Die Pariser Commune und Kuba

Derzeit findet eine Rückbesinnung auf die Pariser Commune des Jahres 1871 statt. Damals ergriffen in Paris das Proletariat und die unteren Stände der Gesellschaft die Macht: "... die Erhebung des ganzen lebensbejahenden Paris – mit Ausnahme der Säulen des Bonapartismus und seiner offiziellen Opposition, der großen Kapitalisten, der Börsenjobber, der Gauner, der Faulenzer und der alten Staatsparasiten", schrieb Marx. Er sah den Aufstand an als den ersten Versuch einer sozialistischen Umgestaltung, als "... Morgenröte der großen sozialen Revolution, die die Menschen für immer vom Klassenregime befreien wird". Dies geschah vor 150 Jahren – eine, gemessen an der Geschichte der Menschheit, sehr kurze Periode. Doch fanden in diesen anderthalb Jahrhunderten schwindelerregende wissenschaftliche, technische und auch zerstörerische Entwicklungen und Veränderungen statt und sie haben das Leben auf diesem Planeten massiv verändert. Dennoch befinden wir uns, was den Weg in eine sozialistische Zukunft angeht, immer noch eher in einer Phase des Aufbruchs.

Heute verteidigen wir Kuba, den derzeit erfolgreichsten und ältesten bestehenden Versuch eines sozialistischen Weges. Er hält immerhin seit über 60 Jahren der Konterrevolution stand – die Kommune bestand nur 72 Tage, bevor sie in ihrem Blut erstickt wurde. Vergleiche sind schwierig, doch sie drängen sich auf angesichts der Frage, wo wir heute politisch stehen. Die Kommune hat spontan vieles richtig gemacht, Veränderungen angedacht, für andere Dinge war die Zeit zu kurz. In Kuba hat sich, unter ständigen Angriffen von außen und unter den Bedingungen wirtschaftlicher Unterentwicklung, in sechs Jahrzehnten ein sozialistisches Projekt gefestigt, das dennoch vor andauernden und neuen Herausforderungen steht.

Seit der Revolution von 1789 saß das Großbürgertum in Frankreich fest im Sattel und bereicherte sich in wirtschaftlichen Phasen der Prosperität, während die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragen wurde. 1871 schuf die Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Preußen-Deutschland eine neue Lage. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung war in Paris besonders hoch und den Angehörigen der unteren Sektoren des Bürgertums und der Arbeiterschaft war klar, dass sie die Kosten des Krieges würden bezahlen müssen. Ihr Aufstand führte zur Gründung der Commune, Ergebnis einer Kooperation zwischen der Nationalgarde und verschiedenen politischen Strömungen auch der noch jungen sozialistischen Bewegung. Eine breite Mehrheit der Stadtbevölkerung stand hinter der neuen Ordnung und gestaltete sie. Sie wurde zu einem kollektiven Projekt der Befreiung, welches die neugewählte nationale Bürgerregierung unter Thiers zwang, Paris aufzugeben und sich nach Versailles zurückzuziehen. Der gewählte Rat der Commune vereinigte die exekutive und legislative Gewalt, ein neuer Typ von Machtorgan. Die Diktatur des Proletariats nahm Gestalt an, "die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte", wie Marx feststellte.

Der alte Herrschafts-, Verwaltungs- und Unterdrückungsapparat wurde ersetzt durch gewählte Diener des Volkes, die jederzeit absetzbar waren; sie arbeiteten in größter Transparenz und mit realer Verantwortlichkeit unter ständiger öffentlicher Kontrolle, und "niemals haben Delegierte wahrhaftiger die Massen vertreten, aus denen sie hervorgegangen waren", hob Marx hervor. Sie erhielten dafür ein Entgelt, welches etwa dem durchschnittlichen Lohn eines Arbeiters entsprach.

In Kuba sehen wir Vergleichbares: Wer ein Amt oder eine Funktion übernimmt, erhält keine materiellen Privilegien, sondern sein bisheriges Einkommen. Wer diese Arbeit gut macht, dient den Menschen und verdient sich ihren Respekt. Der Vertrauensvorschuss ist groß, doch wer dem nicht gerecht wird, kann abgewählt werden oder tritt selbst zurück. Wer seine Position missbraucht, um sich Vorteile zu verschaffen oder sich zu bereichern, wird entlassen. Die Kommune konnte den Nachweis nicht liefern, dass eine solche Ordnung langfristig funktioniert, Kuba hingegen schon. Bis heute hat sich dort keine privilegierte Funktionärskaste, die über dem Volke steht und eine zersetzende Wirkung entfaltet, herausbilden können. Dies ist auch ein Verdienst der revolutionären Generation und ihrer führenden Repräsentanten, die an Geld nicht interessiert waren und sind. Sie haben das Volk immer wieder zur Verteidigung seiner Anliegen aufgerufen und mobilisiert. Außerdem haben sie das, was sie als Anforderungen formulierten, immer auch durch ihr persönliches Beispiel vorgelebt.

Die Pariser Commune ergriff sofort eine Reihe von Maßnahmen, welche die soziale Lage der armen Bevölkerung verbesserten und den Repressalien des abgelösten Unterdrückerregimes die Legitimität entzogen. Von Unternehmern geschlossene Fabriken wurden Arbeiterkooperativen übergeben. Der Warencharakter des Wohnraums wurde in Frage gestellt und gegen seinen Missbrauch als Spekulationsobjekt direkte Maßnahmen erlassen. Mit Blick auf Kuba wird schnell deutlich, dass das Gesicht des sozialen Fortschritts weltweit und zu allen Zeiten ähnliche Züge aufweist. Die Maßnahmen der Kommune zur Gleichstellung der Frau hinterließen auch noch nach ihrer Zerschlagung Spuren. In Kuba hat ihre totale rechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung ein enormes Potential freigesetzt. Heute besetzen Frauen in Wirtschaft, Bildung und Justiz die Mehrzahl der qualifizierten Tätigkeiten und in der Politik ist eine gleichberechtigte Präsenz in Reichweite. Das wird den noch vorhandenen Schranken in den Köpfen und anderen Blockaden ihr Weiterbestehen zunehmend schwer machen.

Plakatwand Patria o Muerte
Den Kommunarden gelang es nicht, sich mit Aufständischen in anderen französischen Städten zu vereinigen und ihre Bewegung auf die nationale Ebene zu tragen. Das trug mit zu ihrer Niederlage bei. Die Versailler Konterrevolution erhielt von den preußischen Besatzern, den eigentlichen Herren im Lande, jede nötige Unterstützung, den Pariser Aufstand niederzuschlagen. Die Deutschen genehmigten die Reaktivierung zehntausender Soldaten und machten ihnen den Weg in die Stadt frei. Kürzlich noch erbitterte Kriegsgegner im Kampf um die wirtschaftliche Dominanz in Mitteleuropa, übten die Ausbeuter international sofort den Schulterschluss, als sie ihre Klassenherrschaft in Gefahr sahen. In Kuba haben die Menschen es verstanden: Der Kampf gegen den gemeinsamen Feind ist international und die Solidarität ebenso. Der Internationalismus Kubas setzt in der ganzen Welt neue Maßstäbe, wie in jüngster Zeit gerade die solidarische Arbeit kubanischen Medizinpersonals in über 40 Ländern verdeutlicht.

In Kuba trug die große Mehrheit der Bevölkerung Fidel Castros Bewegung gegen die verhasste neokoloniale Batista-Diktatur zum Sieg. Die Volksregierung konnte sich innerhalb der Landesgrenzen, geografisch durch die Barriere der Meeresküsten gebildet, etablieren. Die Gegner der Umgestaltung verließen die Insel. Die nachfolgende Invasion in der Schweinebucht durch die USA scheiterte. Ein erneuter militärischer Angriff auf Kuba, wo den gut vorbereiteten Volksmassen die Verteidigung ihrer gesellschaftlichen Fortschritte in die eigenen Hände gelegt wurde, erscheint gegenwärtig wenig wahrscheinlich. Er würde dem wirtschaftlich und moralisch im Niedergang befindlichen US-Imperialismus unkalkulierbare Kosten abverlangen. Voraussetzung von kubanischer Seite ist jedoch auch, dass die Einheit des Volkes gewahrt bleibt.

2005 hielt Fidel vor Studenten eine vielbeachtete Rede, in der er verneinte, dass Kuba von außen vernichtet werden könne. Zum Entsetzen seiner jungen Zuhörer erklärte er jedoch, dass Umstände eintreten könnten, unter denen Kuba sich selbst zerstört. "Und es wäre unsere eigene Schuld." Bereits mit dem Niedergang von Kubas sozialistischen europäischen Verbündeten vor 30 Jahren frohlockten westliche Kubanologen. Und reaktionäre Exilkubaner sahen ihre Stunde gekommen. Sie gingen davon aus, dass es große Unzufriedenheit und Unsicherheit im Volke gebe und planten bereits die Abrechnung mit den Unterstützern der Revolution. Sie hatten von der US-Regierung gefordert, dass man ihnen, wenn der Sozialismus fiele, nach ihrer Rückkehr für drei Tage freie Hand gebe – ohne lästige Berichterstattung durch die Medien. Dazu kam es damals nicht. Kuba blieb beim Sozialismus und Fidel wurde nicht müde, immer wieder den Wert dessen, was Generationen auf Kuba geschaffen haben, zu verdeutlichen. Und die große Mehrheit der Menschen vertraute ihm und zog mit.

Doch das Wesen einer egalitären Gesellschaft wird ohne Unterbrechung n Frage gestellt. Die Versuche ideologischer Zersetzung durch neoliberale Ideologie von außen, für die Millionensummen eingesetzt werden, können von niemandem geleugnet werden. Zielgruppen sind vorrangig Akademiker, Künstler und Medienschaffende. Hinzu kommt der Einfluss durch die sogenannten "sozialen Medien": Die Scheinfreiheit und die Faszination, die sie gerade gegenüber Jugendlichen ausströmen, beinhalten eine Kriegsführung mit anderen Mitteln. Das hat man in Kuba erkannt. Um dieser parallelen Unterwelt wirkungsvoll die Werte der Revolution entgegen zu setzen, werden enormer Einsatz und hohe Kreativität nötig sein – wichtige Ressourcen, die der Welt der realen Notwendigkeiten entzogen werden und dort dann möglicherweise fehlen.

Augenzeugen der Niederschlagung der Commune beschrieben die Leichenberge auf den Straßen und Plätzen von Paris. Das muss eine Mahnung bleiben, um zu verhindern, dass kapitalistische Rattenfänger, wo auch immer, das Rad der Geschichte und den sozialen Fortschritt erst auf die eine und dann auf die andere Weise zurückdrehen.

CUBA LIBRE Wolfgang Mix

CUBA LIBRE 3-2021