Niemand wird zurückgelassen

Als am 25. November 1956 die Yacht "Granma" von Tuxpan in Mexiko aufbrach, um mit 82 Kämpfern an Bord gegen den kubanischen Diktator Batista den bewaffneten Kampf zu eröffnen, brach eine neue Etappe der Revolution an. Ihr Führer, der junge Rechtsanwalt Fidel Castro, erklärte seinen Mitstreitern vor der Abfahrt: "Von einer Reise wie dieser kehrt man nicht zurück, oder man kehrt zurück mit der enthaupteten Tyrannei zu seinen Füßen." Das waghalsige Unternehmen wäre im ersten Fall kaum mehr als eine Fußnote der Geschichte geblieben, und niemand konnte damals den weiteren Verlauf erahnen: Gleich nach der mühsamen Landung in Kuba wurde die Expedition angegriffen und zerstreut. Einige konnten fliehen und sich in ihre Heimatorte zurückziehen. Die meisten kamen ums Leben. Nur zwölf Teilnehmer, unter ihnen Fidel und Raúl Castro, Ernesto Guevara, Juan Almeida und Camilo Cienfuegos schafften es in die Berge der Sierra Maestra und begannen mit Unterstützung der Bauern und des städtischen Untergrundes ihren Guerillakrieg. In nur drei Jahren wurde die Diktatur hinweggefegt und Kuba wurde zum ersten Mal seit seiner formellen Unabhängigkeit zu einer Gesellschaft, in der die Menschen selbst über ihre Zukunft entscheiden können.



Granma

Mit jedem Mann der Granma kam ein Stück Hoffnung
Foto: Granma-Archiv



Die Überfahrt nach Kuba auf dem kleinen und altersschwachen Boot, das nur für 8 bis 10 Personen ausgelegt war, war eine siebentägigen Strapaze. Nicht alle der Männer fanden sitzend Platz, so dass abwechselnd gesessen und gestanden wurde. Schlechtes Wetter setzte den Revolutionären nach kurzer Zeit zu. Ernesto Guevara schrieb in seinen Aufzeichnungen: "Auf dem Boot präsentierte sich eine grotesk-tragische Situation: Männer, deren Gesichter ihre Qual widerspiegelten, umklammerten ihre Leiber. Einige steckten mit dem Kopf in Eimern, andere lagen in verkrümmten Positionen am Boden, unbeweglich und mit von Erbrochenem verschmutzter Bekleidung. Abgesehen von zwei oder drei Seeleuten und von vier oder fünf Besatzungsmitgliedern, waren alle seekrank." Einsickerndes Wasser musste mit Eimern ausgeschöpft werden. Der Motor machte Probleme und ein beträchtlicher Teil der Ausrüstung wurde ins Meer geworfen, um ihn zu entlasten. Am Schluss waren kaum noch Verpflegung und Trinkwasser vorhanden. Es bestand die Gefahr, entdeckt zu werden. Wie man später herausfand, hatten die Dienste der Diktatur bereits Wind von der Aktion bekommen und Suchflugzeuge patrouillierten die Küste.

Am sechsten Tag kam es zu einem Zwischenfall, der eine symbolische Bedeutung erhielt. Roberto Roque war einmal mehr auf das Dach der Kabine geklettert, um Ausschau zu halten, als eine große Welle heftig gegen das Boot schlug. Er verlor den Halt und stürzte ins Meer. Bei hohem Seegang und trübem Wetter verlor man sofort die Sicht auf ihn. Lichter durften nicht eingeschaltet werden, denn man befand sich bereits in der Nähe von Land. Man kreiste im Meer und brüllte seinen Namen, doch die Suche blieb lange vergeblich. Roque selbst war ein erfahrener Seemann und bemüht, in dieser schwierigen Lage nicht in Panik zu verfallen. Vergeblich versuchte er, sich der schweren Stiefel zu entledigen. Es gab Momente, in denen er einen kurzen Blick auf die Yacht hatte oder die Stimmen seiner Genossen hören konnte. Nach einer halben Stunde sank an Bord die Hoffnung, ihn noch zu finden. Doch Fidel bestand darauf, weiter zu suchen: "Wir müssen ihn finden!" Dann sah Roque das Boot in seiner Nähe und mobilisierte die letzten Kräfte, sich ihm schwimmend zu nähern. Sein Rufen wurde gehört und er konnte geborgen werden. Die ganze Aktion hatte fast eine Stunde gedauert und man hatte wertvolle Zeit verloren. Doch dieser Erfolg beflügelte die Stimmung an Bord. Sollte es Zweifel über den Charakter der Expedition gegeben haben, so wurde allen Teilnehmern vor Augen geführt, dass sie als Menschen es waren, die den Vorrang hatten vor allen anderen Erwägungen.

Dieser Grundsatz zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der kubanischen Revolution. Gegenwärtig hört man aus Kuba immer wieder den Satz, dass niemand zurückgelassen wird. Dies angesichts einer schwierigen wirtschaftlichen und finanziellen Lage und einer sich verstärkenden sozialen Ungleichheit in Bezug auf Zugang zu Dingen des täglichen Bedarfs, zu Devisen und damit auch zu Konsumgütern. Ein opulenter Lebensstil, welcher den tatsächlichen Möglichkeiten der wirtschaftlichen Unterentwicklung nicht gerecht wird, sickert als Leitbild über digitale Medien und subversive Stimmungsmache ein und schürt Unzufriedenheit. Das sozialistische Prinzip der gleichen Zuteilung für alle gerät in dieser Situation unter Druck. Doch das Problem wird gesehen und man arbeitet dem entgegen, indem besonderes Augenmerk auf die Lage benachteiligter Sektoren der Gesellschaft gelegt wird. Gelingt es der neuen Generation in den Funktionen der Gesellschaft, die Menschen auf der Grundlage eines sozialistischen Gemeinsinnes erneut zu mobilisieren und zu motivieren, wird sie sich der revolutionären Generation und deren Entbehrungen und Opfern würdig erweisen.

CUBA LIBRE Wolfgang Mix

CUBA LIBRE 4-2022