"Entsprechend unserer eigenen Realität"

Eurozentrismus führt zu Fehleinschätzungen und Missverständnissen in Lateinamerika.

Gustavo Petro

Gustavo Petro: "Die Veränderungen, die Kolumbien braucht, liegen nicht in dem, was die Techniker oder die Regierung ausführen, sondern in den Millionen von Bürgern, die auf die Straße oder auf den öffentlichen Platz gehen, um gemeinsam das Land zu gestalten, das wir wollen."
Foto: Prensa Presidencial


Es war eine Geste, die in Südamerika alle verstanden haben: Unmittelbar, nachdem er am 7. August in Bogotá den Eid abgelegt hatte,ließ Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro als erste Amtshandlung das Schwert Bolívars auf die Bühne holen. Stunden zuvor hatte der scheidende Staatschef Iván Duque die Herausgabe der symbolträchtigen Waffe verweigert, mit der einst der als Befreier verehrte Simón Bolívar den Kampf um die Unabhängigkeit seiner Heimat von der spanischen Kolonialherrschaft angeführt hatte. Die örtliche Presse sprach von einem Skandal und einer letzten Provokation der alten Regierung. Als das Schwert schließlich von der Präsidentengarde auf die Bühne getragen wurde, jubelten die rund 100.000 Zuschauerinnen und Zuschauer den berühmten Slogan "ˇAlerta, alerta! ˇAlerta, que camina la espada de Bolívar por América Latina!" (Achtung, Achtung! Das Schwert Bolívars zieht durch Lateinamerika!). Die versammelten Ehrengäste erhoben sich – bis auf einen: Spaniens König Felipe VI. blieb sitzen. Mindestens ein Fauxpas, wenn nicht eine Provokation.

In Deutschland und Europa werden solche Auseinandersetzung eist verwundert und verständnislos beobachtet. Die rechte spanische Tageszeitung "La Razón" versuchte prompt, eine Verbindung zwischen Kolumbiens neuem Präsidenten und der "Tyrannei" in Venezuela herzustellen. Schließlich sei auch der "von Petro so sehr verehrte" Hugo Chávez durch Wahlen an die Macht gekommen, um dann die Demokratie zu zerstören und im Amt zu sterben. Die konkurrierende "El País" fand dagegen besonders bemerkenswert, dass Petro einer "neuen Linken" angehöre, "die sich von Venezuela und Nicaragua absetzt". Hauptsache, die Feindbilder können bedient werden…

Richtig an solchen Vergleichen ist nur, dass sich Chávez und sein Nachfolger Nicolás Maduro ebenso wie Gustavo Petro positiv auf Bolívar beziehen. Das gilt allerdings für so ziemlich alle führenden Politikerinnen und Politiker Südamerikas, denn die historische Persönlichkeit des in Caracas geborenen Freiheitskämpfers lässt viel Spielraum für Interpretationen. Bolívar diente schon als Kronzeuge für reaktionäre Militärdiktaturen wie auch als Banner revolutionärer Bewegungen. Das überfordert manche in Europa. Nachdem Chávez ab 1999 die "Bolivarische Revolution" in Venezuela initiiert hatte, traf dies vor allem auf konservative Politiker zu. Friedbert Pflüger, seinerzeit außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bekundete zum Beispiel 2004 auf einer Fachtagung der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung, sein Wissen über Bolívar aus dem Roman "Der General in seinem Labyrinth" von Gabriel García Márquez bezogen zu haben. Das reichte in seinen Augen jedoch vollkommen, um Chávez abzusprechen, Bolívar verstanden zu haben.

So etwas zeigt, wie ein europäisch geprägter (und getrübter) Blick auf Entwicklungen in Lateinamerika zu Fehleinschätzungen und Missverständnissen führen kann. Das bleibt nicht nur auf die Rechte beschränkt. Auch auf der Linken kam es immer wieder zu Versuchen, europäische Erfahrungen der lateinamerikanischen Realität überzustülpen. Bereits auf dem Kongress der Kommunistischen Internationale 1928 in Moskau beharrten führende Vertreter der Komintern wie Nikolai Bucharin darauf, dass man es in Mittel- und Südamerika mit "halbkolonialen" Ländern zu tun habe. Deshalb stehe dort eine bürgerlich-demokratische Agrarrevolution auf der Tagesordnung, nicht aber eine sozialistische Umwälzung. Widerspruch kam unter anderem von José Carlos Mariátegui, der im gleichen Jahr die Sozialistische Partei Perus mitbegründete und sich gegen eine Analyse stellte, die zu kleinbürgerlich-nationalistischen Antworten führen musste: "Wir wollen nicht, dass der Sozialismus in Amerika Kopie und Nachahmung ist. (…) Wir müssen entsprechend unserer eigenen Realität in unserer eigenen Sprache dem indo-amerikanischen Sozialismus Leben einhauchen."

Chávez, Castro, Martí

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez war ein überzeugter Anhänger von José Martís Gedanken.
Foto: Ahmed Velázquez


Dazu gehört auch, dass sich fortschrittliche Bewegungen in Peru, Kolumbien, Bolivien und anderswo nur schwer in das Korsett europäischer oder nordamerikanischer Politanalysen zwängen lassen. Verwundert stehen Besucherinnen und Besucher aus der "alten Welt" manchmal in den Häusern ihrer Gastgeber vor einem Altar, in dem die Mutter Maria einträchtig neben Che Guevara, Bolívar und Chávez, Fidel Castro oder anderen steht. Die religiöse Verehrung von Revolutionären mag manchmal befremdlich erscheinen – doch vergessen wir nicht: Die kolumbianische ELN-Guerilla entstand in den 1960er Jahren unter dem Einfluss von Theologen, die nicht auf das Himmelreich warten wollten. Der bekannteste von ihnen, Camilo Torres Restrepo, kämpfte und starb selbst in ihren Reihen. Die Sandinistische Revolution 1979 in Nicaragua hatte ebenfalls Geistliche in ihren Reihen, allen voran den Priester und Dichter Ernesto Cardenal. Das 1985 geführte Interview des brasilianischen Befreiungstheologen Frei Betto mit Kubas Präsident Fidel Castro erreichte als Buch hohe Auflagen und auch heute noch lesenswert (Frei Betto: Nachtgespräche mit Fidel; nur noch antiquarisch erhältlich).

Gustavo Petro kämpfte in jungen Jahren selbst in der Guerilla, heute könnte man ihn mit europäischen Begriffen als Sozialdemokraten bezeichnen. Doch in einem Land, in dem jährlich hunderte Gewerkschafter, Feministinnen, Linke ermordet werden und progressive Kandidaten ermordet wurden, ist schon die Tatsache, einen Demokraten an der Staatsspitze stehen zu haben, historisch zu nennen. Ein Menschenrechtsaktivist steht nun an der Spitze des Verteidigungsministeriums, eine Kommunistin ist Arbeitsministerin. Wohin diese Entwicklung führt, lässt sich heute noch nicht sagen, aber so weit ist Kolumbiens Linke noch nie gekommen.


Vergessen wir Kuba nicht. Wie konnte es dieser kleinen Insel vor der Haustür der mächtigsten imperialistischen Macht der Welt in den 1990er Jahren gelingen, ihre sozialistische Revolution zu verteidigen? Hatten nicht alle relevanten Analysten ihren Zusammenbruch in Stunden, agen oder Wochen erwartet? Noch 1994 hatte die "Bild" getitelt: "Adiós Fidel, du hast noch hundert Tage!"

Über solche Analysen macht sich der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura gerne lustig. 2009 kritisierte er in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" die europäischen Intellektuellen, weil diese in Kuba "immer ein Symbol" sähen. "Und sie wollen, dass die kubanische Realität in ihre Vorurteile reinpasst. Es gibt die Rechten, die sagen: ‚Kuba ist die schlimmste Diktatur, die existiert.‘ Und die Linken: ‚Kuba ist das Paradies auf Erden.‘ Es ist weder das eine noch das andere." Er wolle den Rechten gerne zeigen, "dass man auf Kuba, auch wenn man arm ist, immer noch in Würde lebt. Jeder kann lesen und schreiben, auf Kuba gibt es Armut, aber kein Elend. Das unterscheidet uns von Mexiko, Kolumbien oder Bolivien."

Andre Scheer

CUBA LIBRE 4-2022