Souveräne Defensive

Über den Vorwurf, Kuba sei heutzutage nicht mehr sozialistisch genug.

Jovenes Cubanos

Zusammenhalt und kollegiales Handeln sind entscheidend für die Gegenwart und Zukunft Kubas.
Foto: Ladyrene Pérez/Cubadebate

Die Kubanische Revolution muss sich auch in im 63. Jahr Widrigkeiten und Angriffen erwehren. Dabei kommen die Attacken heutzutage nicht mehr vorrangig mit reaktionären oder antikommunistischen Argumenten. Die gegenwärtigen Angriffe auf Kuba sind subtiler, und sie begehen nicht mehr den Fehler, die Errungenschaften der Revolution grundsätzlich zu leugnen. Im Gegenteil: Gute Absichten und anfängliche Erfolge werden Kuba durchaus zugestanden. Allerdings wird suggeriert, die Revolution habe zu einem gewissen Zeitpunkt begonnen, sich in Widersprüche zu verfangen. Der kubanische Sozialismus befinde sich, dieser Auffassung zufolge, heute in der Zwickmühle, seine eigenen Versprechungen nicht mehr halten zu können. Genau genommen handele es sich demnach um keinen Sozialismus mehr, sondern um eine unreine Mischform. Das Kuba von heute wird gegen die Werte und hehren Absichten des revolutionären Kubas von 1959 abgewogen – und in der Regel für zu leicht befunden.

Wer jetzt glaubt, zu einem solchen Urteil könnten nur enttäuschte Theorie-Guevaristen aus der stets besserwissenden Metropolen-Linken kommen, täuscht sich. Der (scheinbar) linke Vorwurf an Kuba, nicht sozialistisch genug zu sein, wird heutzutage gerne mit dem Vorschlag verknüpft, mehr Eigeninitiative und eine wohldosierte Marktwirtschaft zuzulassen, ohne jedoch in einen entfesselten Kapitalismus zu verfallen. Dahinter steckt offensichtlich die Vorstellung, es sei möglich, kapitalistische und sozialistische Elemente wie in einem Reagenzglas zu mischen: Eine Prise liberale Freiheit, eine Prise marktwirtschaftliche Produktivkraftentwicklung, eine Prise sozialistische Gerechtigkeit und eine Messerspitze Humanismus.

Kostprobe gefällig? Die Stiftung Wissenschaft und Politik – Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, ein Thinktank der Bundesregierung, veröffentlichte im Jahr 2017 eine Studie unter dem Titel: "Kuba "aktualisiert" sein Wirtschaftsmodell – Perspektiven für die Zusammenarbeit mit der EU". Darin heißt es: "Die EU sollte nicht auf eine kurzfristige Wirtschaftsprivatisierung in Kuba drängen, denn es liegt auf lange Sicht auch im ökonomischen und politischen Interesse der Industrieländer, dass eine weitere Privatisierung der kubanischen Wirtschaft nicht zu einem Monopolkapitalismus führt. … Kuba hat ein großes Interesse, nicht den Fehler Russlands zu wiederholen, das in den 1990er Jahren ohne entsprechende institutionelle Absicherung eine zunehmende Privatisierung von Staatsmonopolen zuließ und so die Herausbildung eines Monopolkapitalismus unterstützte. … Mit der gegenwärtigen Förderung kooperativer Wirtschaftsformen hat Kuba durchaus die Möglichkeit, einen dritten Weg zwischen Marktkapitalismus und Sozialismus zu beschreiten." (Download unter: www.ssoar.info/ssoar/handle/document/50918)

Dieser Vorschlag, einen "Dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus einzuschwenken, existiert in verschiedenen Facetten: dem Orientieren an einer in Europa aus der Mode gekommenen "sozialen" oder auch der in China und Vietnam ausgerufenen "sozialistischen" Marktwirtschaft. Bei aller Verschiedenheit der Vorschläge haben sie die Vorstellung zum Dreh- und Angelpunkt, Kuba habe als die notwendige Konsequenz des vermeintlichen Scheiterns des ursprünglichen, reinen kubanischen Sozialismusmodells ein "Erfolgsmodell" zu importieren und zu adaptieren.

Das Bild, Kuba sei mittlerweile von seinem ursprünglich eingeschlagenen reinen Weg des Sozialismus abgekommen und habe sich heute im Zickzack durch einen sozialistisch-marktwirtschaftlichen Mischwald zu schlagen, ist dabei aus mindestens vier historischen Gründen schräg.

1. Die Kubanische Revolution ist, zumindest im kubanischen Sprachgebrauch, kein Ereignis, sondern ein langer Entwicklungsprozess, welcher 1868 mit dem zehnjährigen Krieg als erste Etappe begonnen hat. Nicht ohne Grund nannte Fidel den in dieser Zeit wirkenden humanistischen Nationaldenker José Martí den "Autor der Revolution". Der revolutionäre Erfolg von 1959 hat also eine neunzigjährige Vorgeschichte.

2. Auch die Kubanische Revolution von 1959 hat sich erst im Laufe vieler Versuche, Anstrengungen, Fehler und Errungenschaften zu dem entwickelt, als das wir sie heute rückwirkend und mitunter nostalgisch betrachten. Als Beispiele seien nur die Alfabetisierungskampagne, die Industrialisierung des Landes und die damit verbundene Entwicklung einer Arbeiterklasse, der (Bio-)Wissenschaftlicher Fortschritt, demokratische Entscheidungsstrukturen wie das System der Poder Popular, die politisch-ideologische Aufbauarbeit der "Ideenschlacht" oder die die gesamte Bevölkerung erfassenden Debatten über die neue Verfassung genannt. Das sozialistische Kuba schafft es immer wieder, zu agieren und Themen zu setzen – siehe die 45 Brigaden des internationalen medizinischen "Henry Reeve"-Kontingents, die mit insgesamt 3.772 Mitgliedern, davon 2.399 Frauen, in 38 Ländern insgesamt 255.372 Patienten behandelt und über 8.000 gerettet haben. Sie sind keine späten Echos eines revolutionären Impetus aus den 1960er Jahren. Sie sind der aktuellen Ausdruck eines lebendigen, um Antworten auf die aktuellen Herausforderungen ringenden sozialistischen Kubas.

3. Die Kubanische Revolution hat sich seit etwa 1991 unter Sonderbedingungen entwickeln müssen, eben denen einer "Sonderperiode", in welcher der planmäßige Weg zu einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft unterbrochen und teilweise widersprüchliche Maßnahmen ergriffen werden mussten. Mit anderen Worten: Die Revolution hat sich also eine beinahe ebenso lange Zeit unter den Sonderbedingungen inmitten einer feindseligen, imperialistischen Weltgesellschaft entwickeln müssen wie unter den vorherigen Bedingungen eines sozialistischen Weltsystems. Seit nunmehr 30 Jahren ist die kubanische Revolution in erster Linie gezwungen, auf Einschränkungen und widrige Verhältnisse zu reagieren. Partei und Regierung in Kuba sehen sich aufgrund ausbleibenden Wirtschaftswachstums und wegbrechender Deviseneinnahmen gezwungen, den strategisch bestimmten Entwicklungsweg der kubanischen Revolution zu korrigieren und einige Maßnahmen – trotz nicht ausreichend entwickelter Voraussetzungen – zu beschleunigen. Das, was Kuba heute ist, ist bestimmt nicht das Kuba, was sich die Revolutionärinnen und Revolutionäre im Jahr 1959 sechs Jahrzehnte weiter in der Zukunft vorgestellt haben. Es ist nur so, dass kein historischer Prozess widerspruchslos den Vorstellungen derjenigen entspricht, die ihn gestalten.

4. Über die strategische Bedrohungslage hinaus sieht sich die kubanische Revolution seit 1960 ununterbrochen den Angriffen des Imperialismus ausgesetzt, insbesondere der USA, die traditionell einen hegemonialen Anspruch auf die Region und insbesondere auf Kuba erheben.

Seit der Trump-Administration ist die US-Blockade umfassender und aggressiver denn zuvor. Kurz vor ihrem Abgang versuchte die Trump-Administration, die Früchte ihrer Hardliner-Politik zu ernten und verstärkte die Versuche, eine "Farben" – (Konter-)Revolution zu inszenieren. Dabei versuchen die USA, die Corona-Pandemie für ihre Zwecke zu nutzen und die kubanische Regierung für ihr konsequentes Vorgehen gegen selbige den maximalen politischen und wirtschaftlichen Preis zahlen zu lassen.

Auch wenn Hoffnungen auf die Abschwächung einiger Blockade-Maßnahmen unter dem neuen US-Präsidenten Joseph Biden bestehen, wird bereits deutlich, dass die neue US-Regierung durch exilkubanische Contra-Gruppen, US-Dienste wie NED, USAID, CIA sowie antikommunistische Stiftungen und Organisationen ihre Aktivitäten für einen Regime-Change in Kuba fortsetzen und intensivieren wird.

Die Pandemie-Situation wird dabei von den USA gezielt ausgenutzt, um die Folgen der Blockade noch zu verschärfen.

Ziel ist es, die kubanische Regierung zu unpopulären Maßnahmen zu zwingen, Unzufriedenheit und Spaltungen in der Bevölkerung zu schüren sowie die mit dem revolutionären Kuba sympathisierenden Kräfte im Ausland zu verunsichern. Ist das noch unser revolutionäres Kuba? Verteidigt es die Werte, für die wir es einst so bewundert haben, mit derselben Entschlossenheit? Hat es den Weg des Sozialismus bereits verlassen, und ist es vielleicht nicht gar besser so?

So berechtigt diese Fragen sind, sollte man sich doch immer darüber im klaren sein, dass sie auch der gewünschte Output einer minutiös aufgebauten Bedrohungslage sind.

Vom 16. bis 19. April 2021, in den Tagen um den 60. Jahrestag der gescheiterten Invasion des US-Imperialismus in der Schweinebucht, wird der VIII. Parteitag der KP Kubas stattfinden. Die dort gefassten Beschlüsse werden widersprüchlich sein und möglicherweise auch einige Errungenschaften der kubanischen Revolution zeitweise zurücknehmen. Der Sozialismus steht auf ihm allerdings nicht zur Disposition – und auch nicht die Einführung von Mischverhältnissen. "Die Geschichte zeigt, dass vom Marktsozialismus am Ende nur noch der Markt, nicht aber der Sozialismus blieb." So die Worte des ehemaligen kubanischen Wirtschaftsminister Rodríguez, die auch in den Äußerungen des kubanischen Präsidenten und vermutlichen zukünftigen Parteichefs Miguel Díaz-Canel wieder zu finden sind. Die entscheidende Frage ist, inwiefern es gelingt, von einer sozialistischen Positionen aus die richtigen Antworten auf die aktuellen Herausforderungen und die strategische Gesamtlage zu finden. Auch wenn der unbeteiligte Zuschauer auf der Tribüne es sich vielleicht anders wünscht, der Boxer im Ring weiß: Eine souveräne Defensive ist nicht weniger wert als eine heldenhafte Offensive. Im Gegenteil.

CUBA LIBRE Tobias Kriele

CUBA LIBRE 2-2021