Notizen eines kubanischen Sommers

Kuba in den schwierigsten Zeiten der letzten Jahre.

Eines muss gleich zu Anfang gesagt werden: Kuba erlebt gerade die schwierigsten Zeiten der letzten Jahre. Die Probleme, die andere Länder durch die globale Krise, den Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel und Treibstoff haben, muss man sich im Fall der Insel um ein Vielfaches multipliziert denken.

Minas de Matahambre in Pinar del Rio

Menschen in der Gemeinde Minas de Matahambre in Pinar del Rio berichten Miguel Díaz-Canel von der harten Arbeit, die sie geleistet haben, und von der Arbeit, die sie noch vor sich haben.
Foto: Estudios Revolución



So haben nur die über 130 neuen Sanktionsmaßnahmen des Präsidenten Trump dem Land zusätzliche Schäden von über fünf Milliarden Dollar verursacht. Allein dessen letzter Schachzug – den er quasi in den letzten Minuten seiner Amtszeit machte und mit dem er Kuba auf die Liste der Staaten gesetzt hat, die den Terrorismus unterstützen – verursacht dem Land riesige Probleme mit großen Auswirkungen auf seine Wirtschaft und seine Finanzen, weil Kuba dadurch fast komplett vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten wurde. Jedes Unternehmen, jede Bank, jeder Investor hat Angst, mit einem Staat Geschäfte zu machen, den die USA auf diese Weise gebrandmarkt haben, auch wenn jedem klar ist, dass dies ein rein willkürlicher Akt war. Alle Manöver, die notwendig sind, jede Transaktion zu verschleiern, machen die Produkte teurer und teurer. Kuba muss für alles, was es importiert, 20 Prozent mehr als jedes andere Land bezahlen.




Devisen bzw. deren Knappheit sind das große Problem, das fast alle anderen mit sich bringt. Deswegen war auch die angekündigte Schaffung eines neuen Devisenmarktes mit einem "wirtschaftlich begründeten Wechselkurs, auf dem alle Währungen einschließlich des Dollars, gehandelt werden", die am meisten diskutierte von allen vorgesehenen Maßnahmen. Als dann am 3. August in der Sendung Mesa Redonda bekanntgegeben wurde, dass ab dem folgenden Tag der Staat Fremdwährungen zu einem Wechselkurs von 120 Pesos für einen Dollar (mit entsprechenden Kursen für Währungen wie Euro, mexikanischer Peso etc.) kaufen werde, war die Überraschung groß, aber die Gefühle in der Bevölkerung waren durchaus gemischt. Man ahnt wohl das damit verbundene Risiko. Aber Fakt ist, dass der Staat jetzt in Konkurrenz zu dem illegalen Markt gegangen ist, der die ganze Zeit immer größere Blüten trieb. Der Kubaner oder Ausländer mit Dollar oder Euro in der Hand wollte sein Geld in der Regel nicht zu einem Kurs 24 Pesos für einen Euro umtauschen, sondern hat lieber mit einem von den Händlern, die sich an jeder Ecke anboten, sein Geschäft gemacht und dafür 100, 110 oder was auch immer der illegale Tageskurs gerade war, eingeheimst. (Ich hatte ja bereits mal erwähnt, dass als wir 1000 Euro bei einer Banco de Comercio umtauschen wollten, man da hektisch alles an Scheinen zusammensuchte und uns sagte, das sei man nicht gewohnt, die Leute tauschten, wenn überhaupt, nur kleine Beträge um.) All diese Devisen gingen also bisher am Staat vorbei. Jetzt möchte man erst einmal so viel Fremdwährung wie möglich einsammeln, daher der höhere Kurs. Wenn man das gleiche Geld auf legalem Wege bekommen kann, werden die Leute in der Regel nicht die Spekulanten aufsuchen. Es ist nicht dasselbe, sich in die Sicherheit einer Bank zu begeben, wo alles transparent ist, oder ein Geschäft mit unbekannten Personen in einem unbekannten Haus zu tätigen. Natürlich wird es immer Leute geben, die trotzdem den illegalen Händler aufsuchen, aber der geht jetzt auch ein großes Risiko ein. Er begeht eine Straftat, und es wurde bereits gesagt, dass dem jetzt ein Ende gesetzt werden soll. Es war zwar schon immer illegal, aber die Verfolgung dieses Treibens war äußerst lasch. Wahrscheinlich fühlte sich der Staat selbst nicht wohl dabei, den Leuten für einen Euro nur 24 Peso zu geben. Für den Touristen außerhalb der all-inclusive Anlagen war dieser Zustand wohl auch sehr verwirrend. Sobald jetzt also der potenzielle Kunde am Flughafen ankommt, ist da jetzt sofort die Cadeca, die Wechselstube, wo er sein Geld umtauschen kann. Und es muss jetzt auch mit Nachdruck durchgesetzt werden, dass die Währung, die in Kuba gilt, der kubanische Peso ist und sonst nichts. Es darf so z. B. keine Taxifahrer mehr geben, die sich weigern, kubanische Pesos anzunehmen. All das muss jetzt der Vergangenheit angehören. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, dass der Staat die Kontrolle übernehmen kann. Er verfügt über ein ausgedehntes Bankennetz, einschließlich der Möglichkeit elektronischer Überweisungen. Die Leute können jetzt ganz bequem über Transfermovil von zuhause aus 100 Dollar tauschen und dafür 12.000 CUP bekommen.

Für die Menschen, die sich keine Deviseneinnahmen verschaffen können, liegen die Vorteile dieser Maßnahmen allerdings in weiter Ferne. Sie werden sie erst bemerken, wenn sie ihnen durch eine allgemeine Verbesserung der Wirtschaft, einen Rückgang der Preise und ein stabileres Angebot an Waren und Dienstleistungen zugutekommen.

Alles steht und fällt damit, ob es gelingt, an mehr Devisen zu kommen. Die finanziellen Zuwendungen, die sog. remesas, die Angehörige aus dem Ausland ihrer Familie in Kuba zukommen lassen und die einmal drei Milliarden US-Dollar pro Jahr eingebracht haben, sind durch die Schließung von Western Union und anderen Anbietern immer weniger geworden. Überall auf der Welt können diejenigen, die in andere Länder ausgewandert sind, ihre Familien in der Heimat unterstützen. Aber auch dies wird Kuba verwehrt. Der mexikanische Präsident Manuel López Obrador wies darauf hin, dass laut Daten der Bank von Mexiko sein Land im Jahr 2021 insgesamt 51.585 Millionen Dollar von Mexikanern erhalten habe, die in den USA arbeiten. Dies helfe dabei, die Krise zu überwinden, weil diese Überweisungen die Haupteinkommensquelle des Landes darstellen würden. Nun arbeiten naturgemäß nicht so viele Kubaner in den USA wie Mexikaner, aber auch deren Geldtransfers würden der Wirtschaft Kubas einen positiven Schub versetzen. Deshalb setzte sich der mexikanische Präsident vehement dafür ein, dass auch kubanische Migranten, genau wie alle anderen auf der Welt, die Möglichkeit haben müssten, ihren Familien in Kuba problemlos Geld zukommen zu lassen. Im Rahmen des von der UNO proklamierten Internationalen Tages der Familienüberweisungen am 16. Juni hat die Internationale Organisation für Migrationen der UNO die Anstrengungen jener anerkannt, die ihre Familien im Herkunftsland unterstützen, ihnen so eine bessere Lebensqualität ermöglichen, was sie zu wichtigen Akteuren für die Entwicklung ihrer Gemeinden und das Wachstum ihrer Länder werden lässt. Auch in Ländern wie El Salvador, Honduras und Jamaika beispielsweise machen diese Überweisungen 20 Prozent des BIP aus. Aber dass die Gemeinden Kubas sich entwickeln und seine Wirtschaft wächst, das ist im Plan der USA nicht vorgesehen – im Gegenteil.

Ein Lichtblick ist Mexiko, das jetzt 200 Fachärzte aus Kuba angefordert hat, damit sie in Gebieten des Landes arbeiten, die nicht attraktiv sind und daher insbesondere von Fachärzten gemieden werden. Es gab zwar heftigen Protest der mexikanischen Ärztekammer, aber Präsident López Obrador hat die Argumente auf seiner Seite. Wenn kein mexikanischer Arzt dorthin möchte, müsse man eben eine andere Möglichkeit finden, die Bevölkerung dort medizinisch zu versorgen, meinte er, und kündigte an, weitere kubanische Ärzte in anderen Gemeinden einsetzen zu wollen. Auch in Honduras mit der neuen Präsidentin Xiomara Castro werden ab September wieder einige kubanische Ärzte arbeiten.

Touristen sieht man zwar wieder, aber immer noch nicht genug, auch wenn ich heute nach langer, langer Zeit wieder eine Gruppe deutscher Touristen in Begleitung eines kubanischen Reiseführers über den Markt 19 y A in Vedado habe laufen sehen. Vielleicht kommen ja in der kälteren Jahreszeit größere Massen. Aber auch wenn es jetzt möglich ist, mit der MIR Kreditkarte überall an den Kassenautomaten Geld zu ziehen, wird sich die Zahl der russischen Touristen, die vor COVID den größten Anteil stellten, wohl in Grenzen halten. Durch die Sanktionen der Europäer sind keine Direktflüge von Russland nach Kuba mehr möglich. Jeder Flug auf die Insel muss über Istanbul gehen, was ihn für die meisten wohl unerschwinglich macht. Ob aber die unsichere Lage die übrigen nicht sanktionierten Europäer mit ihren Devisen zu uns bringt und wir die avisierten 2,5 Millionen Besucher erreichen werden, steht noch in den Sternen.

Wiederaufbau nach dem Sturm

Beim Wiederaufbau nach dem Sturm spricht man lieber ...
Foto: Jaliosky Ajete Rabeiro




Um an weitere Devisen zu kommen, sollen jetzt Joint Ventures zwischen staatlichen und privaten Unternehmen erlaubt werden. Die Zusammenarbeit zwischen beiden Unternehmensformen gab es ja schon länger und hat sich in einigen Gemeinden bereits positiv ausgewirkt. Aber es ist trotzdem neu, dass sie jetzt auf Engste zusammengehen und sich nicht mehr als Gegner ansehen.

Auch die angekündigten Konsignationsverkäufe (eine Art Verkauf auf Kommission, die Red.) durch in- und ausländische Lieferanten sowie die Vergabe einer Lizenz an die kubanische Post für grenzüberschreitenden elektronischen Handel dienen diesem Zweck.

Außerdem hat Kuba zu erkennen gegeben, dass es am Kapital aus der Exilgemeinde interessiert ist. Es ist einiges in Bewegung und manches mag den Vertretern der reinen Lehre auch nicht gefallen. Aber die müssen sich auch nicht durch den kubanischen Alltag kämpfen.

Wie der Ökonom Ramón Labañino in der Sendung "Cuadrando la Caja sagte: "Ich habe eine besorgniserregende Zahl gehört. Dieses Jahr haben wir ein Haushaltsdefizit von 76.000 Millionen Pesos (CUP)."

Dass das Land noch so funktioniert, wie es das tut, grenzt an ein Wunder. Wir haben zwar COVID unter Kontrolle, wir können endlich wieder ohne Maske atmen, aber ansonsten ist alles so schwierig, wie in den letzten acht Jahren nicht, in denen wir hier leben. Es gab dieses Jahr keine Sonderzuteilung zum 26. Juli, und die Kroketten und Hähnchen kamen auch nicht wie geplant. Hay que improvisar: Man muss improvisieren, sagten mir die Leute, als sie am 26. Juli sahen, dass im Laden keine Ware geliefert wurde und sie sich wieder auf den Heimweg machten. Ein paar Unermüdliche standen immer noch im Schatten unter einem Baum und wollten die Hoffnung nicht aufgeben, aber es sah nicht gut aus. Wobei ich immer wieder bewundernswert finde, wie gelassen, die meisten damit umgehen. Ich betone hier, die meisten, weil es natürlich schon gelegentlich zu Ausbrüchen kommt und auch die Volksvertreter wüst beschimpft werden. Aber auch sie versuchen beruhigend auf die Menschen einzuwirken, erklären, lassen sich nicht provozieren. Trotz allem aber, und das kann gar nicht oft genug betont werden, ist die Lieferung der Grundnahrungsmittel auf Libreta nie ausgeblieben. Es gibt immer Reis, Bohnen, Zucker, Kaffee, Öl, in bestimmten Abständen Spülmittel, Seife, Zahnpasta, (auch wenn es im Augenblick Probleme mit dem Salz zu geben scheint) und die täglichen Brötchen. In konterrevolutionären Websites wurde kolportiert, dass es nur noch drei statt der bisherigen fünf Eier pro Person pro Monat gebe. Früher gab es mal zehn. Aber siehe da, es gab dann sechs in diesem Monat. Damit lässt sich nun nicht im Luxus leben, so viel steht fest. Aber allein das zu garantieren, verlangt von dem Land ungeheure Anstrengungen. Das, was man sonst noch braucht, muss man sich meist mit Schlange stehen erarbeiten. Eine der meist gestellten Fragen, die man überall hören kann, wenn man durch die Straßen geht, ist: Qué sacaron? Soll sinngemäß heißen: Was ist heute geliefert worden? Und je nachdem wie die Antwort lautet, sind die Schlangen dann größer oder kleiner. Für Leute mit MLC-Karte sind die Schlangen zwar kleiner, aber auch dort sind die Regale oft leer und auch dort ist die Freude groß, wenn man etwas findet, was man braucht. Es gibt eben kaum Devisen.

Die Versorgung mit Medikamenten ist zwar ein weiteres Problem, weil es sporadisch zu Engpässen kommt. Trotzdem werden die Basisarzneimittel in der Regel irgendwann geliefert und dann bekommt man die ausgefallene Dosis zusätzlich. Damit ist man erst einmal versorgt. Hier gibt es nämlich eine Karte, auf der die Medikamente vermerkt sind, die jemand regelmäßig braucht und auf die er Anrecht hat: Herz, Bluthochdruck, Diabetes etc. Dabei muss man sich klar machen, wie viel Geld der Staat allein für die Versorgung der Patienten mit Insulin ausgeben muss. Da muss – anders als bei Tabletten gegen Cholesterin – die Versorgung kontinuierlich gewährleistet sein, sonst sind die Auswirkungen katastrophal. Wenn es ganz schlimm kommt, besorgt man sich das Medikament zu überhöhtem Preis auf dem Schwarzmarkt, von Reisenden, die es etwa aus Mexiko eingeführt haben, wo man alle rezeptpflichtigen Medikamente ohne Probleme günstig erwerben kann. Oder man kennt jemanden, der noch ein Schmerzmittel übrig hat, denn Schmerzmittel zu bekommen, war eine Zeit lang praktisch unmöglich.

Wie von vielen erhofft, haben sich Vorfälle, wie die vom Juli letzten Jahres nicht wiederholt. Wie es scheint, war die Konterrevolution in Deutschland und die weltweit und besonders die von den USA aus digital Agierenden aktiver als die in Kuba, denn hier hat sich an diesem Tag nichts bewegt.

Dabei ist die Lage nichts anders als vor einem Jahr. Jeden Abend kommt in den Nachrichten, wie viele Kilowattstunden heute zu Spitzenzeiten fehlen. Die Stromabschaltungen in den Provinzen sind teilweise wirklich dramatisch und erinnern an die Sonderperiode. Langsam weiß jeder, wie jedes einzelne Kraftwerk funktioniert, welche Röhren heute wo undicht waren, wie aufopfernd die Arbeit in Heizkesseln ist und wann welcher Block von welchem Kraftwerk wieder ans Netz geht. Wahrscheinlich erstickt allein schon die tägliche Berichterstattung über die wirklich unter schwersten Bedingungen arbeitenden Menschen bei der Wiederherstellung des Kraftwerksbetriebs, den Frust vieler Betroffener. Havanna selbst hat bis jetzt, was die Stromversorgung betrifft, Glück gehabt. Allerdings wurde gerade beschlossen, dass allen Bezirken alternierend alle drei Tage von 10 bis 14 Uhr der Strom gesperrt wird. Ich weiß nicht, ob aus Solidarität oder ob man dadurch wirklich das Los der anderen erleichtern kann.

Baseball

... über Baseball als über die Widrigkeiten des Lebens
Foto: Boris Luis Cabrera/Cubadebate


Was sich aber gegenüber dem Sommer letzten Jahres geändert hat, ist das Sommerprogramm. Die Strände sind voll. Die Leute haben Spaß und man bemüht sich auch um deren leibliches Wohl. Zu Anfang gab es ein sehr gutes Angebot zu moderaten Preisen, aber an manchen Stellen scheint auch dort wieder der Mangel durchzubrechen. Für die Kinder gibt es Programm und auch dort wird immer Essen und Trinken für Eltern und Nachwuchs angeboten. Campismo Nacional, Camping in kleinen Häusern mit Freizeitprogramm und Restauration zu moderaten Preisen ist eine schöne Abwechslung für Familien, Kulturveranstaltungen in großem Stil. Nach zwei öden Covid-bedingten Sommerjahren ist all das ein Segen.



Problematisch scheint zurzeit die Entwicklung von Dengue. Nun ist Dengue im Sommer nichts Ungewöhnliches. Aber in den Jahren zuvor wurde immer, als die Lage sich zuspitzte, fumigiert. Ich erinnere mich an Zeiten, an denen dienstags einer zuhause bleiben musste, damit die Leute mit ihren Gerätschaften reinkamen. Das kann in diesem Jahr nicht geleistet werden, es ist einfach kein Benzin dafür da. Im Höchstfall kann die Wohnung in der Leute an Dengue erkrankt sind, ausgeräuchert werden. Mehr ist nicht möglich. Man versucht mit Spots auf die Leute einzuwirken, kein Wasser irgendwo offen stehen zu lassen etc. Aber es regnet fast jeden Tag, das reicht den Moskitos Aedes Aegyptis wohl, um sich zu vermehren, denn es gibt deren überall genug. Glücklicherweise scheinen sie keine besonders gefährliche Variante der Krankheit zu verbreiten.

Auch der Transport ist weiter ein riesiges Problem. Die dankenswerterweise gelieferten Gelenkbusse aus Belgien, die große Mengen von Leuten befördern können, sind zumindest für den kubanischen Sommer eigentlich nicht einsetzbar. Sie haben wohl eine Klimaanlage für gemäßigte Breiten und deshalb kann man kein Fenster öffnen. Es wird von Leuten berichtet, die ohnmächtig wurden und Kollegen von uns lassen lieber diesen Bus vorbeifahren und warten noch länger an der Haltestelle, als sich der Tortur auszusetzen. Dabei ist, den Arbeitsplatz zu erreichen, je nachdem wo man wohnt, eine strategische Meisterleistung. Ich habe mir von einer alleinerziehenden Mutter (der Vater des Kindes ist verstorben) erzählen lassen, wie sie täglich zur Arbeit gelangt.

"Von Montag bis Freitag geht um 5 Uhr der Wecker. Ich mache das Wasser im Boiler an, dusche kalt, mache alles fertig für das Pausenbrot und das Mittagessen für meinen 6-jährigen Sohn Emir. Die Flaschen mit Wasser und Saft nehme ich aus dem Tiefkühlfach und packe sie extra in Zeitungspapier, damit sie länger kühl bleiben.

Um 5.40 Uhr wecke ich den Jungen, und er bekommt ein Glas Milch ans Bett. Dann bringe ich ihn dazu, mit dem inzwischen warmen Wasser zu duschen. Die Schuluniform habe ich schon am Vortag gebügelt und der Rucksack ist auch für die Schule bereit. Er geht in eine Schule, die in der Nähe meines Arbeitsplatzes liegt.

Um 6.10 Uhr gehen wir zur Bushaltestelle, um zu sehen, ob wir einen Bus bekommen können. Um 7 Uhr ist noch nichts passiert. Auch kein solidarischer Fahrer ist vorbei gekommen, einer von denen, die einen ein Stück der Wegstrecke mitnehmen, ohne dafür etwas zu verlangen. Endlich, um 7.30 Uhr kommt der erste Bus. Wir können nicht einsteigen, er ist übervoll, wohl weil einer ausgefallen ist.

Wir versuchen, ein Taxi zu bekommen. Keine Chance, alle die vorbeikommen, sind schon besetzt. Dann um 8.30 Uhr kommt die Rettung – einer von diesen Omnibussen, die keinen festen Fahrplan haben. Wir steigen ein. Unterwegs hält er oft an, um neue Fahrgäste aufzunehmen oder welche aussteigen zu lassen. Als wir schließlich ankommen ist es 9.30 Uhr. Wir sind alle beide zu spät, aber wir sind angekommen.

Aber nicht alle Tage sind gleich. An anderen Tagen steigt man in den ersten Bus, der kommt, und fährt damit einen Teil der Strecke, dann nimmt man noch einen und vielleicht noch einen dritten. An manchen Tagen gehen wir schon um 5.30 aus dem Haus. Dann müssen wir noch früher aufstehen und wir kommen oft zu spät."

Während ich diese Zeilen schreibe, brennen immer noch Tanks eines großen Treibstofflagers in Matanzas, nachdem ein Blitz in einen dieser Tanks eingeschlagen hat, der so stark war, dass selbst die Sicherung mit Blitzableitern nichts nützte. Immer wieder kommt es zu Explosionen und schwarze Rauchschwaden ziehen über Havanna. Präsident Díaz-Canel hat befreundete Länder, die Erfahrung mit ähnlichen Katastrophen haben, um Hilfe gebeten. In der Nacht sind fünf Flugzeuge aus Mexiko und Venezuela mit Tonnen an chemischen Stoffen zum Ersticken der Flammen und mit Experten am Flughafen in Varadero gelandet. Selbst wenn die Flammen gelöscht werden können, haben wir Unmengen an Treibstoff verloren. Damit werden sich unsere Probleme bei der Stromversorgung weiter vergrößern. Hinzu kommt, dass die Beschaffung von Treibstoff für Kuba sowieso ein Problem ist, da viele Tanker die Insel aus Angst vor Sanktionen nicht anlaufen wollen, von der Finanzierung der jetzt notwendig gewordenen zusätzlichen Mengen an Diesel ganz zu schweigen. Nach der Explosion im Saratoga Hotel mit großen Zerstörungen und vielen Toten ist das die zweite Katastrophe binnen kurzer Zeit, die das Land bewältigen muss.

Die Konterrevolution in Miami jubelt und frohlockt bei jeder Katastrophe, die über uns hereinbricht und die wir wieder mit unseren wenige Ressourcen bewältigen müssen. Einschränkungen, die sich für uns durch die Blockade und durch solche Katastrophen ergeben, sind für sie ein willkommener Anlass, um weiter sagen zu können, dass das kubanische Modell nichts tauge. "Die Blockade wird aufrechterhalten, weil Kuba ohne sie ein Modell der menschlichen Gesellschaft wäre, das für die Weltordnung zu subversiv ist," sagte Präsident Díaz-Canel am 26. Juli.

Dieses Modell aufrechtzuerhalten, ist ein schwieriges Unterfangen. Durch die Beispiele in dem ganzen Text wird deutlich, welche Gratwanderungen dabei unternommen werden müssen. Denn um die soziale Gleichheit zu erreichen, die die Essenz des Sozialismus ist, muss man mit Maßnahmen leben, die zunächst eben diese soziale Gleichheit gefährden. "Diese wachsende Ungleichheit ist nicht nur das größte sozioökonomische Problem des Landes, sondern auch eine politische und ideologische Herausforderung. Soziale Gleichheit ist für den kubanischen Sozialismus nicht nur ein Ziel, sondern ein notwendiger Ausgangspunkt für jede Entscheidung. Der einzige Ausweg ist mehr Sozialismus, die einzige Lösung für Kuba ist mehr Revolution. Wenn wir die Gleichheit als unvermeidliche Variable in diesem Bestreben betrachten, haben wir eine größere Chance auf Erfolg in diesem wichtigen Kampf gegen die Armut, der notwendigerweise auch ein Kampf gegen die Ungleichheit als einen Wert sein muss, der mit den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der Volkssouveränität unvereinbar ist, die die Geschichte unseres Landes bestimmt haben", hat Michel Torres in einem Artikel geschrieben.

Damit Kuba diesen Kampf gewinnen kann, braucht es eure Solidarität. Die Welt muss wissen, was dieses Volk für seine Souveränität, für die Verwirklichung des Ideals einer gerechten Gesellschaft auf sich nimmt. Das zu vermitteln ist euer Teil dieses Kampfes.

CUBA LIBRE Renate Fausten

CUBA LIBRE 4-2022