Irrtümer und Schrecken

"Der Westen" und die "regelbasierte Weltordnung"

Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass der Westen an einem Abbau der derzeitigen globalen Spannungen interessiert ist oder dazu in der Lage wäre.


Die Anführungszeichen im Titel sollen die Aufmerksamkeit auf die ihnen innewohnenden Sophismen lenken, auf falsche Argumentationen, falsche Aussagen, die dadurch, dass man diese Lügen zur Rechtfertigung von Handlungen zwecks Verteidigung illegitimer Interessen immer weiter wiederholt, richtig und glaubwürdig gemacht werden.

Der erste ist der so genannte "Westen", ein geographischer Begriff, den das "amerikanische" Imperium" (ein weiterer Sophismus – Amerika als Synonym für die USA) für sich in Anspruch nahm. Die andere Bedeutung des Begriffs tauchte bereits im 16. Jahrhundert auf und bezog sich auf den westlichen Teil Eurasiens und damit auf die Gebiete, die von ihm kolonisiert wurden und denen er seine Kultur aufzwang (sic).

Zu Beginn des so genannten Kalten Krieges wurde der Westen passenderweise mit den USA, den ihnen untergeordneten und abhängigen Ländern und dem Kapitalismus im Gegensatz zur UdSSR und dem Kommunismus identifiziert.

Heute versucht der Westen, sich als Verfechter des Kampfes für die Demokratie und gegen den Autoritarismus darzustellen, wobei er gleichzeitig alles, was von der so genannten nach seinem Ebenbild geschaffenen repräsentativen Demokratie abweicht, als autoritär darstellt. Dabei lässt er völlig außer Acht, welche verheerende Zerstörung er dem Rest der Welt mit seinen Eroberungen, Überfällen, Sanktionen und Plünderungen zugefügt hat.

Der zweite Sophismus ist die regelbasierte Ordnung, die auf Regeln beruht, die paradoxerweise nicht die vom Völkerrecht allgemein akzeptierten oder die von der UNO vereinbarten und anerkannten sind (es sei denn, diese werden eigenmächtig uminterpretiert), sondern die von dem uns bereits bekannten "Westen" beschlossen wurden.

Und obwohl es viele Gelehrte gibt, die der Meinung sind, dass diese Ordnung als "liberale internationale Ordnung unter Führung der USA" bezeichnet werden sollte, gibt es nicht wenige, die der Meinung sind, dass man das Wort "liberal" aus der Bezeichnung streichen sollte. Weder der Trumpsche Protektionismus von "Make America Great Again" ist liberal, noch das "Buy American", von Biden, auch nicht die "Sanktionen", die die USA schon immer gegen diejenigen eingesetzt haben, die sich nicht an ihre Regeln halten (mit oder ohne Zustimmung der UNO und bereits vor deren Bestehen), wozu auch Invasionen und Kriege gehörten und, als sie bereits mächtig genug waren, der Einsatz ihrer nationalen Währung als Kriegswaffe, wobei sie deren Status als die am weitesten verbreitete Währung ausnutzen. Hinzu kommen die Blockaden, wie die, die unser Land seit mehr als 60 Jahren erduldet, so wie Venezuela, Iran, Russland und China, und auch einige ihrer westlichen Partner.

Die Liste ist lang und die Schlussfolgerung eindeutig: Die "regelbasierte Ordnung" ist die auf dem selbsternannten "amerikanischen Exzeptionalismus" basierende Ordnung – die es "Amerika" erlaubt hat, die Regeln zu diktieren, seine Regeln, und sie durchzusetzen.

US-Zerstörer Maddox

Der US-Zerstörer Maddox wurde angeblich von nordvietnamesischen Schnellbooten im Golf von Tonkin beschossen. Mit dieser Lüge begann im August 1964 das direkte Eingreifen der USA in den Krieg in Vietnam.
Foto: gemeinfrei



Dass der Rest des "Westens" solche Regeln akzeptiert, selbst wenn sie ihm schaden, ist eine Folge des Geflechts der globalen Korporatokratie und der Gewissheit, dass das Kapital keine Heimat hat, sondern nur Interessen, und dass es, wie die Erfahrung lehrt und Marx bewiesen hat, in der Lage ist, sich über alle menschlichen Gesetze hinwegzusetzen. Wenn "Tumult und Streit Profit bedeuten", werden sie da sein und sie einkesseln.

Es ist schwierig, das genaue Datum zu bestimmen, an dem die USA begannen, "ihre Ordnung" durchzusetzen (die heute als "regelbasiert" bezeichnet und von Vasallen- und Leibeigenenstaaten unterstützt wird), aber es könnte durchaus der Beginn des 19. Jahrhunderts sein, mit der Eroberung des Westens und der Enteignung der Ländereien der Ureinwohner, gefolgt von "Remember the Alamo" im Jahr 1836 und endend mit der Umwandlung von Texas in einen Unionsstaat. Am Ende dieses Jahrhunderts gab es auch die Farce der Sprengung des Schlachtschiffs "Maine" in Kuba und im nächsten Jahrhundert den "Golf-von-Tonkin-Zwischenfall" in Vietnam.

Wenn wir einen Zeitsprung machen, um die Entwicklung dieser so genannten "Ordnung" auf den neuesten Stand zu bringen, können wir ins Jahr 1983 zurückgehen und den Bericht aufgreifen, den Fidel dem VII. Gipfeltreffen der Blockfreien Länder vorlegte und in dem er warnte: "Die Welt durchlebt eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen ihrer Geschichte. Ausgehend von den wichtigsten kapitalistischen Mächten hat diese Krise die unterentwickelten Länder mit brutaler Härte getroffen, die jetzt den schwersten wirtschaftlichen Niedergang der gesamten Nachkriegszeit erleben."

Dem Westen gelang es, diese Krise vorübergehend zu überwinden, nicht aber dem Rest der Welt, dessen Probleme sich verschlimmerten, so dass die Schaffung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung (NOEI) noch ausstand, die eine radikale Änderung der Funktionsweise der Weltwirtschaft bedeutet hätte, damit die von der alten, noch bestehenden Ordnung verursachte Situation von Armut und Elend nicht fortbestehe.

Es war die alte Ordnung, die die Welt zu dem führte, was der Nicht-Marxist J. Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, in seinem Buch The Happy 90s. The Seed of Destruction und in einem späteren Werk, The Price of Inequality, beschrieben hat: Die Globalisierung und ihr theoretischer Vorläufer, der Neoliberalismus, haben zwar die Produktionskapazität der Arbeit erhöht, aber die Grundlage für das Entstehen neuer Krisen geschaffen, da die Konzentration des Reichtums in immer weniger Händen das ordnungsgemäße Funktionieren der Wirtschaft unmöglich machte.

Dies hat sich in der Krise von 2008 deutlich gezeigt. Die Gurus der "regelbasierten Ordnung" waren nicht in der Lage, dies zu verstehen. Si taten mehr vom Gleichen, was logischerweise dazu führte, dass sich die Krise weiter verschärfte und systemisch wurde.

Dies geschah, weil die Konzentration des Reichtums durch die Verringerung der Zahl der Verbraucher den Verbrauch von Gütern und damit die Notwendigkeit, sie zu produzieren, verringert. Dadurch sinkt die Profitrate in der Produktion. Dies treibt übrigens auch Innovationen und Kostensenkungen voran und führt zur Abwanderung von Kapital auf der Suche nach niedrigeren Löhnen, um die Profitrate zu erhöhen).

US-Außenminister Colin Powell

US-Außenminister Colin Powell belügt den UN-Sicherheitsrat im Februar 2003 über die angeblichen Massenvernichtungswaffen des Irak.
Foto: gemeinfrei

Dadurch wird das Kapital in die Finanzsphäre verlagert, während gleichzeitig das Wachstum – unter umfassender Beteiligung des transnationalen Kapitals und auf der Suche nach außerordentlichen Profiten aufgrund des erheblichen Kostengefälles – dorthin verlagert wird, wo man am billigsten produzieren kann: in die Länder des so genannten globalen Südens und in den asiatisch-pazifischen Raum. Letzterer wurde zu dem, was er heute ist: die "Fabrik der Welt", was auch zum Hegemonieverlust des Westens beitrug, da sich die Realwirtschaft und damit die globale geopolitische Achse in Richtung des geografischen Ostens (dieses Landes) verschoben hat. Um das System zu erhalten, waren drastische Maßnahmen erforderlich, die auch heute noch zum Arsenal zur Aufrechterhaltung der "regelbasierten Ordnung" gehören: die Zwillingstürme im Jahr 2001, der Krieg im Irak im Jahr 2003 unter dem Vorwand nicht vorhandener "Massenvernichtungswaffen", der NATO Krieg in Jugoslawien zwischen 1999 und 2001, das Schüren von Chaos und Interventionen in Libyen zwischen 2011 und 2022, in Syrien 2011 ...

US-Truppen in Syrien

Diesmal ohne Lüge, aber trotzdem illegal: US-Amerikanische Truppen im Osten Syriens.
Foto: The National Guard / CC BY 2.0 Deedi


In jüngerer Zeit kommen noch hinzu: die Ausweitung der NATO und die Einkreisung Russlands, die Provokationen gegen China mit der faktischen Anerkennung der Unabhängigkeit Taiwans trotz anderer früherer Zusagen, der Abschluss neuer Militärpakte wie die Quad (2007, zwischen den USA, Japan, Australien und Indien), die Aukus (2021, zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA), die Five Eyes (2022, zwischen Australien, Kanada, Neuseeland, dem Vereinigten Königreich und den USA) und die Hunderte von US-Basen in mehr als 40 Ländern.

Dies hat natürlich zu einem enormen Anstieg der Militärausgaben geführt, vor allem in den USA, aber auch in den übrigen Ländern des Westens, und die westlichen Länder stehen unter Druck, ihre Ausgaben zu erhöhen.

Die internationalen Spannungen, insbesondere der Krieg in Europa, aber auch im indopazifischen Raum, haben zu einem Anstieg der Militärausgaben geführt, die im vergangenen Jahr bereits über zwei Billionen US-Dollar betrugen. Davon entfielen nach den kürzlich vom Stockholmer Friedensforschungsinstitut veröffentlichten Daten 877 Milliarden bzw. 39 Prozent auf die USA.


US-Streikräfte

Weltumspannende Kontrolle: Areas of responsibility – Verantwortungsbereiche – der US-Streikräfte
Foto: wikipedia / CC BY-SA 3.0 Deed



Das ist an sich schon Wahnsinn, denn es bringt die Welt immer näher an einen Krieg, der, wenn er ausgelöst würde, mit hoher Wahrscheinlichkeit nuklear wäre und die Überlebenden in die Steinzeit zurückwerfen würde. Die Rationalität legt nahe, dass die Ressourcen, die für die Rüstung verschwendet werden, für eine gerechtere Welt, die Beseitigung der skandalösen Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern und die Verwirklichung der Ziele einer nachhaltigen Entwicklung ausgegeben werden sollten.

Diese Beträge würden genügen, dass über 100 Millionen Menschen nicht vor Kriegen und Katastrophen fliehen müssten, um ihr Leben zu retten, wie sie dies derzeit tun, dass den laut UNO 350 Millionen Menschen, die unter humanitärer Not leiden, geholfen werden könnte, dass mehr als 600 Millionen Afrikaner an die Stromversorgung angeschlossen werden könnten, sie würden reichen, um "Entwicklungsländer" von der Zahlung von Schulden zu befreien, die sie nicht zurückzahlen können und um allen Bürgern armer Länder und den Armen in reichen Ländern Zugang zu Impfstoffen und anderen Medikamenten zu ermöglichen.

Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass der Westen daran interessiert und bereit ist, in Verhandlungen einzutreten, um die derzeitigen globalen Spannungen abzubauen und eine globale und egalitäre Wirtschaft zu entwickeln. Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass er vorhat, seine "regelbasierte Ordnung" aufzugeben. Und das ist schlecht, sehr schlecht, auch für den Westen.

CUBA LIBRE Jorge Casals Llano
Aus Granma Internacional Juni 2023

CUBA LIBRE 4-2023