Ressourcen haben sie? Wie erfolgreich sind sie? In der Literatur wird immer wieder angegeben, dass die Ursprünge der Biotechnologie im Finanzkapital, im hoch entwickelten, spekulativen Kapitalismus liegen. Nirgends wird da Kuba erwähnt. Wie erklärst du dir dann, dass Kuba das einzige Land auf der Welt ist, dass eine Immuntherapie für Lungenkrebs entwickelt hat? Je mehr du hinschaust, desto mehr bemerkst du, welch eine besonders reiche Gesellschaft und welch ein erfolgreiches Beispiel eines alternativen gesellschaftlichen Systems Kuba ist.
Der Grund dafür liegt in einem klaren Plan von Fidel Castro, in welche Bereiche investiert werden sollte: Gesundheit und Bildung, aber auch in Wissenschaft und Technologie für sozialen Fortschritt und nicht für private Profite. Das war der Schlüssel zum Öffnen dieses Potentials in Kuba. Die Zahl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist auf demselben Level wie in den hochentwickeltsten kapitalistischen Ländern. Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind hoch erfolgreich. Ein Beispiel: Lateinamerika und die Karibik ist eine wichtige Weltregion, in der es reiche Länder wie Brasilien gibt. Dennoch ist Kuba das einzige Land in der gesamten Region, das erfolgreich einen COVID19-Impfstoff entwickelt hat. Nicht nur einen, sondern fünf Impfstoffe. Es war dann das erste Land der Welt, das die gesamte Bevölkerung über zwei Jahren mit einem sicheren und effektiven Impfstoff immunisierte. Von Beginn an wurde darauf geachtet, dass es ein Impfstoff werden soll, der auch für Kinder sicher ist. Das ist gelungen und derzeit entwickeln sie sogar einen Impfstoff für Neugeborene.
Schauen wir uns die UN-SDGs (Ziele für nachhaltige Entwicklung) an, von denen bei der UN-Vollversammlung im September viel gesprochen wurde: Kuba ist nahe dran, alle von ihnen zu erreichen, wenn wir die Finanzziele herausnehmen. Natürlich hat Kuba einen hohen Grad an finanzieller Armut, was an der US-Blockade liegt. Es ist aber auch ein viel weniger monetäres Land und daher ist es viel schwerer, allen Dingen und Dienstleistungen einen monetären Wert zu geben. Dadurch kann das auch nicht ins BIP einberechnet werden und so entsteht diese Konfusion und Fehlinformation über die angebliche Armut in Kuba.
CL: Du forschst in einem imperialistischen Land zu Kuba. Wie wird das in der wissenschaftlichen Community aufgenommen?
Helen Yaffe: Als ich mit meiner Forschung an der Universität für meinen Master und meinen Doktor begonnen habe, las ich die zentralen Publikationen über Kuba aus dem wissenschaftlichen Mainstream. Das Feld wird dominiert von Leuten, die dem Feld selbst den Namen "Kubanologie" gegeben haben. Das ist eine intellektuelle Schule, die sich nach der Schweinebuchtinvasion 1961 herausbildete. Das US-State Department und der Geheimdienst CIA haben begonnen, Kuba als ein permanentes Angriffsziel anzusehen und begannen, in Forschungsinstitute zu investieren. Exilkubaner, die bereits in Kuba vor der Revolution als Akademikerinnen und Akademiker gearbeitet hatten, nahmen Schlüsselposition in diesen Instituten ein. Sie entwickelten Wissen, dass von der US-Regierung verwendet werden konnte, um Kuba zu unterminieren. Dafür gibt es genug Beweise. Eine dieser Personen war Professor Edward Gonzalez, der Berichte für die CIA verfasste, in denen er Möglichkeiten aufzeigte, den kubanischen Staat zu schwächen.
Eine andere Aufgabe dieser Institute war es, negative Informationen über Kuba zu verbreiten. Das hat unglaubliche Ausmaße erreicht und wurde in anderen imperialistischen Ländern, auch in Europa, übernommen. Das waren Geschichten, wie jene, dass Fidel Castro und Che Guevara sich zerstritten hätten, da Castro seinen Genossen als Widersacher ansah und ihn deshalb loswerden wollte. Oder auch Geschichten über Homophobie, die angeblich vom Staat geschürt wurde. Und noch viele solche derartige Sachen, die frei erfunden wurden.
Das Standardparadigma in der Wissenschaft war: Kuba hat diese Dinge nur erreicht, weil es von der Sowjetunion finanziert wurde. Es war nichts mehr als ein Satellit der Sowjetunion. Das hatte großen Einfluss über die Medien auf die Bevölkerungen auf der ganzen Welt.
Mit der Zeit waren da aber immer mehr Sachen, die sich in Kuba entwickelten, die mit diesen Narrativen nicht mehr erklärt werden konnten. Schrittweise hat sich eine neue Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern herausgebildet, die Interesse an Kuba als einem eigenständigen Land haben. Sie haben sich von den Ideologiegetriebenen Forschungen aus der Zeit des Kalten Kriegs emanzipiert.
Meine Arbeit geht noch etwas weiter. Sie bietet eine immanente Kritik. Was ich damit meine ist, dass ich Kuba auf seinen eigenen Ansprüchen, Zielen und Handeln basierend verstehen möchte. Meine Arbeit soll aus den engen Schranken der Wissenschaft hinausgehen und breitere Kreise ansprechen.
CL: Welchen Einfluss hat die US-Blockade Kubas auf deine Forschung?
Helen Yaffe: Es ist immer ein ideologischer Kampf. Bei akademischen Publikationen gibt es ein Gutachterverfahren und diese Gutachter erwarten oft von dir, dass man Kuba kritisiert bis hin zur Beleidigung.
Ich habe Studierende, die in Kuba Feldforschung machen wollen. Damit sie dort forschen können, müssen sie ein ethisches Gutachtergremium durchlaufen (ein Prozess der im angelsächsischen Hochschulsystem bei allen Forschungen, die Personen als Forschungsobjekte einbeziehen, vorgeschrieben ist, Cuba Libre.). Und dann kommen Fragen an diese Studierende wie: "Können Sie sicherstellen, dass die kubanischen Bienenzüchter nicht von Repression betroffen sein werden und eingesperrt werden, wenn sie mit Ihnen im Rahmen eines Forschungsprojekts sprechen?" Würde diese Frage auch im Zusammenhang mit Forschungen in den USA gestellt werden? In diesem Umfeld musst du als Forscherin zu Kuba also navigieren.
Das andere große Problem für mich und andere Akademikerinnen und Akademiker, die mit kubanischen Partnern zusammenarbeiten wollen, sind die finanziellen Folgen der US-Sanktionen. Ich möchte dafür ein Beispiel bringen: Ich hatte einen Antrag für ein Forschungsprojekt ausgearbeitet, bei dem ich mit einem kubanischen Partner zusammenarbeiten wollte. Die Universität Glasgow verzögerte das Projekt, da die Finanzabteilung der Universität behauptete, ein kubanischer Partner könne nicht im Projekt einbezogen werden, da Kuba unter US-Sanktionen stehe. Das ist aber unrichtig, da es in Großbritannien Gesetze gibt, dass unilaterale US-Sanktionen gegen Einzelpersonen und Institutionen nicht angewendet werden dürfen. Den US-Sanktionen in Großbritannien zu folgen, bricht also nationales Recht.
In Wahrheit ist es so, dass OFAC, das US-amerikanische Office of Foreign Assets Control (Bundesamt für Auslandsvermögen), Banken auf der ganzen Welt mit Gegenmaßnahmen bedroht, wenn sie Transaktionen mit Kuba durchführen. Das ist ein sehr großes Problem, weil es die Forschungskooperation einschränkt.
CL: Warum ist diese Praxis gerade so problematisch für die Forschung?
Helen Yaffe: Weil es jede finanzielle Transaktion unterbindet, aber ohne diese funktioniert Forschung nicht. Es geht hier um Dinge wie die Bezahlung eines Kollegen, Geldüberweisung zur Finanzierung von Ressourcen und Forschungsinfrastruktur (im anderen Land oder einer anderen Hochschule, Cuba Libre.), die für das Projekt gebraucht wird. Es ist heute aber nahezu unmöglich, Geldtransaktionen durchzuführen.
CL: Wie kann dagegen gesteuert werden?
Helen Yaffe: Es gibt die Kampagne "1 Cent 4 Cuba", die sehr wichtig ist. Ich bin von Anfang an darin involviert und habe auch beim Kampagnenstart gesprochen. Es ist eine neue Kampagne, die von Gruppen in Großbritannien, Irland und Belgien ins Leben gerufen wurde, aber rasch von Aktivistinnen und Aktivisten in anderen Ländern, darunter Deutschland, Spanien und Kanada, unterstützt wurde. In Deutschland wird die Kampagne vom Netzwerk Cuba koordiniert.
Das Augenmerk der Kampagne sind internationale Finanzinstitutionen und Banküberweisungen. Das Problem ist, wenn ich dir von Edinburgh nach Berlin einen Pfund Sterling überweise und in den Verwendungszweck das Wort "Kuba" erwähne, wird die Überweisung automatisch blockiert, obwohl das Geld gar nicht nach Kuba geht. Es wird also nicht mehr nur das Land Kuba blockiert, sondern alles im Zusammenhang mit Kuba. Mit unserer Kampagne wollen wir zeigen, dass dies eine illegale Praxis der Banken ist.
Wir wollen eine große Zahl von Bankkunden mobilisieren, kleine Transaktionen von 1 Cent von Bankkonten zu senden und dabei "Kuba" erwähnen, was dann automatische Sanktionsmechanismen der Banken auslöst. Bei Beschwerde muss die Bank einen Bericht erstellen, gegen den wir Einspruch bei der nationalen Kontrollbehörde einreichen können.
Jede kleine Transaktion und der anschließende Beschwerdeprozess können für die Bank einen kostspieligen Verwaltungsaufwand bei minimalen Kosten für den Kunden bedeuten.
Zwei Sachen sollen so geklärt werden: Die Banken brechen mit dieser Praxis nationales Recht und brechen sie auch die Datenschutzgrundverordnung (DSVGO)? Werden europäische Bankdaten ohne Wissen der Kunden an die US-Behörde OFAC weitergegeben?
Yaffe ist eine politische Aktivistin und Senior Lecturer in Economic and Social History an der Universität Glasgow in Schottland. Sie lehrt dort über Kuba und die Entwicklungen in Lateinamerika. Seitdem sie 1995 in Kuba gelebt hat, ist sie in Solidaritätskampagnen aktiv. Sie war eine Gründerin der Kampagne "Rock Around the Blockade" und ist derzeit aktiv in der "1 Cent 4 Cuba Campaign" (1 Cent für Kuba).
Ihre Dissertation untersuchte die ökonomischen Arbeiten von Che Guevara als Mitglied der kubanischen Regierung und seinen Beitrag zu sozialistischen Debatten über politische Ökonomie. Sie wurde 2009 und der dem Titel Che Guevara: The Economics of Revolution bei Palgrave Macmillan veröffentlicht.
Ihr aktuelles Buch ist We Are Cuba! How a Revolutionary People Have Survived in a Post-Soviet World (Yale University Press, 2020). Sie hat daneben zwei Dokumentarfilme mitproduziert: Cuba & Covid-19: Public Health, Science and Solidarity (2020) und Cuba’s Life Task: Combatting Climate Change (2021). Beide sind frei auf YouTube zugänglich. Sie schrieb für Jacobin, The Guardian, Le Monde Diplomatique, The Conversation und Counterpunch.
Interview führte Dieter Reinisch
CUBA LIBRE 4-2023