Einer der ersten Glückwünsche kam aus Havanna. "Ich gratuliere Gustavo Petro brüderlich zu einem historischen Sieg des Volkes, zu seiner Wahl zum Präsidenten von Kolumbien", schrieb Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel Bermúdez in einer Nachricht auf Twitter.
Der neugewählte Präsident Kolumbiens, Gustavo Petro und seine Vizepräsidentin Francia Márquez |
Mit mehr als elf Millionen Stimmen, 0,44 Prozent, wurde am 19. Juni 2022 zum ersten Mal in der Geschichte Kolumbiens ein Linker zum Präsidenten des Landes gewählt. Der 62jährige Ökonom und ehemalige Guerillero war von zahlreichen linken und liberalen Kräften unterstützt worden. Dem "Historischen Pakt", wie sich das Bündnis nannte, gehörten neben Petros eigener Partei "Menschliches Kolumbien" (Colombia Humana) unter anderem der linksliberale Demokratische Alternative Pol, die Kolumbianische Kommunistische Partei und die aus der FARC-Guerilla hervorgegangene Partei Comunes an. Schon die Tatsache, dass eine solche Allianz die scheinbar ewige Dominanz reaktionärer bis faschistischer Machteliten in Kolumbien besiegen konnte, wird in die Geschichte eingehen, auch wenn die neue Regierung die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen sollte.
Aktuell stehen die Zeichen jedoch auf Kurswechsel. In dem vom Bündnis veröffentlichten Regierungsprogramm heißt es gleich zu Beginn, dass die politische Beteiligung der Frauen im Mittelpunkt stehen müsse, Ziel sei ein "Leben frei von Gewalt gegen Frauen und mit effektiver Garantie ihrer sexuellen und reproduktiven Rechte". Dazu werde man erstmals ein Gleichstellungsministerium einführen.
Das neue Amt übernehmen soll die neue Vizepräsidentin. Mit Francia Márquez, einer als Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin bekannt gewordenen Juristin, wird ab dem 7. August erstmals eine Afrokolumbianerin das zweithöchste Staatsamt bekleiden. In ihrer ersten Ansprache nach dem Wahlsieg widmete sie ihren Erfolg den Menschen, "die ihr Leben für diesen Augenblick gegeben haben, all unseren Brüdern und Schwestern, die als Anführer sozialer Bewegungen in diesem Land ermordet wurden, der ermordeten und verschwundenen Jugend, den vergewaltigten und verschwundenen Frauen". Dies sei ein historischer Augenblick für Kolumbien.
Unmittelbar zuvor hatte der neue Präsident Gustavo Petro die Behauptung seiner Gegner zurückgewiesen, er sei ein "neuer Hugo Chávez". In Kolumbien müsse es darum gehen, den Kapitalismus zu entwickeln, "nicht, weil wir ihn lieben, sondern weil wir zunächst die Vormoderne überwinden müssen". In weiten Teilen des Landes herrschten noch Feudalismus und Sklaverei, so der künftige Staatschef. Enteignungen schloss er aus, Ziel sei ein "demokratischer Kapitalismus". Im Regierungsprogramm liest sich das so: "Kolumbien zu einer Macht des Lebens zu entwickeln beinhaltet die schrittweise Veränderung des auf der Ausplünderung des Planeten basierenden Wirtschaftsapparates, der Unproduktivität, der Arbeitslosigkeit und der tiefen Ungleichheit. Wir werden voranschreiten zu einer Wirtschaft, die das Leben möglich macht und werden unsere Produktionsweise in demokratischere Formen, in Harmonie mit der Natur mit immer weniger Materie und immer mehr Wissen verändern."
Auch wenn in Kolumbien also keine sozialistische Regierungspolitik ansteht, bedeutet der Erfolg Petros einen historischen Einschnitt. Seit im April 1948 der damalige linksliberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliecer Gaitán ermordet wurde und es in der Folge zu einem blutigen Volksaufstand, dem "Bogotazo", kam, ist Kolumbien nie mehr zur Ruhe gekommen. Die Gewalt endete auch mit dem 2016 geschlossenen Friedensabkommen zwischen Kolumbiens Regierung und der FARC-Guerilla nicht. Allein in den vergangenen vier Jahren gab es mindestens 2000 politische Morde, für die nach Analysen des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien (INDEPAZ) die Regierung in Bogotá verantwortlich ist. Unter anderem wurden seit Unterzeichnung des Friedensabkommens Hunderte ehemalige FARC-Kämpfer ermordet, wichtige Zusagen aus dem Vertrag wurden von der bisherigen Regierung missachtet. In der Folge kehrte eine Reihe von Comandantes der Guerilla zum bewaffneten Kampf zurück.
Im Programm von Gustavo Petro heißt es dazu, dass seine Regierung das Friedensabkommen von 2016 endlich einhalten und die von den Vorgängern abgebrochenen Verhandlungen mit der zweiten großen Guerillaorganisation ELN wieder aufnehmen werde, "um die Existenz bewaffneter Aufstandsbewegungen durch politischen Dialog zu beenden". Man werde den "Krieg gegen die Drogen" ablösen durch die Entwicklung von Alternativen für die bisherigen Kokabauern.
Der Friedensprozess war auch eines der Themen, das Petro nur wenige Stunden nach seinem Wahlsieg in einem ersten Telefonat mit US-Präsident Joe Biden besprach. Kolumbien wolle seine internationalen Beziehungen künftig auf die Bekämpfung des Klimawandels ausrichten, kündigte Petro Medienberichten zufolge an. In seiner Rede am Wahlabend hatte sich der neue Staatschef zudem für einen "Dialog der Amerikas" ausgesprochen, aus dem keine Nation des Kontinents ausgeschlossen werden dürfe. Das war eine deutliche Kritik an dem Anfang Juni in Los Angeles veranstalteten "Amerika-Gipfel". Die US-Administration hatte eigenmächtig Kuba, Venezuela und Nicaragua von der Teilnahme ausgeschlossen, woraufhin zahlreiche andere Staatschefs, unter anderem Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador oder Boliviens Luis Arce ihre Teilnahme ebenfalls absagten. Zu denen, die in die USA gereist waren, gehörte Kolumbiens Noch-Präsident Iván Duque. Eine letzte Geste der Ergebenheit des alten Regimes.
André Scheer
CUBA LIBRE 3-2022