Gerardo Alfonso lässt uns wieder durchatmen

Endlich wieder Live-Konzerte.

Als zum Sommerbeginn die lang ersehnten Live-Konzerte auch wieder in geschlossenen Sälen zugelassen wurden, war Gerardo Alfonso einer der ersten Künstler, die ihr Gesicht zeigten.

Gerardo Alfonso in Berlin 2016

Gerardo Alfonso in Berlin 2016
Foto: Cuba si

Er hatte in ziemlich kurzem Abstand zwei Auftritte, den ersten in der "Casa de Las Americas", bei dem wir leider nicht waren, weil wir zu spät davon erfuhren. Hier sind wir auf den Artikel Guille Vilars angewiesen, der anderntags im Kulturteil der Granma erschien. Würdiger Anlass für den Musik-Abend war das Zweite Internationale Kolloquium für Afroamerikanische Studien, das von der "Casa" gesponsert wird. Wer mit Gerardos Werk ein wenig vertraut ist, weiß, welche Rolle diese Thematik (das Album "Raza", die "Route der Sklaven", um nur einiges Weniges zu nennen) darin spielt.

Guille Vilar bezieht sich auf mehrere Stücke Gerardos während besagten Konzerts in der "Casa". Um die Top-Hits, die verlässlich entweder mitten im Auftritt oder (wahrscheinlicher) als kalkulierte Zugabe kommen, brauchen wir uns hier nicht weiter zu kümmern. Die kennt jeder, der diesen Singer/Songwriter kennt. Hellhörig wurde ich bei "Cuidado cuando corres". Diesen Titel bringt er live nicht oft. Er geht, wie nicht wenige von Gerardo Alfonsos Liedern, auf ein persönliches Erlebnis zurück. Als er eines Tages – als Halbwüchsiger – noch den Bus erwischen musste, spät dran war und entsprechend Fersengeld gab, erhielt er von jemandem, der ihn kannte, einem Wohlmeinenden, diesen Rat: "Cuidado cuando corres!" (Obacht, wenn du rennst!). Auf die Frage, weshalb er denn wohl aufpassen solle, wenn er renne, erhielt er zur Antwort, dass er – als Schwarzer! – damit Argwohn erwecke. Wie einer, der sich von einem Tatort entferne, nachdem er jemanden beklaut oder verprügelt habe …

Eine ernste Angelegenheit, "was aber nicht heißt, dass wir nicht alle in den fröhlichen Refrain einstimmten", weiß der Autor des Granma-Beitrags zu berichten. Ich habe an anderer Stelle die gleiche Erfahrung gemacht. Doch dass man imstande ist, sich über das Lied zu amüsieren, macht es ja nicht weniger bedenkenswert. Ein rassistischer Ausspruch, an dem man komische Seiten entdeckt, bleibt rassistisch. Über "Vorsicht, wenn du rennst" zwanglos lachen kann eigentlich nur der Betroffene selbst. Wie aber sollen wir – die Besucher – uns dazu stellen? Womöglich ist unsere Unsicherheit im Umgang mit dem Song ja intendiert, was schließlich auch völlig in Ordnung wäre.

Etwas anderes, bei dem ich Guille Vilar nur mit größtem Vorbehalt zu folgen bereit bin, ist sein Exkurs zur "Guayabera". Er sieht an Gerardo "das Ergebnis einer kreativen Reife, (…) die für eine optimale Kommunikation mit dem Publikum unerlässlich ist". Und jetzt kommt’s: "Der erste Eindruck, den wir von dieser beruflichen Entwicklung des Musikers erhalten, ist vielleicht die ungewöhnliche Entscheidung, in einer Guayabera aufzutreten, einem eleganten kreolischen Kleidungsstück, dessen Verwendung in der Tat eine respektvolle Beschwörung der Werte der Nationalität impliziert."

Grundgütiger! Wäre es nicht auch ein paar Nummern kleiner gegangen? Zugegeben: Man benutzt dieses Oberteil vorzugsweise bei weihevollen Handlungen. Wenn ich etwa dabei helfen soll, jemanden vor den Traualtar zu bringen (oder unter die Erde), bin ich recht froh, wenigstens eines meiner beiden Exemplare anziehbereit vorzufinden. Es kann – und da liegt der Hase im Pfeffer – aber auch durchaus passieren, dass ich an einem stinknormalen Tag mit einer Guayabera unter die Leute gehe, weil es rein zufällig das einzige Hemd war, das mein Kleiderschrank noch hergab. Ich bin nicht besonders gut organisiert. Ist Gerardo Alfonso es?

Genug des Lästerns! Das Konzert hätten wir bestimmt gern miterlebt.

Das war uns wenige Wochen später vergönnt, als Gerardo – vor wesentlich mehr Publikum – im altehrwürdigen Cine Charles Chaplin auftrat. Ich weiß gar nicht, ob der berühmte Charlie zu seinen Lebzeiten irgendwann einmal dort war. Seine Tochter Geraldine besitzt jedenfalls eine Schwäche für dieses Kino und hat es schon mehrmals besucht. Dem Konzert im "Chaplin" ging ein Dokumentarfilm über den Liedermacher voraus: "Sueño de Isla" von Rolando Almirante. Er bietet unter anderem Ausschnitte von denkwürdigen Konzerten und dessen ganze Bandbreite buchstäblich zwischen dem sehr persönlichen Moment liegt, als Gerardo uns sein Elternhaus in San Miguel de Padrón zeigt, und jener Szene, als er auf dem Höhepunkt der 500-Jahr-Feier Havannas die Freitreppe des Capitolios hinunter tanzend sein berühmtes "Sabanas Blancas" singt, die Hymne über die kubanische Hauptstadt. Unter den mittlerweile sehr vielen Liedern, die Havanna gewidmet sind, kommt keines diesem gleich.

Gerardo gab jenes zweite Konzert gemeinsam mit seinen beiden Söhnen (eine Uraufführung), wobei mir die ersten musikalischen Gehversuche seines älteren Sohnes Tobias – mittlerweile 22 – der teils seinen Vater zu kopieren versuchte und teils einer Art Folk-Rock zuneigte – durchaus noch erinnerlich sind, während ich die Entwicklung seines Jüngeren, Diego, im Grunde überhaupt nicht mitbekommen habe. Ihn hatte ich nur als einen im Gedächtnis, der damals – als Junge – malte.

Er hat sich der klassischen akustischen Gitarre verschrieben, spielt Solo-Stücke, bei denen er exponiert ist wie Oma im Nachthemd auf dem Marktplatz. Will sagen, der geringste Fehler muss selbst einem Laien auffallen. Das erscheint mir insofern bemerkenswert, da ich noch gut weiß, dass wir nach einem Konzerts seines Vaters im "Abelardo Estorino" (neben dem Kulturministerium) ins Gespräch mit dem seinerzeit 11- oder 12jährigen kamen. Irgendwie landeten wir beim Ritual des Fahnenhissens vor dem Unterricht durch die Schüler. Diego zählte auf, was alles dazugehört: Flagge entfalten (nur noch von der Schwierigkeit des Zusammenfaltens übertroffen), einhängen, hochziehen, und so weiter "und all das haargenau nach den Regeln, aber die hat nicht jeder, der die Aufgabe bekommt, vollständig drauf. Und ihr macht euch ja keine Vorstellung, wieviel Unfug jemand mit der Bandera anstellen kann, ohne es zu merken. Natürlich schimpfen dann die Lehrer. Also ehrlich: Lieber drück ich mich, wenn ich kann …"

Dieses "lieber nicht auffallen" steht dem, was er heute macht, ziemlich diametral gegenüber. Heute – mit inzwischen 17 – spielt er vor Hunderten von Leuten Mason Williams, wobei ich einen verrückten Moment lang das Gefühl hatte, dass er sich immer noch ein bisschen kleiner und schmächtiger machte, als er ohnehin ist. Inmitten des donnernden Beifalls. Aber das wird er wohl nicht mehr ganz los. Gerardo platzte schier vor Stolz.

Er hatte, bevor er an Diego übergab, sich in einer eher kurzen Sequenz von vielleicht sieben Stücken auf der Gitarre begleitet. Auffällig war, dass es beinah ausnahmslos wenig bekannte Nummern waren – so, als wollte er selbst in den Hintergrund treten.

Zusammen mit Tobias (am Piano) spielte er dann noch ein paar seiner gängigeren Sachen. Er schaffte es, zum Ende zu kommen, ohne den Che-Song "Son los sueños todavia" gebracht zu haben, was fast ein Sakrileg ist. Stattdessen war "Amigos" die Schlussnummer, gefolgt von standing ovations. Diese waren gewiss ein Dank an die Familie Alfonso, aber ebenso sicher Ausdruck der Freude darüber, dass solche strahlenden Events wieder möglich sind. Bleibt zu hoffen, dass so bald keine neue Schranke runterkommt.

Ulli Fausten

CUBA LIBRE 4-2022