Verfassungsreferendum in Chile
Chiles faschistische Verfassung ist nach 40 Jahren Geschichte.
Foto: Santiago de Chile / Frente Fotográfico
Nach dem blutigen Militärputsch von 1973 gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende wurde Chile zum Experimentierfeld des Neoliberalismus. Der erzwungene Rücktritt des Diktators Pinochet 1989 setzte die von ihm installierte Verfassung nicht außer Kraft. Im Gegenteil: Die neoliberale Politik setzte sich fort, selbst unter Regierungen der traditionellen Linken. Im Oktober 2019 dann führten Proteste gegen eine vergleichsweise geringe Erhöhung der Preise des öffentlichen Nahverkehrs zu einem Volksaufstand, der die gegenwärtige konservative Regierung Piñera in die Defensive zwang und eine verfassungsgebende Versammlung erreichte.
Chile ist heute in Lateinamerika in Bezug auf die Kluft zwischen Arm und Reich in einer Spitzenposition. In den 1960er und 70er Jahren war das Land mit einer kleinen herrschenden Oligarchie und einer sie stützenden breiten Mittelschicht einerseits und der Arbeiterklasse andererseits in zwei sich gegenüberstehende Lager gespalten. Die Verbrechen der Diktatur, der Mord an Tausenden, die Folter und das erzwungene Exil Zehntausender haben die Arbeiterbewegung geschwächt. Die sozialen Verwüstungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik führten dann auch zu einer Desillusionierung und Aufreibung der Mittelschichten. Viele sind stark verschuldet. Die kleine oligarchische Kapitalfraktion und ihr politischer Tross, deren steigender Reichtum im wesentlichen vom Raubbau und der Verschleuderung der natürlichen Ressourcen des Landes auf dem Weltmarkt herrührt, haben eine Mehrheit der Bevölkerung zunehmend in die soziale Verelendung getrieben. Privatisierung oder radikaler Abbau sozialer Sicherung und die Vereinzelung der Menschen in einer rücksichtslosen Ellenbogengesellschaft schufen die Auslöser für die massiven und anhaltenden Proteste. "Nicht 30 Pesos" (Fahrpreiserhöhung), "sondern 30 Jahre" (der Umsetzung neoliberaler Politik) wurden zu einer zentralen Parole.
Eine der zentralen Forderungen der gegenwärtigen Volksbewegung ist die Befreiung der politischen Gefangenen. Dabei geht es um drei Gruppen von Häftlingen: Erstens die bereits seit dem Militärputsch immer noch Inhaftierten – eine kleine Gruppe, deren Freilassung besonders dringlich ist. Zu diesen Betroffenen kann man auch viele Exilanten rechnen, die nicht nach Chile zurückkehren können, weil sie selbst noch nach fast 50 Jahren mit Verfolgung oder Knast zu rechnen hätten. Zweitens die Tausende der im Zuge der Proteste Verhafteten, von denen nicht wenige ein Jahr oder länger ohne Anklage im Gefängnis saßen oder sitzen – derzeit sind es noch etwa 600 Personen; drittens indigene Aktivisten der Volksgruppe der Mapuche. Diese Ureinwohner des Südens, die mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, leisteten den spanischen Kolonisatoren 300 Jahre militärischen Widerstand, bis dieser gebrochen werden konnte. Bis heute kämpfen sie beharrlich für die Wiederherstellung ihrer Landrechte und gegen ihre Diskriminierung. Die Mapuche spielen auch in der Bewegung für eine neue Verfassung eine bedeutende Rolle.
Die Frage, warum sich der Neoliberalismus in Chile bis heute nicht nur halten konnte, sondern noch vertieft wurde, wird von Soziologen und Politikwissenschaftlern oft mit drei Faktoren erklärt: Seine Ideen sind simpel und korrespondieren eng mit dem, was man als "gesunden Menschenverstand" benennen könnte; sie sind fähig, eine Hegemonie des Denkens zu erzielen und sich als alternativlos zu verkaufen. Schlüsselelemente ihrer Verbreitung sind neben der sich ständig wiederholenden Präsenz in den Kommunikationsmedien ihre sofortige und vollständige Vereinnahmung der wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulbildung. Ferner stehen die Macht des Unternehmertums und die Drohung im Raum, dass es durch die Verweigerung von Investitionen der Gesellschaft und linken Regierungen, die etwa eine andere Verteilung zugunsten benachteiligter Sektoren anstreben, die wirtschaftliche Basis unter den Füßen wegziehen könnte. Mit wirtschaftlicher Erpressung wurde schon die Allende-Regierung zermürbt und der Putsch vorbereitet. Dieses Drohpotential ist enorm. Drittens sind es die politischen Institutionen, von der Pinochet-Diktatur geschaffen und am Katzentisch des Kapitals ansässig, die alternative Strategien weiterhin beständig behindern und ausmanövrieren können und sich in diesem Sinne reproduzieren.
Daran scheiterten im Zuge einer oberflächlichen "Demokratisierung" auch Regierungen der Sozialisten wie die von Ricardo Lagos (2000-2006), Michelle Bachelet (2006-2010) und nicht zuletzt die Nueva Mayoriía unter Bachelet (2014-2018) unter Beteiligung der KP. Diese ehemals radikalen Parteien erwiesen sich als unfähig, die Fesseln zu sprengen und einen realen Politikwechsel einzuleiten. Sie ergaben sich und erstarrten in der Angst, die "zarte Pflanze der Demokratie" und ihren eigenen Platz darin durch eine Konfrontation mit der fest etablierten neoliberalen Ordnung zu gefährden. Exemplarisch waren die zaghaften Reformversuche des Rentensystems, das unter Pinochet privatisiert worden war und eine besondere Bürde für die Menschen darstellt. Sie scheiterten. In den politischen Institutionen sitzen neue Generationen von Technokraten und wirtschaftspolitischen Handlangern, die nach der Eliminierung kritischer Wissenschaft unter Pinochet im neoliberalen Ungeist indoktriniert wurden.*
Die Regierung nahm die Proteste 2019 zunächst nicht ernst, setzte dann aber schließlich auch das Militär ein, um sie zu unterdrücken. Das heizte die Revolte zusätzlich an, die von verschiedenen Basisorganisationen getragen wurde, ohne dass eine zentrale Führung hervortrat. Ende Oktober 2019 demonstrierten in Santiago über eine Million Menschen, fast ein Viertel der Stadtbevölkerung. Eine vergleichbare Größenordnung hatten Demonstrationen in allen großen und mittleren Städten. Die Proteste und von den Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen führten zu Generalstreiks, die auch von nicht gewerkschaftlich organisierten Teilen der Bevölkerung breit unterstützt wurden. Sie brachten kurzzeitig die wirtschaftlichen Aktivitäten in den Städten teilweise oder völlig zum Erliegen. Mitte November erklärten die meisten Parteien dann ihre Zustimmung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Im Frühjahr 2020 versuchte die Regierung vergeblich, die Corona-Pandemie zu nutzen, um die Proteste auszubremsen. Mitte Mai dieses Jahres fand die zunächst verschobene Wahl zum Verfassungskonvent endlich statt. 1374 Kandidaten traten an, Parteimitglieder und Unabhängige. Eine von der Regierung erzwungene Sperrminorität von einem Drittel der Stimmen verfehlte diese jedoch, womit sie nicht gerechnet hatte. Die Rechten erreichten nur 37 von 155 Sitzen und sind im Konvent isoliert. In neun bis zwölf Monaten soll ein Verfassungsentwurf vorliegen, über den dann erneut abgestimmt wird. Werden die anti-neoliberalen Kräfte fest zusammenarbeiten? Welche Machenschaften werden die Rechten noch auspacken, um die Entwicklung in ihrem Sinne umzukehren? Wird eine Verfassung nur auf dem Papier entstehen und möglicherweise in ihrer praktischen Umsetzung an den Realitäten scheitern? Im November sind außerdem Präsidentschaftswahlen. Spannende Zeiten stehen bevor. Ein im Exil in Deutschland lebender Chilene traf folgende Einschätzung: "Sie werden alles versuchen, unseren Erfolg zu verhindern. Das Volk muss weiterhin massiven Druck auf der Straße ausüben. Es wird schwer."
* Anmerkung zu Kuba: eines der ersten Angriffsziele neoliberaler Zersetzung sind die Universitäten und speziell die Wirtschaftsfakultäten. Dies sollte denjenigen in der Solidaritätsbewegung zu denken geben, die sich unkritisch für einen verstärkten Wissenschaftsaustausch westlicher Hochschulen mit Kuba einsetzen. Dieser ist bestenfalls eine zweischneidige Angelegenheit.
Wolfgang Mix
CUBA LIBRE 4-2021