In unregelmäßigen Abständen veröffentlichen wir in CUBA LIBRE Beiträge aus der Diskussion in Kuba über den weiteren Weg des Sozialismus und der Revolution. Dabei geht es vielfach um die Rolle, die den privatwirtschaftlichen Akteuren zukommen soll oder darf, um die Ausgestaltung der Planwirtschaft, die sozialistische Demokratie und andere Fragen. Dabei fällt die Offenheit und Klarheit der Argumentationen auf, aber auch die zunehmende Schärfe, die sich in der Debatte zeigt. Womöglich spiegelt sich in ihr die Zuspitzung der ökonomischen und politischen Widersprüche auf Kuba wider, die eben auch mit der erwähnten verstärkten privaten Aneignung von Produktionsmitteln in Zusammenhang stehen.

Wir dokumentieren im Folgenden einen Text der Journalistin und Universitätsprofessorin Karima Oliva, welcher ein nachdrückliches Beispiel für diese Diskussionskultur abgibt. Wir haben als Redaktion einen Moment gezögert, den Beitrag zu veröffentlichen. Es gab Bedenken, er könnte als eine Anklage der kubanischen Regierung missverstanden werden. Überwogen hat aber das Vertrauen, dass die kubagebildete CUBA LIBRE-Leserschaft diesen Debattenbeitrag als ein Ringen um die Verteidigung des Sozialismus einzuordnen weiß.

Tobias Kriele


Kubanischer Sozialismus


1. Die wirtschaftlichen Veränderungen verlangen, dass wir darüber nachdenken, wie sie die Fortsetzung des Sozialismus belasten. Das ist etwas, was nicht unter den Teppich gekehrt werden darf.

Das gesellschaftliche Projekt, welches im Januar 1959 in Kuba seinen Anfang nahm, hätte viel mehr erreichen können, wenn man es denn gelassen hätte. Auch so stellt es die größte Errungenschaft dar, die in unserer Region auf dem Weg erreicht wurde, die Träume der Gründerväter, unter ihnen Martí, zu verwirklichen: Eine Gesellschaft mit den einfachen Leuten für die einfachen Leute aufzubauen, frei von den üblichen Formen der strukturellen Gewalt des Kapitalismus und den Bestrebungen von Eliten oder Gruppen mit bourgeoisen Interessen.

Dieses Vorhaben, welches in Kuba eine beispiellose Verwirklichung fand und die fortschrittlichsten Bewegungen der Welt jahrzehntelang inspirierte, steht heute vor schwierigen Herausforderungen, von deren Bewältigung sein Fortbestand abhängt.

Der wichtigste Faktor, der für die derzeitige Situation auf der Insel verantwortlich ist, ist der Wirtschaftsterrorismus, der das Land seit 60 Jahren plagt und aufgrund der aufrechterhaltenen materiellen Bedürfnisse einen erheblichen Verschleiß auf verschiedenen Ebenen verursacht, einschließlich hinsichtlich der Stimmung der Menschen. Dies sollte die Grundlage für jede Analyse Kubas sein.

Die durch die Blockade fabrizierte Lüge, dass der Sozialismus wirtschaftlich gescheitert sei, verleitet zu der Annahme, dass es keine Alternative zum freien Markt und zu seiner Wiedereinführung gibt. Vor diesem Hintergrund scheint es undurchführbar, den radikalen Charakter des kubanischen Sozialismus aufrechtzuerhalten. Dies war jedoch die Grundvoraussetzung für die Errungenschaften der Freiheit, der Souveränität, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit, die wir Kubaner trotz wirtschaftlicher Beschränkungen jahrzehntelang genießen konnten. Zugleich wurde die Welt um uns herum durch die in den 1970er Jahren begonnene und bis heute anhaltende neoliberale Politik für die Mehrheit der Menschen immer unsicherer, ungerechter und ungleicher.

Der Versuch unserer Gegner, die Radikalität unseres Sozialismus zu verteufeln, findet Widerhall in einer durch die interne Wirtschaftsagenda verdünnten Atmosphäre, angesichts der ideologischen Zaghaftigkeit unserer politischen Kommunikation und mit der Komplizenschaft derjenigen, die von innen heraus eine offene Kampagne führen, um jede Position als Fundamentalismus (und anderes) zu disqualifizieren, die eine Berücksichtigung der kulturellen, soziopolitischen und ideologischen Auswirkungen der wirtschaftlichen Veränderungen einfordert.

Die Veränderungen des (Sozialismus-) Modells, die beschlossen wurden, um die durch die Blockade ausgelöste Krise zu überwinden, indem die Förderung des Privatsektors beschlossen wurde, bringen offensichtliche Widersprüche zur Kontinuität des Sozialismus hervor. Ich teile nicht den Standpunkt, vor diesen Widersprüchen die Augen zu verschließen. Umgestaltungen sind notwendig. Wir sollten den Privatsektor nicht verteufeln, ihn aber auch nicht idealisieren.

Fidel Castro am 5. März 1960
"... wieder hätten wir kein anderes Dilemma als das, mit dem wir den revolutionären Kampf begonnen haben: das um Freiheit oder Tod. Nur bedeutet Freiheit jetzt noch mehr: Freiheit bedeutet Heimat. Und unser Dilemma wäre Heimat oder Tod!", sagte Fidel am 5. März 1960 nach einem Sabotageakt auf den französischen Frachter La Coubre im Hafen von Havanna mit vielen Toten und Verletzten. Dieser Anschlag gilt als Auslöser für die in der Folge vom Auslandsgeheimdienst CIA koordinierte Strategie der USA, die kubanische Regierung mit Gewalt zu stürzen

Das Privatkapital wird für sich selbst Reichtum schaffen, aber es wird keines der Probleme des Volkes allein und aus freien Stücken lösen, wenn das Volk nicht die Mechanismen findet, um es zu begrenzen und die Verwaltung des geschaffenen Reichtums zum Wohle der Allgemeinheit zu beeinflussen. Die kubanischen Institutionen müssen zu einem Vehikel für beides werden; das ist die große Herausforderung, wenn man weiterhin sozialistisch sein will.

Die Steuerhinterziehung (wie diese durch den Staat kontrollieren?), die prekäre und informelle Auftragsvergabe (wie diese durch den Staat kontrollieren?), das übermäßige Profitstreben auf Kosten der Vermarktung der Bedürfnisse des Volkes (dito), die Anhäufung von Reichtum in den Händen einiger weniger im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Engpässen der Mehrheit, die Wucherpreise und die wachsenden Ungleichheiten (dito) sind nicht weniger wahr, nur weil wir nicht über sie sprechen.

2. Die Schaffung einer Kultur des Sozialismus ist eine Notwendigkeit ersten Ranges in dem neuen Szenario, welches durch den Aufschwung des Privatsektors geschaffen wurde.

Zum ersten Mal werden die Bedingungen für die Beziehung von Privatkapital, Medien und politischer Macht geschaffen. Welche Auswirkungen dies auf den Sozialismus hat, ist eine Frage, die wir unbedingt klären müssen.

Was mit dem Gesetzesentwurf zur sozialen Kommunikation geschehen ist, der überarbeitet werden musste, weil Bedenken aufkamen, die seine Verabschiedung in der Versammlung verzögerten, ist ein Ausdruck der Widersprüche, die sich abspielen.

Was die Kommunikation betrifft, versucht ein technizistischer Ansatz derzeit, sich als neuartig darzustellen, obwohl er letztendlich das alte Schema der kommerziellen Werbung kopiert. Die Behandlung wichtiger politisch-ideologischer Fragen wird vermieden, um das Vorankommen der wirtschaftlichen Agenda nicht zu problematisieren. Der Unfug, inmitten eines ideologischen Krieges die Beschäftigung mit der Ideologie für überflüssig zu halten, zusammen mit dem Rückzug von Positionen, sind Tendenzen, die eine kritische Überprüfung verdienen. Vor allem braucht es eine Analyse, die die auf den Parteitagen mit großer Klarheit verteidigte Ansicht berücksichtigt, wonach der Ideologie eine grundlegende Rolle zukommt.

Wir erleben derzeit ein Bekenntnis zu einem politischen Konsens, der sich als Loyalität gegenüber der Regierung und nicht unbedingt gegenüber dem Sozialismus, als nationalistisch und nicht unbedingt kommunistisch versteht. Auf der medialen Ebene schlägt sich das in der Unterstützung derjenigen nieder, die die Realität nicht problematisieren und sich auf eine Öffentlichkeitsarbeit beschränken, die nicht vom politisch Bequemen abweicht. Sie impliziert mitunter sogar die Unterstützung von Personen, die dilettantische, sozialdemokratische und liberale Positionen vertreten (was eine Distanzierung von radikalen revolutionären Positionen erfordert). Dazu gehört auch die Förderung von Kampagnen ohne ideologische Bedeutung; die Vermeidung jeglicher Art von Polemik oder Problematisierung, was zu einer Demobilisierung des politischen Bewusstseins und des revolutionären Denkens führt; obwohl diese Positionen auf bestimmten Ebenen die Einheit fördern, senden sie zugleich eine verwirrende Botschaft und schwächen die führende Rolle, welche die kubanische Verfassung der Partei zuweist.

Die moderate Ausdrucksform der Regierung ist verständlich, sollen so doch mehr Menschen, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung, erreicht werden. Aber diese inhaltliche Abschwächung sollte durch die Stärke und Entschlossenheit des Diskurses der Partei bei der ideologischen Stärkung des Weges zum Sozialismus ausgeglichen werden.

Wir sehen in diesem fehlenden Gleichgewicht zwischen dem wirtschaftlichen Impuls auf der einen Seite und der Aufmerksamkeit für die soziopolitischen, kulturellen und ideologischen Auswirkungen auf der anderen Seite einen potenziellen Rückschlag. Wir werden stets die revolutionäre Regierung und die kommunistische Partei als Mittel zum Aufbau der sozialistischen Alternative verteidigen. Ohne eine revolutionäre Regierung und ohne eine kommunistische Partei, die den Sozialismus verteidigen, würde das Volk auf eine Weise verwundbar werden, wie es das seit 60 Jahren nicht mehr erlebt hat. Die Auswirkungen dessen könnte man sich nicht vorstellen.

Es steht nirgendwo geschrieben, wie man den Sozialismus aufzubauen hat. Wie man ihn zerstört, ist dagegen bereits erprobt. Parallel mit den wirtschaftlichen Veränderungen ist es daher notwendiger denn je, die Ausübung einer zugunsten der Revolution engagierten Kritik zuzulassen. Es ist notwendig, eine Denkweise zu entwickeln, die sich ihrer Radikalität nicht schämt, die als Instrument zum Durchdenken der Widersprüche dient und uns bei der notwendigen Veränderung anleitet, ohne andere Realitäten zu kopieren. Diese Denkweise muss auf einem praktischen und effektiven Engagement für die Kontinuität des kubanischen Sozialismus beruhen, und darf nicht nur auf der Ebene des Diskurses stattfinden.

Es ist notwendig, eine Kultur des Sozialismus zu fördern. Diese Kultur kann nicht nur antikolonial sein, sie muss antikapitalistisch sein, denn der Kolonialismus begann als Instrument des Kapitalismus und ist es immer noch.

3. Die Partei und die Regierung sind Instrumente, um die Rechte des Volkes durch die Verteidigung des Sozialismus durchzusetzen.

Die Ergebnisse der letzten Wahlen zeigen, dass das Volk immer noch den Institutionen Anerkennung zollt, die von der Revolution unter der Anleitung von Fidel und der Generation, die ihn begleitete, geschaffen wurde, dem Ergebnis von sechzig Jahren kontinuierlicher Investitionen in soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Sicherheit, Bildung, Gesundheit und Kultur. Die Menschen wollen sich vor allem wirtschaftlich verbessern, aber sie wollen nicht den erreichten Zustand von Gerechtigkeit und Sicherheit opfern.

Jeder Kubaner, unabhängig von seinem Bildungsniveau, seiner sozialen und beruflichen Stellung, seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht, seinem Einkommen, einfach nur weil er geboren wurde, muss weiterhin das unveräußerliche und freie Recht auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Nahrung, Unterkunft, Trinkwasser, Zugang zu öffentlichen Räumen, würdige Arbeit und bürgerliche Sicherheit zu gleichen Bedingungen wie jeder andere Kubaner genießen.

Jeder Kubaner hat das Recht, dass die Früchte seiner Arbeit in die Verbesserung der Qualität der von ihm genutzten Dienstleistungen und öffentlichen Güter sowie in die Verbesserung seiner Lebensqualität investiert werden und nicht in den Händen bestimmter Sektoren landen, die allmählich eine privilegierte Klasse oder eine Wirtschaftselite bilden. Wir haben die durch die Blockade verursachten Engpässe verstanden. Aber die Engpässe, die mit dem Akkumulationsstreben bestimmter Gruppen zu erklären sind, werden wir nie verstehen.

Jeder Kubaner hat das Recht, dass strategische natürliche Ressourcen wie Wasser, Bodenschätze und die grundlegenden Produktions- und Kommunikationsmittel in gesellschaftlichem Besitz sind und dem Gemeinwohl dienen.

Jeder Kubaner hat das Recht, dass die Regierung und die von der sozialistischen Revolution geschaffene Partei Instrumente sind, um diese eroberten Rechte bis zur letzten Konsequenz zu verteidigen, notfalls über die Verteidigung der Interessen des Privatkapitals auf der Insel hinaus. Bis 1959 waren diese Rechte das Privileg bestimmter Familien und nicht des ganzen Volkes.

Von 1959 bis heute haben wir mit Stolz die Bemühungen der kubanischen Regierung beobachtet, das Land unter schwierigsten Bedingungen aller Art voranzubringen und notwendige ausländische Investitionen zu erreichen, ohne es dadurch an das nationale oder transnationale Privatkapital zu verkaufen (wie auch immer dieses sich nennt). Dafür haben wir den Sozialismus.

Die US-Blockade hat immer ein Hindernis dargestellt, das Vorhaben einer besseren Nation für das kubanische Volk zu realisieren. Der Wille, es umzusetzen, darf uns aber niemals verloren gehen.

CUBA LIBRE
Karima Oliva

CUBA LIBRE 3-2023