Vor 55 Jahren wurde Ernesto "Che" Guevara in Bolivien ermordet.
Mit diesem Satz beantwortete Guevara die Frage nach dem Grund des bewaffneten revolutionären Kampfes, den er und seine Kameraden 1959 in Kuba nach drei Jahren siegreich beendeten. "Er greift zu den Waffen, um des Volkes gewaltsamen Protest gegen seine Unterdrücker zum Ausdruck zu bringen; er kämpft, um das soziale Gefüge umzustürzen, das alle seine unbewaffneten Brüder in der Schmach und im Elend hält. (...) Der Guerillero ist in höchstem Sinne des Wortes der Freiheitskämpfer, der Auserwählte des Volkes, dessen kämpfende Avantgarde im Kampf für die Befreiung. (...) Die Guerilla-Armee setzt sich aus allen Einwohnern einer Region oder eines Landes zusammen. Das ist das Wesen ihrer Kraft und ihres früheren oder späteren Triumphes über jede Macht, die sie zu unterdrücken sucht; mit anderen Worten: Die Grundlage und das Substrat der Guerilla-Bewegung bildet das Volk".
Die aus dem Erfolg der kubanischen Revolution hergeleitete Fokus-Theorie* ließ ihn nicht mehr los, auch als er nach etlichen Jahren der Regierungsverantwortung in Kuba 1965 mit einer Gruppe kubanischer Kämpfer vergeblich versuchte, dem Befreiungskampf im Kongo eine Wende zu geben. Doch die Bedingungen waren nicht derart, dass daraus eine breite Volksbewegung entstehen konnte. Dieses Scheitern ließ ihn zwei Jahre später in Bolivien einen neuen Versuch unternehmen. Am 8. Oktober 1967 wurde seine Guerillatruppe nach entbehrungsreichen Monaten von der bolivianischen Armee eingekreist und er geriet verwundet in Gefangenschaft. Gegen Mittag des folgenden Tages wurde er von Mario Terán auf Befehl der Regierung und ihrer US-amerikanischen Unterstützer erschossen.
Ihn auf das berühmte Foto von Alberto Korda, auf das Bild des "Guerillero Heroico" festzulegen, greift jedoch viel zu kurz. Beständig war er dabei, seinen Horizont zu erweitern. "Für ihn gab es keinen Tag der Ruhe. Wenn wir zu den Fenstern seiner Büros hinaufsahen, sahen wir die Lampen bis tief in die Nacht brennen. Er studierte und arbeitete. Sein Drang, sich umfassendes menschliches Wissen anzueignen, war unstillbar", sagte Fidel Castro über ihn. So kann es nicht überraschen, dass der Arzt Guevara nach dem Sieg der Revolution kurzerhand das Amt des Wirtschaftsministers übernahm. Er stellte die "klassischen" kapitalistischen Wirtschaftskategorien wie das Wertgesetz, Geld, Kredit und Profit sowie materielle Entlohnung als Triebfedern wirtschaftlicher Entwicklung in Frage, auch wenn ihm klar war, dass sie nicht von heute auf morgen sofort zu beseitigen und zu ersetzen waren. Doch ihre kritiklose Beibehaltung versperre den Weg in eine sozialistische Zukunft und reproduziere alte Denkmuster. Der befreite, der "neue Mensch" ist sein Leitbild, der die Arbeit nicht als Bürde, als notwendiges Übel auf sich nimmt, sondern sich der Notwendigkeit für Veränderungen zugunsten aller voll bewusst ist und bereit ist, "jeglichen Vorteil als einzelner für das Allgemeinwohl zu opfern". Guevara wusste, dass dies ein überaus mühsamer Weg war, doch stets ging er mit seinem persönlichen Beispiel voran.
Che Guevara, 5. März 1962 |
Kuba verfügte noch nicht über ausreichende Mittel, um die Bedürfnisse eines jeden voll befriedigen zu können. Doch grundlegende Voraussetzungen für ein Leben in Würde, an denen es der arbeitenden Bevölkerung vor der Revolution gemangelt hatte, standen und stehen bis heute für alle kostenlos - oder zu geringen, für alle bezahlbaren Gebühren - zur Verfügung: Gesundheitsversorgung, Bildung und Weiterbildung, Kultur, Wohnraum und eine Grundversorgung mit Nahrungsmitteln. Dies kann bereits gesehen werden als die Vorwegnahme der kommunistischen Zukunftsvision "Jedem nach seinen Bedürfnissen", wenn auch erst in einem begrenzten Umfang. Überfluß und Luxusgüter kann das arme Land nicht bereitstellen. Guevara: "Darum wird das materielle Interesse den Aufbau des Sozialismus notwendig noch eine Zeitlang begleiten. Aber gerade deshalb ist es auch Sache der wegbereitenden Partei, die entgegengesetzte Haltung zu propagieren: Das moralische Interesse, den moralischen Impuls, die Haltung von Menschen, die kämpfen und sich opfern und dafür nichts anderes erhoffen als die Anerkennung ihrer Genossen, nichts anderes erwarten als die Bestätigung (...) Der materielle Anreiz bezeichnet ein Überbleibsel der Vergangenheit. Mit ihm müssen wir zwar rechnen, aber wir müssen seine Übermacht im Bewusstsein des Volkes dementsprechend brechen, wie die sozialistische Entwicklung fortschreitet. Der moralische Antrieb wird immer ausgeprägter, der materielle Anreiz muss dagegen ebenso entschieden ausgeschaltet werden. Er wird in der neuen Gesellschaft keinen Platz haben; er wird auf dem Weg dahin aufgegeben werden (...) und durch den moralischen Anreiz, durch Pflichtgefühl und ein neues revolutionäres Bewusstsein ersetzt werden."
Notwendigkeit des Internationalismus
Ein weiteres zentrales Element seines Denkens war der Internationalismus - aus der Einsicht heraus, dass die unterdrückten Völker umso mehr auf den Erfolg ihres Kampfes gegen den Imperialismus rechnen können, je stärker sie zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Die barbarische Aggression der USA gegen Vietnam, die in ihrem Ausmaß alles bis heute Nachfolgende in den Schatten stellt, sowie der zähe und zielstrebige Abwehrkampf des vietnamesischen Volkes waren das Lehrbeispiel jener Jahre: "Hier in Kuba besteht unsere Aufgabe darin, dieses praktizierte Beispiel auszuwerten, es dem Volk als gerechte Sache nahezubringen, als integralen Bestandteil der großen Bruderschaft der geplagten Völker dieser Erde. (...) Viele Völker Amerikas sind reif für die Revolution, nicht nur die, die ihren Befreiungskampf bereits begonnen haben. (...) Sie wissen, dass der nordamerikanische Imperialismus in ganz Amerika intervenieren wird. Sie wissen aber auch, dass der Kampf für ihn umso schwerer sein wird, je mehr Fronten gleichzeitig aufbrechen. Heute handelt es sich ja nicht mehr um einzelne Länder, wie auch Kuba in diesem Teil der Welt kein selbständiges Land, sondern Teil einer ganzen Nation und außerdem Symbol für ganz Amerika ist. Solchermaßen beginnt jedes Volk, das den Kampf aufnimmt, das Grab des Imperialismus zu schaufeln."
Für ihn war klar, dass die Feindschaft der USA gegen Kuba darauf orientiert ist, "...all das, was diese Regierung geleistet hat, sämtliche sozialen Errungenschaften und alle Mitglieder dieser Regierung zu vernichten. Wir wissen das alle genau, und darum ist es ein Kampf auf Leben und Tod. Auch das Volk von Vietnam weiß das. Es gibt nur Sieg oder den Untergang, durch den die unterdrückten Völker dem Imperialismus wieder auf Jahre ausgeliefert wären."
Anlässlich des Todes von Guevara sagte Fidel Castro: "Der Künstler, und vor allem der in der so gefährlichen Kunst des Volkskampfes, mag sterben. Es stirbt aber nicht die Kunst, der er sein Leben und seine Intelligenz gewidmet hat, mit ihm. (...) Bemerkenswert ist alleine die Tatsache, dass er nicht schon früher, bei einer der unzähligen Gelegenheiten, bei denen er sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, in einem Gefecht gefallen ist. Und häufig war es notwendig einzugreifen, um zu verhindern, dass er in einer Aktion von untergeordneter Bedeutung sein Leben verlor. (...) Wir wissen nicht, ob er mit übertriebener Kühnheit gehandelt hat. Aber seine Achillesferse als Guerillero waren seine übermäßige Kampfbereitschaft und die völlige Missachtung jeder Gefahr. Darin mit ihm übereinzustimmen, fällt uns schwer. Denn wir glauben, dass sein Leben, seine Erfahrung, sein Ansehen und alles, was er bedeutete, von uns unvergleichlich viel besser eingeschätzt werden konnte als von ihm. Sein Verhalten mag tief durch den Gedanken beeinflusst gewesen sein, dass die Menschen in der Geschichte nur einen relativen Wert besitzen, dass die Sache nicht verloren geht, wenn die Menschen fallen, und dass der unaufhaltsame Verlauf der Geschichte sich nicht umkehrt, wenn die Anführer sterben. Und das ist wahr, das kann man nicht bezweifeln. In dem Gedanken drücken sich sein Glauben an den Menschen, sein Glauben an die Ideen, sein Glauben an das Beispiel aus. Trotzdem hätten wir uns alle von ganzem Herzen gewünscht, ihn als Vollender zu sehen, als Sieger von Siegen, die unter seiner Führung errungen worden wären, weil Menschen mit seiner Erfahrung, von seiner Größe, mit seinen wirklich einzigartigen Fähigkeiten so selten sind. Wir sind völlig davon überzeugt, dass sein Beispiel als Ansporn dienen wird, dass in den Völkern Männer aufstehen werden, die ihm gleichen."
Mit nur 39 Jahren wurde Guevara von seinen Feinden aus dem Leben gerissen – ein schwerer Verlust für Kuba, die weltweite revolutionäre Bewegung und die Weiterentwicklung der marxistischen Lehre. Einen Gerichtsprozess, der weltweit große Aufmerksamkeit gefunden und die brutale Ungerechtigkeit in der Welt zum Thema gemacht hätte, verweigerten ihm seine Mörder. Er war noch längst nicht auf dem Höhepunkt seines Denkens angelangt und hätte noch sehr viel mehr geben können. Doch vor allem sein Ansatz, eingefahrene Wirtschafts-"Rationalität" zu überwinden und stattdessen den bewußt handelnden Menschen als den entscheidenden Akteur zu sehen, ist für jede zukünftige sozialistische Entwicklung eine wichtige Erkenntnis. Dass Kuba nach seinen Tod jetzt schon 55 Jahre allen Widrigkeiten trotzt, gibt ihm rückblickend recht.
* Von einem Fokus aus, dem Kern einer Gruppe entschlossener Revolutionäre, sollte die Revolution in die ländliche Bevölkerung hineingetragen werden. Der Wille und die Entschlossenheit des Revolutionärs wird über das Vorhandensein objektiver Voraussetzungen für eine Revolution gestellt. (die Red.)
Wolfgang Mix
CUBA LIBRE 4-2022