Die revolutionäre Ökonomie Che Guevaras

Bei uns wenig beachtet, erschien 2009 ein Buch der britischen Autorin Helen Yaffe: "Che Guevara – The Economics of Revolution" (Palgrave Macmillan, New York). Es basiert auf ihrer Doktorarbeit an der London School of Economics (frei zugänglich unter Ernesto ‘Che’ Guevara: socialist political economy and economic management in Cuba, 1959-1965). Yaffe lebte Mitte der 1990er Jahre für zwei Jahre auf Kuba und hatte die Gelegenheit, noch mit zahlreichen früheren Mitarbeitern und Freunden des Che aus seiner Zeit als Industrieminister Gespräche zu führen, wie u. a. Orlando Borrego, Harry Villegas, Ángel Arcos, Jorge Risquet oder Armando Hart, von denen viele mittlerweile nicht mehr leben. Guevara leitete das Ministerium von 1961 bis 1965.

Die verdienstvolle Arbeit der Autorin beschreibt wichtige Aspekte der Persönlichkeit und des Denkens von Guevara sowie seiner Arbeit als Minister, über die bislang wenig veröffentlicht wurde. Dabei beruft sie sich neben seinen Schriften und Reden auf die Aussagen seiner Zeitgenossen und Mitarbeiter. Auf seine wesentlichen und bleibenden Beiträge zur marxistischen Theorie, wie auf seine Ablehnung kapitalistischer Methoden und die Gewichtung des sozialistischen Bewusstseins schon in der Ökonomie der Übergangsgesellschaft, hat Fidel Castro nach dem Tod Guevaras jahrzehntelang immer wieder hingwiesen. Gerade in einer Zeit wie heute, wo in Bezug auf Kuba zunehmend und weitgehend unreflektiert von mehr Markt und Privatwirtschaft die Rede ist, sind sie in höchstem Maße aktuell: Raúl Castro wies erst jüngst auf dem VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei im April 2021 auf die möglichen Gefahren eines auswuchernden privatwirtschaftlichen Denkens hin, das das sozialistische Kuba "hinwegfegen" könnte. Die nachfolgenden – das komplexe Thema nur anreißenden – Schlaglichter auf die Ökonomie des Che basieren auf dem Buch von Yaffe und daraus von mir übersetzten Passagen. Anmerkungen meinerseits erscheinen in eckigen Klammern.

Weichenstellungen zu Beginn der Revolution bis 1964

Freiwilligenarbeit

Che Guevara war ein überzeugter Verfechter der Freiwilligenarbeit. Wie die folgenden Bilder zeigen, beteiligte er sich persönlich bei der Zuckerrohrernte oder auf Baustellen. Die Freiwilligen bekamen ihre Arbeitstunden bescheinigt.
Foto: Granma


Bereits 1960, schreibt die Autorin, ein halbes Jahr vor der Erklärung des sozialistischen Charakters der Revolution durch Fidel Castro am Vorabend der Schweinebucht-Invasion, bezog Guevara Stellung gegen den französischen Agronom René Dumont. Der hatte die kubanische Regierung aufgefordert, marktorientierte Maßnahmen einzuführen, basierend auf materiellen Anreizen, der Wiederzulassung von Profit und einer Preisbildung durch den Markt als wesentliche Regulatoren von Produktion und Konsumgüterverteilung. Dumont wurde in den 60er Jahren wiederholt von Castro und KP-Führer Carlos Rafael Rodríguez, damals Präsident des Instituts für Agrarreform, nach Kuba eingeladen, um seine Kritik an den Maßnahmen der Revolution und den neu eingerichteten Staatskooperativen darzulegen. Guevara jedoch sah in ihm einen Feind der Revolution und des Sozialismus.

Jahrzehnte vor der Erfindung der Glühbirne hatten Marx und Engels sich vorgestellt, dass der Kommunismus in den am höchsten entwickelten kapitalistischen Ländern aufkommen werde. Diese Gesellschaften würden schon eine große Ansammlung von Reichtum und Technologie besitzen, welche die Arbeiterklasse sich aneignen würde, um sich von der Ausbeutung zu befreien. In der Realität waren die einzigen Länder, die sich anschickten, den Sozialismus aufzubauen, unterentwickelt, ohne viel Kapital für Investitionen, ohne fortgeschrittene Technologie und ohne ein starkes Industrieproletariat.

Yaffe: "Die sowjetische Lösung waren der Gebrauch kapitalistischer Werkzeuge – Konkurrenz, das Profit-Motiv, materielle Anreize, Kredit und Zinsen (Ausdrucksformen des Wertgesetzes) – in dem Bestreben, den Industrialisierungsprozess anzukurbeln. Nach seinen Beobachtungen in Jugoslawien 1959 war Guevara skeptisch gegenüber dieser Herangehensweise. Er meinte, dass die Abhängigkeit von kapitalistischen Hebeln der Produktion, ohne die Notwendigkeit zu sehen, Werte und Einstellungen der Menschen zu verändern, kapitalistische Sozialbeziehungen und kapitalistisches Bewusstsein reproduzieren würde. (...) Im Januar 1962 sagte er zu Kollegen im Industrieministerium: "In keiner Weise ist die finanzielle Eigenständigkeit der Unternehmen in Verbindung mit materiellen Anreizen, wie sich das in den sozialistischen Ländern etabliert hat, eine Formel, die den Fortschritt zum Sozialismus ermöglicht, oder irgendwas in der Art." Weniger als drei Jahre später, im Dezember 1964, beschrieb er ein System, mit dem in einer Fabrik in der UdSSR experimentiert wurde, als kapitalistisch und führte aus, dass, "wenn es ausgeweitet wird von einer Fabrik auf die ganze Gesellschaft, es die Anarchie in der Produktion hervorrufen wird, eine Krise wird eintreten und dann wird der Sozialismus aufgegeben". In der UdSSR gebe es noch keinen Kapitalismus, fügte er hinzu, doch "die Theorie versagt, weil sie vergessen haben, dass Marx existiert hat."
Bescheinigung Freiwilligenarbeit Während der Zeit zwischen diesen beiden Aussagen nahm Che Guevara teil an einer Debatte über die politische Ökonomie des Übergangs zum Sozialismus. Er vertiefte sich in das Studium von Marx‘ Kapital und anderer klassischer marxistischer Texte, aber auch neuerer Literatur aus Ost und West – von Befürwortern des "Markt-Sozialismus", aber auch von Gegnern des Gebrauchs kapitalistischer Wirtschaftselemente. (An der "Großen Debatte", auch in deutsch veröffentlicht, beteiligten sich die westlichen marxistischen Ökonomen Charles Bettelheim, welcher der sowjetischen Vorgehensweise nahestand, und Ernest Mandel, der in deutlich höherem Maße mit Guevara übereinstimmte.) Guevara kam zu dem Schluss, dass die Sowjets ein "hybrides" System geschaffen hatten, welches die Effizienz des "freien Marktes", mit dessen aggressivem Kampf um Profite, vermissen ließ, denn der staatliche Plan und die gesetzlich festgelegten Produktionsverhältnisse verhinderten Ausbeutung und kapitalistische Akkumulation; aber es versagte zusätzlich darin, ein kollektives Bewusstsein der Arbeiter zu fördern, das Voraussetzung für Sozialismus und Kommunismus ist. Sozialismus muss nicht nur für die materiellen Bedürfnisse der Arbeiter produzieren, er muss auch die vollste Entwicklung der Menschen ermöglichen, indem er sie und nicht den Profit in den Mittelpunkt von Gesellschaft und Entwicklung stellt.

Marxens Wertgesetz

Zentral zum Verständnis von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie ist das Wertgesetz. Das Wertgesetz tauchte auf, als menschliche Gesellschaften sich weiterentwickelten von der Subsistenzwirtschaft zu einfacher Warenproduktion. Historisch schloss dies Privatbesitz ein und eine Produktion für den Tausch. (Stark verkürzt ist das Wertgesetz ein Mechanismus, der den Wert von Waren durch das in ihnen aufgewendete Arbeitsquantum untereinander vergleichbar macht und nachfolgend auch die Verteilung von Gütern und Waren in einer entwickelten Gesellschaft regulieren soll. Marx zeigte jedoch auf – wie die Autorin ihrerseits ausführt – dass das Wertgesetz in dieser idealtypischen Weise im Kapitalismus nicht funktioniert, sondern durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst und überlagert wird.) Der Disput über das Wertgesetz in "Übergangsgesellschaften" steht im Zentrum der Frage der Machbarkeit des sozialistischen Aufbaus in Ländern ohne eine voll entwickelte kapitalistische Produktionsweise (...). Die Debatte ist unerläßlich für die Probleme von Produktion, Verteilung, Investition und Sozialbeziehungen. Die Idee einer möglichen kommunistischen Entwicklungsstufe erfordert eine in hohem Maße produktive Gesellschaft, in der die politischen Bedingungen dafür existieren, dass die soziale Produktion eingesetzt wird für die Deckung der Bedüfnisse der Massen anstatt für die Erzielung von Profit. Das "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" – der Wesenskern des Kommunismus – beinhaltet, dass der Sozialismus bereits aufgebaut wurde und die gesellschaftlichen Produkte nicht länger durch Marktmechanismen rationiert werden. (Der Versuch, diese kapitalistischen Zwänge schon früh teilweise auszuschalten, zeigt sich in Kuba daran, dass, in größerem Umfang als anderswo, Güter wie u. a. Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnen und eine Verteilung von Lebensmitteln an alle gleichermaßen, ohne Berücksichtigung der Kosten und dem Anteil des Einzelnen an ihrer Bereitstellung, verteilt wurden und nach wie vor werden.) Dennoch, den Ländern, die das Experiment Sozialismus angingen, fehlte die notwendige produktive Basis, um den Prozess abzuschließen und den materiellen Überfluss zu erschaffen, den der Kommunismus garantiert. Unter solchen Bedingungen ist das Problem von Gebrauch und Verteilung des Bruttosozialprodukts eng verbunden mit den Problemen von Unterentwicklung und Mangel. Der Kommunismus wird auf Dauer die Wiederkehr des Wertgesetzes verhindern. Die Frage für Übergangsgesellschaften ist, wie weit sie noch von dem Punkt entfernt sind, wo die Arbeit entlohnt werden kann nach den persönlichen Bedürfnissen. Eine Antwort sah man in den sozialistischen Ländern in den 1950er Jahren darin, Methoden von Produktion und Verteilung zu praktizieren, die das Wirken des Wertgesetzes erlaubten, durch den spontanen und zentral unregulierten Prozess des Austausches mit dem Ziel, die Entwicklung der Produktivkräfte anzutreiben. Diese dringende materielle Aufgabe wurde als Vorausetzung gesehen für die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins. Guevara hingegen warnte, dass das Beharren auf dem Wertgesetz, um die Entwicklung voranzutreiben, das kollektive Bewusstsein untergraben und damit den Aufbau von Sozialismus oder Kommunismus blockieren würde. Sozialistische Länder müssten alternative Hebel zur Entwicklung der Produktivkräfte finden, wie einen zentralen nationalen Plan, Investitionen in Forschung und Technologie, administrative Mechanismen sowie das sozialistische Bewusstsein (als Antriebsmotor) selbst.

Der neue Mensch

Freiwilligenarbeit

Foto: La Demajagua


Ein kubanischer Arbeiter geht zum Parteisekretär und erklärt, dass er Mitglied werden will. "Also, um ein Militanter der Partei zu sein, musst du auf der Arbeit ein Beispiel geben. Das bedeutet 12, 18 oder 20 Stunden pro Tag." "So viel?", fragt der Arbeiter alarmiert. "Ja, und das schließt Samstage und Sonntage ein", informiert der Sekretär. "Das auch?" "Ja, und keinen Urlaub", fügt der Sekretär hinzu. "Nicht mal das!?" "Nicht mal das. Darüber hinaus musst du deiner Ehefrau treu sein, kein Herummachen mit Frauen." "Nicht ohne eine Ausnahme?" "Keine. Du musst auch aufhören, einen zu heben nach der Arbeit." "Nicht mal einen kleinen Schluck, um etwas zu feiern?", bittet der Arbeiter, die Fassung verlierend. "Nein. Und das Wichtigste: Sei vorbereitet, dein Leben für das Land zu opfern." "Na, das ist kein Problem." "Wieso nicht?" fragt der Sekretär, hellhörig geworden. "Also, bei dem lausigen Leben, das ich führen werde...!" Helen Yaffe meint, dass dieser Witz, den Guevara gerne erzählte, nicht nur seinen ironischen Sinn für Humor zeigt, sondern auch die tiefe Erkenntnis, dass das Paradigma des sozialistischen "Neuen Menschen", für das er eintrat, eine echte Herausforderung für die Kultur und das Empfinden des kubanischen Arbeiters darstellte. Der kubanische Sozialismus hatte sich nicht, wobei sie Marx zitiert, "aus seinen eigenen Grundlagen entwickelt", sondern aus der kapitalistischen Gesellschaft heraus, "somit in jeder Hinsicht behaftet mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß er herkommt." Guevara verstand die Entwicklung von Bewusstsein als dialektischen Prozess – sie würde an Umfang zunehmen mit der Erfahrung materieller Verbesserungen im Lebensstandard und einer Umformung der Produktionsbeziehungen, die ihrerseits zurückwirken würden auf das Bewusstsein. Er legte besonderen Wert auf Ausbildung und Herausbildung spezieller Fertigkeiten, um Fortschritte im Bereich der Produktion zu beschleunigen und die Fähigkeit des Einzelnen anzuheben, diese materiellen Veränderungen aus einer politischen Perspektive zu verstehen.

Materielle oder immaterielle Anreize?

Ernsthafte, durch die US-Blockade verursachte Versorgungsmängel, ein Rückgang der Produktivität und ein Haushalts-Defizit erforderten die Anwendung materieller Anreize: Auszeichnungen in Form von Geld oder Konsumgütern, die knapp waren. Jorge Risquet, 1967 Arbeitsminister, brachte das Problem so auf den Punkt: "Wie kann Kuba den Schwerpunkt legen auf materielle Anreize zu einer Zeit, wo ernsthafter Mangel besteht und wirtschaftliche Einschränkung notwendig ist, während 90 Meilen entfernt solche Wünsche viel leichter erfüllt werden können? Wir hätten einfach die Bedingungen geschaffen für die Massenmigration von Kubanern in die USA." Moralische Anreize hatten daher ökonomische wie auch ideologische Vorteile. Verschiedene Projekte wurden ausprobiert, um die Teilnahme am Wettbewerb zu fördern.

Arbeitern wurden in offiziellen und öffentlichen Zeremonien Preise verliehen für besondere Anstrengungen oder Produktivität. Anfangs gab es Preise in hybrider Form, teils materiell, teils moralisch. Materielle Auszeichnungen schlossen manchmal Geld ein, doch meistens waren es Güter wie Kühlschränke, Wohnraum, Urlaubsaufenthalte oder Reisen nach Osteuropa. Später wurden materielle Anreize stufenweise eingestellt und moralische Auszeichnung im Wettbewerb trat in den Vordergrund, bis Anfang 1966 wurden Geldpreise ganz abgeschafft. Moralische Anerkennung erfolgte durch symbolische Fahnen und Plaketten im Rahmen von Zeremonien, welche normalerweise an historischen Tagen stattfanden, an denen Kubas 500 Jahre langer Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus gefeiert wurde. Dies verband gesteigerte Produktivität mit Bewußtsein, und sozialistisches Arbeitsethos mit Patriotismus. (...) Im Industrieministerium fanden monatliche Auszeichnungszeremonien statt und der höchste Preis für einen Arbeiter war es, am Maifeiertag an der Seite Fidel Castros auf der Tribüne zu sitzen.

Im Oktober 1963 rief Guevara im Industrieministerium das Rote Bataillon ins Leben. Anfangs bestand es aus zehn Brigaden von jeweils zehn Mitarbeitern des Ministeriums, festgelegt auf ein Minimum von 80 Stunden Freiwilligenarbeit in sechs Monaten (...) An einem Wochenende wollte Arcos (enger Mitarbeiter des Che), nachdem er für das Rote Bataillon den Einsatz bei der Zuckerernte in Pinar del Río organisiert hatte, gegen vier Uhr morgens nach Hause gehen und war unachtsam. Er hatte seit Mitternacht den Eingang des Ministeriums bewacht. Che kam aus dem Gebäude mit seinem Leibwächter, bekannt als "El Chino" (der Chinese). Er gratulierte Arcos , dass er so früh zur freiwilligen Arbeit erschienen war und forderte ihn zu einem Wettkampf auf dem Felde heraus. Als Arcos erklärte, dass er noch nicht geschlafen habe, antwortete Guevara: "Noch besser, dann sind wir in derselben Verfassung, denn ich habe auch nicht geschlafen, so können wir unter gleichen Bedingungen wetteifern." Dann fügte er hinzu: "Tatsächlich wirst du einen Vorteil haben, denn ich habe gerade Asthma, also gehen wir...". An der linken Seite Guevaras arbeitete El Chino, vor der Revolution Zuckerrohrschneider, nach den Worten von Arcos eine wahre "Zuckerschneidemaschine". Gegen neun Uhr war Arcos müde, nur noch angespornt durch Guevaras spöttische Zurufe: "Ich bin dabei zu gewinnen...mach schneller... Wir sind zum arbeiten hier, nicht, um nach Frauen zu schauen...wach auf!" Als Guevara unterbrach, um Brot zu kaufen, eröffnete er Arcos, dass dieser als der Verlierer bezahlen müsse, denn der Minister hatte keinen Centavo in der Tasche. Arcos entgegnete etwas säuerlich, dass Guevara nur deshalb gewinne, weil El Chino zu seiner Linken die Hälfte des von ihm geschnittenen Zuckerrohrs auf den Haufen des Ministers warf. Guevara flachste zurück: "Du bezahlst sowieso, denn du hattest ausreichend Muße, dies zu beobachten, ich hingegen nicht!"

In der Abteilung Leichtmechanik wurde vorgeschlagen, eine Art Wertpapier oder Zertifikat herauszugeben für die Teilnahme an freiwilliger Arbeit als eine Art Quittung, als symbolische Bezahlung für die zugunsten der Allgemeinheit geleistete Arbeit, als Beleg für den Einsatz und als Anreiz. Sie waren ähnlich wie Banknoten gestaltet: Sechs blaue Papiere, jedes ausgegeben für vier Stunden Arbeit, konnten für ein grünes eingewechselt werden, das 24 Stunden belegte. Die Zertifikate trugen die Gesichter und Zitate kubanischer Nationalhelden: José Martí, Antonio Maceo, Julio Antonio Mella, Camilo Cienfuegos und Fidel Castro. Letzterer wurde so zitiert: "Und so werden wir alles haben, was wir in der Lage sind zu produzieren." Nach sechs Monaten wurden sie gegen "Kommunistische Zertifikate" eingewechselt. Die erste Preiszeremonie fand im Januar 1964 im Theater des Gewerkschaftsbundes statt. (...) Diejenigen mit 80 Stunden Freiwilligenarbeit in vier Monaten wurden zu "Mitgliedern des Roten Bataillons" ernannt, die mit 160 Stunden wurden "herausragende Mitglieder" und die mit 240 Stunden zu "Mitgliedern der Avantgarde." Während der Zeremonie sprach Guevara eine besondere Anerkennung für Arcos aus. Die Parteisekretärin Rosario Cueto Álvarez akzeptierte die Herausforderung Guevaras an andere Rote Brigaden, mit der von ihm geführten bei der Zuckerernte zu wettstreiten. Sie erinnerte sich: "Wir lagen so ziemlich gleichauf, und dann entdeckten wir, dass Che einen seiner Mitarbeiter ausschickte, uns auszuspionieren. Da fingen wir an, das genauso zu machen. Wir kämpften so hart, dass ich es mit Bedauern einräumen muss: als ich informiert wurde, dass Che eine Asthma-Attacke hatte, freute es mich, denn es brachte uns beim Zuckerschneiden einen Vorteil. Nach der Kalkulation des Schiedsrichters haben wir gewonnen." Guevara war ein schlechter Verlierer, doch als das Nationale Institut für Agrarreform (INRA) das Industrieministerium zum Wettbewerb herausforderte, fragte er Cueto álvarez, auf welche Weise sie gewonnen hatte. "Ich erzählte ihm alles. Ich gestand auch meine Freude über seinen Asthma- Anfall. Als er das hörte, platzte er fast vor Lachen." Cueto führte aus, wie die Wettbewerbe die Praxis für die Freiwilligenarbeit und die Begeisterung verbreiteten: "Wäre ich nicht gegen Che angetreten, hätte ich nie Zuckerrohr geschnitten, denn es gefällt mir nicht. Ich wollte, dass er nicht gegen mich gewinnt, aber eine Frau, die 200 oder 300 arrobas (Gewichtsmaß, zwischen 11 und 12 Kilo) an einem Tag schneidet, schafft ökonomische Ergebnisse".

Freiwilligenarbeit

Foto: Juventud Rebelde, Archiv





Freiwilligkeit der Freiwilligenarbeit

Der Wert von freiwilliger Arbeit wurde untergraben, wenn Arbeiter sich dazu verpflichtet fühlten. Guevara: "Eine Sache halte ich für grundsätzlich und wichtig, dass freiwillige Arbeit nicht unter Druck stattfinden darf." Andererseits befürwortete Guevara, was er "paralleles Mitziehen" nannte – Führer motivieren die Massen durch ihr eigenes Beispiel – und stellen damit akzeptierte Verhaltensmuster in Frage. Freiwilligenarbeit war Ausdruck "kommunistischer Einstellung gegenüber der Arbeit" – gelobt als ideales soziales Beispiel – und schuf einen Anreiz für die Arbeiter.







Sackgasse hybrides System

Etwa 1966 befasste sich Guevara, zwischen seinen Einsätzen im Kongo und in Bolivien, mit dem Handbuch der Politischen Ökonomie der UdSSR. Seine kritischen Analysen wurden erst 2006 veröffentlicht. "Die neuesten wirtschaftlichen Umwälzungen in der UdSSR ähneln denen, die Jugoslawien Zug um Zug auf einen Weg zurück zum Kapitalismus bringen könnten. Die Zeit wird zeigen, ob dies ein vorübergehender Unfall ist oder ob es eine endgültige reaktionäre Tendenz auslöst. Dies ist Teil einer irrigen Konzeption, den Sozialismus durch kapitalistische Elemente aufbauen zu wollen, ohne ihre Bedeutungen entscheidend zu verändern. Dies resultiert in einem hybriden System, welches in eine Sackgasse führt ohne Ausweg – oder mit einem schwer voraussehbaren Ausweg, der weitere Zugeständnisse in Bezug auf ökonomische Hebel aufzwingen wird – das bedeutet den Rückzug."

Nachsatz: Gut 20 Jahre vor dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus sah Guevara die Gefahr dieser Entwicklung. Nach seinem Tod gab es Phasen einer alternativen Wirtschaftspolitik, eher von Osteuropa beeinflusst. Sie brachten Kuba nicht entscheidend weiter oder führten zu Fehlentwicklungen. Fidel Castro hat in kritischen Momenten der wirtschaftlichen Entwicklung Kubas, wie der Periode der Korrektur von Fehlern in der zweiten Hälfte der 80er Jahre oder der Spezialperiode in den 90ern immer wieder seine Übereinstimmung mit Guevaras Ideen betont. Im Gespräch mit Thomaás Borge sagte er 1992: "Es ist meine tiefste Überzeugung: wenn wir sein Denken ignorieren, wird es schwierig, wirklich voranzukommen, wirklichen Sozialismus zu erlangen. (...) Es ist meine absolute Überzeugung, dass es ein Verbrechen wäre, diese Ideen zu ignorieren."

CUBA LIBRE Wolfgang Mix

CUBA LIBRE 1-2022