Jazz Plaza – trotz Coronavirus irgendwie

Jazz Plaza

Eines gleich vorweg: Der Autor könnte vermutlich keinen eigenen Satz über Jazz zu Papier bringen, der nicht barer Unsinn wäre. Ich habe zwar dieses Musikgenre als späte Liebe für mich entdeckt, aber meine Begeisterung ist von nicht viel Sachkenntnis getrübt. Andererseits wäre es unverzeihlich gewesen – in nicht zuletzt kulturell deprimierenden Zeiten – die Gelegenheit verstreichen zu lassen, von der Unternehmung zu berichten, nach zwei Jahren Abstinenz wieder einmal ein Ereignis wie "Jazz Plaza" zu stemmen. Ich habe also bei kundigeren Kollegen oft und ausgiebig Anleihen gemacht, wobei sich mein schlechtes Gewissen in überschaubaren Grenzen hielt. Zum einen wiederholt sich, wenn man kubanische Medien zurate zieht, doch vieles. Als beispielsweise Nachito Herrera – sinngemäß – äußerte, er komme aus dem bitterkalten winterlichen Minnesota ins mildwarme winterliche Kuba, dem er nun mit seinem Piano noch so richtig einheizen wolle, so gab es hierzulande praktisch keinen Vertreter der kulturbeflissenen journalistischen Zunft, der das Temperatur-Wortspiel nicht dankbar aufgegriffen hätte. Zum anderen ist vieles auch ganz einfach zu recherchieren. Soweit ich autorenbezogene Aussagen verwende, werde ich natürlich mit Quellenangabe zitieren, wie es sich gehört. Eines will ich in der kurzen Einleitung noch loswerden, über das ich lachen musste, als ich es las: Pedro de la Hoz von der Granma (gewiss erheblich kompetenter als ich, was den Gegenstand dieses Artikels angeht) schreibt, – bevor er irgendetwas anderes schreibt! – alles geschehe natürlich „unter absoluter Respektierung der unverzichtbaren sanitären Normen, um die Verbreitung des Coronavirus zu vermeiden“. Pedro, wenn du mich nicht daran erinnert hättest, darauf wäre ich – gerade in einem Land wie Kuba – vermutlich nicht von selbst gekommen. Aber, Ironie beiseite: Dass Wasser nass ist, ist auch ein allgemein geläufiges Erkenntnisgut, ohne dass man diesen Umstand immer wieder ausdrücklich erwähnen müsste …

Das "Jazz Plaza" ist eine Veranstaltung, die seit vielen Jahren eine feste Größe im Kulturkalender der Insel ist. Meistens findet sie, wie auch 2022, in Havanna statt, aber auch Santiago de Cuba war schon einige Male Austragungsort. Zum 37. Mal trafen sich Jazzmusiker zu diesem Event vom 18. bis zum 23. Januar. Sechs Tage, das ist nicht gerade das meiste. Das Treffen war auch schon länger – und umfangreicher. Diesmal gab es lediglich Auftritte im Teatro Nacional (beide Säle), im Kulturzentrum Bertolt Brecht und im Teatro America. Die Konzerte waren abends; vor- und nachmittags fand an allen Tagen im Kulturzentrum "31 und 3" in Vedado das internationale Kolloquium Leonardo Acosta in memoriam statt, um dort Hommagen zu inszenieren oder neue Jazzalben vorzustellen. Es gab Revisionen thematischer Publikationen und Räume zur Analyse der Perspektiven des Jazz in der aktuellen Kulturindustrie. Aber zweifellos wurde die Praxis wichtiger genommen als die Theorie. Wenige Tage vor Beginn hatte Vitico Rodríguez, Präsident des Organisationskomitees, gesagt: "Das Publikum wie auch die Musiker haben sich danach gesehnt, dass Jazz Plaza in diesem Jahr stattfinden möge. Es wird nicht so werden, wie wir es uns anfangs vorgestellt hatten, aber zumindest können wir doch Live-Konzerte realisieren und man kann diese einzigartige Interaktion genießen, die in Szene gesetzter Jazz hervorruft."

Ausländische Jazzer kamen aus den Vereinigten Staaten, Frankreich, Argentinien, aus Spanien, den Niederlanden, der Slowakei, Schweden, Finnland und Belgien, wobei diese Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die Inauguration war am 18. 1. 2022 in der Sala Avellaneda des Nationaltheaters und sah Bobby Carcassés und Nachito Herrera als Schlüsselfiguren des Abends. Bobby ist – neben der nicht ganz unbedeutenden Tatsache, dass er "Jazz Plaza" gegründet hat – "ein wesentliches Element in (…) der Entwicklung eines musikalischen Komplexes, der in unserem Land seine eigene Entität und Größe hat", wie Pedro de la Hoz schreibt. Was Nachito anbetrifft, erwähnt der Granma-Journalist zuvorderst , dass dieser in einer solidarischen Geste eine Spende an medizinischen Mitteln und Gerätschaften für Kubas Gesundheitswesen sowie Musikinstrumente und Zubehör aus den USA mitbrachte (wobei letztere teils für das Konservatorium Amadeo Roldán – von diesem Institut wird noch die Rede sein –, teils für das Nationale Zentrum der Kunstschulen bestimmt sind). Eine in der Tat höchst bemerkenswerte Handlung, weiß man doch, dass die "Freiheitsliebenden" in den sozialen Netzwerken dergleichen keineswegs goutieren. Man kann Herrera nur wünschen, dass er seinen mutigen Alleingang als Künstler überlebt. Aber weg von diesem Nebenschauplatz! Der aus Kuba stammende Pianist aus Minnesota eröffnete den Abend. Begleitet von der Gruppe Habana Jazz, sowie einer Anzahl begnadeter Solisten – unter ihnen der junge kubanische Trompeter Jasek Manzano – brachte er mit den dargebotenen Stücken viel Swing und eine erhebliche Ladung "Cubanía" auf die Bühne. Er spielte aber auch eine Reihe von Standards wie "Stella by Starlight" und Ähnliches, bevor er das Szenario für jenen freimachte, den er selbst den "Star des Abends" nannte: den Altmeister Bobby Carcassés mit seinem Programm Vom Blues zur Timba, von der Timba zum Jazz. Der "Showman Kubas", wie manche ihn bezeichnen, wurde eingerahmt von der Big Band Afrojazz und brachte neben Standards auch eigenes Material. Invitados (eingeladene Gastmusiker) des Spektakulums waren unter anderem der Querflötist Orlando Valle Maraca und die hinreißende Stimmakrobatin Zule Guerra.

Am gleichen Ort fand das denkwürdige 45minütige Konzert des Pianisten-Duos Ray Lema und Laurent de Wilde statt, das Auszüge ihrer zweiten gemeinsamen Produktion, des Albums "Wheels" (auf Spanisch "Ruedas") bot – ein Auftritt, über den Ana María Dominguez Cruz für La Jiribilla einen wunderbaren Beitrag schrieb. Das Intro liest sich lakonisch so: "Räder. Sie bewegen Fahrräder, Autos, Omnibusse. Um Maschinen in Gang zu setzen, erfordern sie große Präzision, Fingerspitzengefühl und eine perfekte Verzahnung. Wenn sie in musikalischer Materie zum Einsatz kommen, müssen sie in ebensolcher Weise aufeinander abgestimmt sein. Wenn das gelingt, ist das Resultat außerordentlich: Räder, die nicht laufen, sondern – paradoxerweise – fliegen." Der Multi-Instrumetalist und Komponist Lema aus dem Kongo und der französische Pianist und Komponist de Wilde beziehen die Faszination, die sie ausüben, aber außerdem aus ihrer völligen Verschiedenheit im Gestus. Der Kongolese "entspannt seine Arme zwischen den Stücken, und seine einzigartige Spielweise veranlasst ihn, seinen Körper nicht über die elementaren Millimeter physischen Vergnügens eines Menschen, der viszeral ist, hinaus zu bewegen. Er ist ruhig, zurückhaltend, innehaltend. Ganz anders der Franzose: sozusagen tanzend im Sitzen auf seinem Flügelbänkchen, die Tasten durchpflügend, vital, extrovertiert." Aber gleichwohl gilt: "Gemeinsam, zwischen Blicken und unsichtbaren Absprachen während der Darbietungen, genossen sie ihre Performance in Havanna." An jenem Abend bildeten nur die beiden Pianofortes das Bühnenszenario und der Tastendialog der Virtuosen funktionierte "mit dem Lächeln von Laurent und der vergnügten Ernsthaftigkeit von Lema".

Später am Abend kam in diesem Saal noch Joaquín Betancourt mit seiner JoJazz Band zum Einsatz ("jo" kurz für "joven" – jung). Betancourt, augezeichnet mit dem Nationalen Musikpreis 2019, wandte sich an das Publikum: "Zwei Jahre, in denen keine Auftritte möglich waren, haben wir diese, wie auch euch, vermisst." Neben Auswahlstücken ihrer Disc "Mambazo" brachten sie auch manches zu Gehör, das speziell für diese Gelegenheit arrangiert worden war. Eines davon war "Iko Iko" des US-Saxophonisten Big Chief Donald Harrison, der leider nicht an dem traditionsreichen Event teilnehmen konnte, da sein Flug zu denjenigen gehörte, die wegen COVID-19 gecancelt wurden. Aber die Jazz-Enthusiasten im Teatro Nacional bekamen die Nummer eben doch noch geboten, dank der genialen Interpretation durch Betancourts Gruppe. Und da wir in elektronisch modernen Zeiten leben, wird der Live-Gig aus Havanna auch dem Jazzmusiker aus New Orleans nicht vorenthalten geblieben sein.

"Der Jazz, der von den Kanarischen Inseln kommt" titelt, ebenso für La Jiribilla, Liannet Gómez Abraham. GBP nennt sich ein ungewöhnliches Trio. Chano Gil, Yul Ballesteros und Paco Perera setzen Trompete, Gitarre und Kontrabass ein. Ohne Schlagzeug, ohne Percussion Rhythmus zu erzeugen, das ist eine echte Herausforderung. "Kuba und die Kanarischen Inseln sind ein und dasselbe Herz und der Son wird auch in Spanien gesungen. Wir haben starke kulturelle Bande, und Canaria ist sehr eng mit dem Diskurs und der Tradition hier verknüpft", sagt Perera im Interview. "Was uns am meisten beeindruckt hat, sind die Leute. Man verliebt sich regelrecht in ihren Spirit, ihre Fröhlichkeit", meint Ballesteros. Das Trio ist offen für jegliche Kooperation mit kubanischen Musikern. Gerne würden sie mit dem Orchester Aragón oder dem Pianisten Dayramir González arbeiten. "Würden Sie auch bei einer neuen Ausgabe von "Jazz Plaza" dabeisein wollen?" Die drei lachen: "Aber klar! Wo können wir uns anmelden?"

Der Kontakt mit Virginia Guantanamera kam über ihre Teilnahme am Ersten Kulturfestival von im Ausland lebenden Kubanern zustande, für das unter dem Motto "Cuba va conmigo" (Kuba ist bei mir) das Kulturministerium sowie das Außenministerium der Insel Pate standen. Ihre Großeltern stammen aus Las Palmas, Gran Canaria, und sie selbst lebt seit etlichen Jahren dort. Wer sie schon einmal auf der Bühne erlebt hat, weiß, dass sie sehr vielseitig ist. Von daher ist es schwierig, sie in eine Schublade zu stecken. "Heute fusioniert sich einfach alles", sagt sie selbst und fügt hinzu: "Der Jazz ist ein freies und offenes Genre, in dem heute viele Stile und Strömungen ihren Platz haben. In dieser Vielfalt finde ich eine Verschmelzung zwischen kubanischer Musik und Jazz." Als ihre bevorzugten Referenzmusiker nennt sie Chucho Valdés und Irakere, ist aber auch sehr zuversichtlich, was kommende Talente angeht. "Das Renommee kubanischer Musik ist weltweit garantiert", sagt sie überzeugt. Sie hat keine Zweifel, dass Jazz eine Evolution mitgemacht hat: "Die derzeitigen Interpreten haben das Erbe jener angenommen, die sich früher im Latin Jazz tummelten." Sie bekundet, gern auch mal zu anderen Gelegenheiten auftreten zu wollen, aber "Jazz Plaza" sei schon ein besonderer Anlass, nach Kuba zurückzukehren.

Das große Finale des knapp einwöchigen (und in diesem Beitrag nur lückenhaft gewürdigten) Jazzfestes hatte ursprünglich open air, nämlich auf La Punta an der Hafeneinfahrt Havannas, stattfinden sollen. Da man aber befürchtete, dass sich die sintflutartigen Regenfälle des Vorabends wiederholen könnten, wich man, um auf Nummer Sicher zu gehen, an jenem Sonntagabend auf die Sala Covarrubias des Nationaltheaters aus. In Anwesenheit des kubanischen Präsidenten Miguel Díaz-Canel bestritt Ignacio "Nachito" Herrera, der das Jazz Plaza 2022 ja bereits eröffnet hatte, die Abschlussgala: das Konzert "Cuba vive". Gemeinsam mit dem Orchester Habana Jazz, mit den Nationalen Symphonikern, dem Chor Entrevoces und der studentischen Jazzband des Konservatoriums Amadeo Roldan begeisterte er noch einmal sein Publikum in einem Auftritt, der, wie Pedro de la Hoz zusammenfasste, "den Triumph der Musik, der Solidarität und der erhabensten menschlichen Werte besiegelte".

Ein etwas ausuferndes Postskriptum zum Artikel: Nach 20 Jahren in den Vereinigten Staaten, und dort in einer Region, in der in dieser Jahreszeit mehr Schneemassen sein Haus heimsuchen, als einem Kubaner lieb sein kann, kehrte Nachito Herrera für begrenzte Zeit in seine Heimat zurück, und zwar nicht nur, um als Musiker rauschenden Beifall einzuholen. Er machte auch Ausflüge in die Vergangenheit: etwa, als er das Konservatorium Amadeo Roldán besuchte, das Institut, in dem er als junger Mann die Kunst des Klavierspielens erlernte, und er stand, einigermaßen fassungslos, wie er Sergio Félix González Murguia von der Juventud Rebelde gegenüber zugab, vor jenem Instrument, auf dem er es damals zur Meisterschaft gebracht hatte. "Dieses >Estonia< ist immer noch dasselbe Piano, auf dem ich damals vorgespielt habe. Es gibt da drei Stufen: elementar, mittel und superior". Und um von der einen zur nächsten zu gelangen, so berichtet er weiter, hätten Zwischenexamina abgelegt werden müssen. Nach quasi einer halben Ewigkeit immer noch Relikte seines früheren Lebens vorzufinden, die er sehen und anfassen kann, muss jemanden, der in einem so gnadenlos umschlagkräftigen Land wie den USA lebt, wohl seltsam berühren. Zusammen mit Aurora, seiner Frau, und mehreren Freunden aus verschiedenen Bundesstaaten transportierte er nicht nur die bereits erwähnten Hilfsgüter für ein blockiertes Land, sondern auch eine Botschaft, die ihn seine Karriere gelehrt hat: "Es ist eine harte Laufbahn, eine, die Opfer verlangt, die dir aber auch etwas zurückgibt, denn die Sprache der Musik beherrschen zu können, die mir ermöglicht zu einen, zu versammeln und niemals zu trennen, ist großartig und bereichernd."

CUBA LIBRE Ulli Fausten

CUBA LIBRE 2-2022