José Martí und die Kubanische Revolution

José Martí (1853–1895) gilt in Kuba als Nationalheld und einer der intellektuellen Wegbereiter der Revolution. Schon früh fühlte er sich der Unabhängigkeitsbewegung gegen die Kolonialmacht Spanien verbunden und veröffentlichte erste Texte und Gedichte politischen Inhalts. Als Siebzehnjähriger wurde er deshalb zu sechs Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Seine Eltern erreichten, dass ein großer Teil seiner Strafe in Verbannung umgewandelt wurde und er nach Spanien ausreisen konnte. Dort studierte er Philosophie, Rechts- und Geisteswissenschaften. Sein sensibler und geschliffener Umgang mit der Sprache führte dazu, dass er in der spanischsprachigen Welt heute als einer der bedeutendsten Schriftsteller und Poeten des 19. Jahrhunderts verehrt wird.

Nachfolgend lebte und arbeitete er in vielen Ländern: Neben Kuba waren Mexiko, Guatemala, Venezuela und die USA wichtige Stationen seines Lebens. Er entfaltete eine rege Reisetätigkeit in seinen Bestrebungen um die kubanische Unabhängigkeit, arbeitete als Korrespondent für eine Vielzahl von Zeitungen in Lateinamerika und anderswo und war darüber hinaus zeitweilig in diplomatischen Diensten von Argentinien, Uruguay und Paraguay tätig. Noch heute sind kubanische Wissenschaftler damit befasst, besonders im spanischen Sprachraum nach verstreuten Texten zu suchen und diese zusammenzutragen.

Er entwickelte eine humanistische Weltsicht und einen geistigen Horizont, der weit über einen engen nationalen Patriotismus hinaus ging. Immer war sein Anliegen die Befreiung der Menschen aus ungerechten Lebensumständen. Er bezog Stellung für die Indigenen seines Kontinents, verurteilte Sklaverei und koloniale Ausbeutung, sprach sich für eine Befreiung der Frau aus und schrieb sogar Kinderbücher. Aufmerksam verfolgte er das Geschehen in anderen Teilen der Welt. Nach dem Tod von Karl Marx schrieb Martí über ihn: "Er verdient, geehrt zu werden, denn er stellte sich auf die Seite der Schwachen." Er sah in ihm einen "glühenden Reformator", der die Menschen unterschiedlicher Völker vereinte, der "untersuchte, wie man die Welt auf neuen Grundlagen erbauen kann. Er weckte die Schlafenden und zeigte ihnen, wie sie die morschen Stützpfeiler niederreißen können". Martí betonte, dass es in Amerika viele Freunde und Gleichgesinnte dieses Mannes gebe, der "nicht nur eine titanische treibende Kraft des Zorns der europäischen Arbeiter war, sondern auch mit großem Weitblick die Ursachen des menschlichen Elends, des Schicksals der Menschen erkannte, ein Mann, der danach dürstete, Gutes zu tun. In allem sah er, was er selbst in sich trug: Aufbegehren, das Streben nach dem Höchsten, den Kampf." Grundzüge einer geistigen Verwandtschaft zu Marx sind unübersehbar.

Der kubanische Literatur-Essayist und langjährige Leiter des martíanischen Studienzentrums, Roberto Fernández Retamar, nahm Bezug auf Martís Analysen des "Kolosses im Norden". Er sah in ihnen eine "schonungslose Anklage des nordamerikanischen Kapitalismus." Damit unterscheide sich Martí radikal von anderen hispano-amerikanischen Denkern seiner Zeit wie Rodó und Sarmiento, welche unterschiedlichen Spielarten des Kapitalismus anhingen. "Der höchst radikale, antiimperialistische, revolutionäre Demokrat, der Martí schon war, weist energisch den kapitalistischen Weg zurück, obwohl er noch nicht dahin gelangt, das zum Ausdruck zu bringen, wovon wir heute (im Amerika der Epoche Martís war das allerdings noch nicht der Fall) wissen, dass es die einzig gangbare Lösung ist: der Sozialismus."

Die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes, um die Unabhängigkeit zu erringen, hatte Martí klar vor Augen: "Um des Friedens willen wollen wir den Krieg." Und er handelte so, wie er dachte. Viele Jahre widmete er sich der Planung des zweiten Befreiungskrieges, schmiedete Allianzen und propagierte die Ziele. In seinem ersten Angriff gegen spanische Stellungen stürmte er zu Pferd voran und fiel im Kugelhagel seiner Feinde. Er wurde nur 42 Jahre alt. Sein Vorbild für die kubanische Revolution beschrieb der Moncada-Veteran Jesús Montané Oropesa so: "In der Hitze der Vorbereitungen auf die bewaffnete Aktion suchten wir bei Martí, bei seinen Vorstellungen über volle nationale Unabhängigkeit, über eine gerechte und den Interessen des Volkes dienende Republik, über den gegenüber den Unterdrückern notwendigen Krieg, den Grund für die Existenz unseres Kampfes. Bei Martí waren die Grundlage und die historische Legimität unseres Aufrufs zur Volkserhebung gegen die Tyrannei zu finden." Fidel Castro hob in einem Interview mit Ignacio Ramonet "das unglaubliche Erbe, das dieser Mann uns kubanischen Revolutionären hinterließ" hervor, wobei er sich vor allem auf Martís nachdrückliche Warnungen vor einer zukünftigen imperialistischen Bedrohung durch die USA bezog. Von Martí stammt auch die Idee einer einzigen revolutionären Partei, die für den Sieg ohne Alternative ist - noch bevor Lenin in seiner Organisationsschrift Was tun?, in einem anderen Kontext und unabhängig von Martí, zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam. Im revolutionären Kuba aufgegriffen und umgesetzt,ist das Land mit seinem Einparteiensystem sehr gut gefahren. So darf es nicht wundern, dass es gerade dieser Aspekt ist, der von den Feinden Kubas immer wieder zum Thema gemacht wird: Sie fordern ein Mehrparteiensystem, mit dem sich eine Gesellschaft aufsplittern, zersetzen und somit besser fremdbestimmen lässt. Über seine eigene politische Entwicklung sagte Fidel: "Das erste, was ich in meiner Jugend las, war über die Unabhängigkeitskriege und waren die Texte von Martí. Ich wurde augenblicklich zu einem Sympathisanten Martís, als ich seine Bücher las." An anderer Stelle sagte er mit Bezug auf die Freiheitskämpfer des 19. Jahrhunderts: "Wir damals wären so wie sie gewesen; sie wären heute, wie wir sind."

José Martí Wegen dieser Kontinuität und Martis Verankerung im kollektiven Gedächtnis der Kubaner, versuchen konterrevolutionäre Kräfte, Martí für sich zu vereinnahmen. So trägt ein von den USA ausstrahlender Propagandasender gegen das revolutionäre Kuba groteskerweise den Namen dieses großen Humanisten und Freiheitskämpfers. Doch es ist das Schicksal verstorbener Persönlichkeiten, dass sie sich gegen eine (zeitweise) Banalisierung oder Verfälschung ihres Denkens selbst nicht mehr wehren können. Die korrekten Interpretationen werden diejenigen festschreiben, die den Kampf für die Freiheit im Sinne einer Mehrheit der Menschheit siegreich beenden werden. Am 28. Januar 2022 jährt sich Martís Geburtstag zum 169. Mal – und er ist aktueller denn je.

CUBA LIBRE Wolfgang Mix

CUBA LIBRE 1-2022