Dialektik von Revolution und Internet

Mit Verkündigung im Amtsblatt Nr. 92 vom 17. August 2021 (1) hat die kubanische Regierung das "Dekret 35/2021" in Kraft gesetzt, das unter anderem den freien, bezahlbaren, diskriminierungsfreien, vertraulichen Zugang kubanischer Bürger zum Internet reguliert. In der bürgerlichen Presse wurde das Gesetz reflektiert als "Kuba verschärft staatliche Kontrolle über Onlineaktivitäten" (2).

Anlass für Dr. Herbst, über die Dialektik von Revolution und Internet zu sinnieren.


In der "Kino-Prawda" Nr. 23 von Dziga Vertov aus dem Jahr 1925 sehen wir an einem Radio-Geschäft das Lenin-Zitat "Radio ist Zeitung ohne Papier und ohne Entfernung". Diese Ausgabe der Kino-Prawda ist dem Radio gewidmet – inklusive der Anleitung, wie man eine Antenne installiert und ausrichtet. (3) Heute, fast 100 Jahre später, müsste die Parole wohl lauten: "Internet ist Zeitung, ist Radio, ist Fernsehen, ist Bücher, ist Flugblätter – ohne Entfernung." Die Kommunisten nutzten in den 1920er, 1930er Jahren Radio und Film und trieben Technik und Produktionskunst voran, was man an sowjetischen Filmen dieser Zeit noch heute sehen kann und auch bei Vertov nachzulesen ist (4). Heute ist das Internet das Mittel, um Menschen zu erreichen.

Das haben die kubanischen Revolutionäre früh erkannt. Fidel setzte sich früh für die Verbreitung des Internets ein. Schon 2004 – spät, aber nicht so spät wie hier ("Neuland") – erlebte ich, dass kubanische Schulen über das Netz mit Materialien versorgt wurden – denn es sparte Papier und CDs. Computerclubs, auch in der Sierra Maestra, brachten das Netz in viele Dörfer. Die Menschen sollten "aus erster Hand" mitbekommen, wie es Gleichen in kapitalistischen Ländern erging. Manchmal scheint manchen Revolutionären vielleicht der Funke zu fehlen, dies zu erkennen. 2012 sah es Fidel Castro nötig zu betonen: "Das Internet ist ein revolutionäres Instrument, das es ermöglicht, Ideen in beide Richtungen zu empfangen und zu übertragen, etwas, das wir zu nutzen wissen müssen", und er fragte sich: "Nutzen wir diese Werte und Ressourcen, um Ideen zu übermitteln?" (5)

Das neue kubanische Gesetz erkennt das an. Und noch mehr: Es verwandelt, wie in Finnland, das Recht auf einen benutzbaren und bezahlbaren Internet-Zugang zu einem einklagbaren Recht. Wer würde in "Neuland"-Deutschland davon träumen?

Doch halt – was war noch mit der "Kontrolle über Online-Aktivitäten"? Hier müssen wir einmal tief Luft holen. Klar – es geht u. a. gegen Facebook und Twitter. Aber warum empfinden bürgerliche Medien das als "böse", wo doch auch in der EU Gesetze gegen "Hassrede" gelten?

Das Internet unterscheidet sich von klassischen Medien auch in einem wichtigen Punkt: Jeder kann, mit relativ geringem Aufwand, nicht nur "Empfänger", sondern auch "Sender" sein. Internet-Pioniere (ja auch ich) bejubelten das. Denn nun sollte es, unter der Annahme, dass Menschen vernunftbegabt seien, unmöglich sein, dass sich "Falschmeldungen" verbreiten. Und über "Suchmaschinen" wäre auch jeder findbar. Eine schöne, und bei abstrakter Überlegung gar nicht unbedingt falsche These. Aber sie ist wohl erst in einer vernunftgeleiteten Gesellschaft, im Sozialismus und ff., mit der Realität in Einklang zu bringen.

In den letzten 25 Jahren, seitdem kapitalistische Schlipsträger das Internet für sich entdeckt haben, leben wir in einer anderen Internet-Welt. (Temporär...) Nach wie vor kann jeder "senden", aber die Wahrnehmung, der "Empfang", wird reguliert von Mogulen wie Zuckerberg, deren Interesse allerdings ein anderes ist als Aufklärung. Ihr Interesse ist "Geld scheffeln". In der Regel über Anzeigen, also Konsumismus.

Immer noch kann ich meine Beiträge ins Netz stellen. Nur findet sie keiner. Damit sie jemand findet, kann ich sie auch auf "die Plattformen" stellen. Und falls sie nicht gesperrt werden, weil sie der kapitalistischen Grundordnung widersprechen .... sieht sie trotzdem niemand. Denn ob sie angezeigt werden, entscheidet ein hochgeheimer "Algorithmus". Den kenne ich nicht. Doch hinter dem hochwichtigen Wort "Algorithmus" verbergen sich lediglich Verfahrensregeln, menschengemachte Entscheidungen, was wem angezeigt werden soll. Wer legt diese fest? Letztendlich derjenige, der aus diesen "Plattformen" Profit zieht. Wie werden dessen Entscheidungsrichtlinien aussehen, bei "Gefahr seines Untergangs"?

Eben.

Nun kann man natürlich versuchen, Facebook (Instagram, Whats-App – derselbe Mogul) oder Twitter zu benutzen, um Aufklärung zu verbreiten. In begrenztem Rahmen kann dies gelingen. Aber macht sich jemand Illusionen über die Verbreitung dieser Informationen, wenn Sie revolutionär und nicht konterrevolutionär sind? (Ja – es gibt manche, ich gehöre nicht dazu.)

Was bleibt uns als Gegenwehr? Wenn ich ein Staat wäre, würde ich die Plattformen auf das "Gesellige" beschränken (die Übersetzung von "Social"). Meinetwegen dürften sie damit auch ("knirschende-Zähne") ihren Profit machen. Sie auf meine Kosten auch noch Werbung für den Rücksturz in kapitalistische Gefilde machen lassen? Neee, eher nicht. Fände ich dumm.

Dekret Nr. 35 schränkt die Internet-Nutzung nicht ein. Die sogenannte "Internet-Beschränkung" ist keine. Bei genauerer Betrachtung wohl eher das Gegenteil: Falschmeldungen, die dazu dienen, im Interesse der Internet-Mogule in die Ausbeutergesellschaft zurückzufallen, sollen ausgesiebt werden.

Wenige würden sich (im Moment) beschweren, wenn den BRD-Kinos die Vorführung von Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" untersagt würde. Oder halt – ist es sogar verboten? Dabei ist der Streifen "Filmkunst", genutzt im Sinne der Faschisten.

"Facebook" und andere Plattformen sind auf jeden Fall auch gutes "Internet-Handwerk". Leider unter der Kontrolle von kapitalistischen Geiern. Dekret 35 und die EU-Gesetze gegen Hassrede sind insoweit vergleichbar, als sie dieselben Plattformen adressieren. Sie sind nicht vergleichbar, weil es beim kubanischen Gesetz um freie Informationen geht. Die sollen jedem zugänglich sein, zur Befreiung der Menschen. In der EU habe ich da meine Zweifel. Und offensichtlich haben die bürgerlichen Medien das auch erkannt: Wenn zwei dasselbe machen, kann es diametral unterschiedlichen Zielen dienen.

"Radio ist Zeitung ohne Papier und ohne Entfernung" – das Internet ist ein noch mächtigeres Mittel, den Menschen Informationen zu übermitteln. Es scheint, als haben – im Unterschied zu vor 100 Jahren – die Menschenschinder das diesmal vor uns realisiert.

"… die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift." Die jetzigen weit verbreiteten Internet-Plattformen werden uns dabei nicht helfen – im Gegenteil, sie haben begriffen. Die geheimnisumwitterten "Algorithmen" sind menschengemacht und dienen der Erhaltung des Ausbeutertums. Alles, was Kuba derzeit machen kann, ist, die gröbsten Auswirkungen abzufangen – doch das ist ein "Hase-und-Igel"-Wettlauf. Was uns fehlt, sind Plattformen, die der Aufklärung und nicht dem Konsumismus verpflichtet sind. Kuba hat da vor Jahren schon einen guten Weg beschritten. Aber wie kriegen wir ein "dickes" Internet-Kabel nach Kuba?

"Achja, die Dialektik.", seufzt Doc Herbst

dr.herbst@kneipe.de

1) Dekreto-Ley 35/2021 https://tinyurl.com/dekreto-35
2) Spiegel vom 18.8., https://tinyurl.com/spiegelquatsch
3) https://tinyurl.com/kinoprawda23
4) https://tinyurl.com/vertovkinoprawda
5) https://tinyurl.com/fidel2012


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CUBA LIBRE 4-2021