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Kuba ist bereit, jeden ökonomischen Preis zu zahlen, um Leben zu retten

Tobias Kriele sprach mit Dr. Franco Cavalli, einem der renommiertesten Krebsforscher der Schweiz und Präsident von MediCuba Europa.


CL: Franco Cavalli, Sie sind Mitte November nach Kuba geflogen. Wie war Ihr Eindruck vom Umgang mit Corona auf der Insel und von der Situation im Moment?

Franco Cavalli: Kuba ist es gelungen, die Coronpandemie auf eine fast unglaubliche Art in Schach zu halten. Die Tatsache, dass es sich um eine Insel handelt, erleichtert die Aufgabe sicher, kann aber für sich allein nicht erklären, weshalb Kuba etwa hundertmal weniger Todesfälle verzeichnet als das ähnlich bevölkerte Belgien. Kuba hat bis heute (22.11., die Red.) weniger als 140 Tote zu beklagen. Ein Vertreter der Weltgesundheitsorganisation in Havanna hat diese Zahlen, die international angezweifelt worden sind, mir gegenüber bestätigt. Sie sind das Ergebnis eines gut organisierten Gesundheitssystems, das stark auf Prävention setzt. Ich habe in Havanna selbst keine einzige Person gesehen, die auf der Straße ohne Maske herumgelaufen wäre. Keine einzige! Wenn man ein Gebäude betritt, steht da jemand, der Dir die Temperatur misst und Hände und Schuhe desinfiziert. Sitzungen finden mit den gebührenden Abständen statt, die Masken werden nie herunter gelassen, höchstens, um einen Schluck Kaffee zu trinken.

Diejenigen, die positiv getestet werden, kommen für zehn Tage ins Krankenhaus, werden nach zehn Tagen wieder getestet und erst bei einem negativen Testergebnis nach Hause entlassen. Für Kontaktpersonen, die in beengten Wohnverhältnissen leben, wurden Quarantänezentren eingerichtet. Auch diejenigen, die sich zu Hause in Quarantäne befinden, werden täglich von einem Arzt, einem Medizinstudenten oder einer Gemeindeschwester besucht, die genau weiß, was sie zu tun hat. Die Quarantänepatienten erhalten genaue Verhaltensvorschriften und werden mit kubanischen Medikamenten wie Beta-Interferon behandelt. Kuba hat auch ein Nasenspray entwickelt, zu dem es international unterschiedliche Einschätzungen gibt. Symptomfreie Corona-Patienten, Quarantänefälle und das medizinische Personal werden täglich prophylaktisch mit diesem Spray behandelt. Es gibt noch zwei weitere von den Kubanern entwickelte Medikamente. Auch wenn ich zu ihrer Wirksamkeit wenig sagen kann, sollen sie die Immunabwehr verstärken und sind frei von Nebenwirkungen. Die Planmäßigkeit des ganzen Vorgehens ist beeindruckend.

Natürlich, auch wenn man wie ich in der letzten Zeit fast jedes Jahr nach Havanna gereist ist, erkennt man die Stadt heute kaum wieder. Sie wirkt beinahe wie ausgestorben, die meisten Restaurants, Cafés und Hotels sind geschlossen. Es gibt keine Touristen und überhaupt sind nur sehr, sehr wenige Menschen auf der Straße unterwegs. Die Regierung handelt nach dem Prinzip: Ein Menschenleben ist nicht in Geld aufzuwiegen, aber wir sind bereit, jeden ökonomischen Preis zu zahlen, um Leben zu retten. US-Präsident Trump hat diese spezielle Pandemie-Situation noch ausgenutzt, um die Wirtschaftsblockade weiter zu verschärfen, obwohl das kaum möglich war. Er hat kürzlich dem Finanzdienstleister Western Union verboten, Geld nach Kuba zu transferieren und damit im Ausland lebenden Kubanern die Möglichkeit genommen,ihren Familien auf Kuba Geld zu senden. Gesamthaft gesehen, obwohl die Kubaner das nicht so gern hören, erinnert mich die aktuelle Lage an die Situation in der Sonderperiode. Der einzige Unterschied ist, dass es zumindest im Moment noch genügend Benzin gibt. In den Läden gibt es immer weniger zu kaufen. Und auch in den Krankenhäusern wird das medizinische Verbrauchsmaterial eingeteilt. Überhaupt ist zu spüren, dass der kubanische Staat an allen Ecken und Enden spart.

CL: Sie waren ja nicht auf Privatreise in Kuba, sondern haben dort eine Mission erfüllt. Wer waren Ihre Kooperations- und Gesprächspartner?

Franco Cavalli: Ich hätte privat gar nicht einreisen dürfen, das ging nur durch eine Ausnahmegenehmigung für MediCuba Europa. Ich muss da vielleicht kurz ausholen. In der ersten Pandemiewelle hat MediCuba Europa Hilfe in einer Größenordnung von 600.000 Euro leisten können. Damals war in Europa sehr viel mehr Solidarität mit Kuba zu spüren, vermutlich auch wegen der Anwesenheit der kubanischen Medizinbrigaden. Allein die französische Gewerkschaft CGT hat uns erstmalig 50.000 Euro für unsere Hilfsmaßnahmen für Kuba geschickt.

Zunächst haben wir für 100.000 Euro Corona-Testmaterial von Roche gekauft. Dann haben wir den Kubanern die nötigen Zusatzstoffe geliefert, damit sie das Testmaterial selbst herstellen können. Zum Teil geschieht das in den molekularbiologischen Laboratorien des Instituts Pedro Kurí, die wir als MediCuba Europa in den letzten Jahren aufgebaut hatten. Da Kuba auf dem Weltmarkt keine Beatmungsgeräte einkaufen konnte, haben wir 22 dieser Geräte aus Schweizer Produktion nach Kuba geschickt. Die Kubaner sind so gut, dass sie mittlerweile selbst in der Lage sind, diese Apparate in vereinfachter Form selbst zu bauen. Dazu haben wir ebenfalls Schlüsselelemente geliefert. Jetzt hat uns BioCubaFarma, eine Holding im Forschungspol von Havanna, welche 32 Institute mit 20.000 Angestellten umfasst, um Hilfe bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen den Corona-Virus gebeten. Insbesondere benötigen sie Cytofluorometer, also Geräte, die schnell die Veränderung von weißen Blutkörperchen messen können. Das ist insofern ein wichtiger Bereich, als dass damit die Wirksamkeit eines Impfstoffs gemessen werden kann. Die Apparate sind mit einem Wert von einer halben Million Euro relativ kostspielig und aufgrund der US-Blockade schwer erhältlich. Mein Besuch diente dazu, die Umsetzbarkeit dieser Spende vor Ort zu eruieren. Das war der Hauptgrund für meine Reise.

CL: Im Rennen um die Entwicklung des COVID-19-Impfstoffs, werden vor allem chinesische, US-amerikanische und auch deutsche Unternehmen genannt. Wie weit ist die Impfstoffentwicklung in Kuba?

Forschung mit Hochdruck

Forschung mit Hochdruck



Franco Cavalli: Weltweit werden derzeit 45 Impfstoffe an Menschen getestet. Die Kubaner sind dabei. Der kubanische Impfstoff wird im Instituto Finlay entwickelt, einem weiteren Institut aus dem Forschungspol Havanna. Es ist ausschließlich der Impfstoffentwicklung gewidmet und hat eine lange Tradition auf dem Gebiet. Dort wurde vor 30 Jahren der weltweit erste Impfstoff gegen Meningokokken, entdeckt. Die meisten dort entwickelten Impfstoffe sind sehr gut und kostengünstig und werden vielfach in Entwicklungsländern angewendet.







Kuba existieren jetzt bereits zwei Impfstoffe, die "Soberana 1" und "Soberana 2" genannt werden. Kuba ist natürlich zunächst einmal bestrebt, die eigene Bevölkerung zu schützen. Es entwickelt seine Impfstoffe unabhängig von den großen Weltkonzernen, daher auch der Name "Soberana", "Souverän". Mit "Soberana 1" wurden bereits etwa 200 Freiwillige geimpft. Soberana 2 wird nach Meinung der Kubaner noch effektiver sein, weil er mit einem sogenannten Verstärker arbeitet. Dazu wird ein Stück Protein mit einem anderen Stoff verkoppelt, der die immunologische Reaktion potenziert. Entscheidend ist die Phase 3, in der der Impfstoff an einer großen Bevölkerungsgruppe getestet wird. Offiziell verlangt die WHO 30.000 Freiwillige, von denen die Hälfte den Impfstoff bekommt, die andere Hälfte einen wirkungslosen Stoff. Die Testpersonen müssen nach der Impfung mindestens drei Monate lang beobachtet werden. Die Kubaner hoffen, mit dem ersten Impfstoff, aber wahrscheinlich auch mit dem zweiten, etwa Anfang nächsten Jahres in die Phase 3 zu kommen. Dann könnten Ende März die Ergebnisse vorliegen und zu Beginn des Sommers mit der Impfung der kubanischen Bevölkerung begonnen werden.

CL: Was unterscheidet das kubanische Impfstoffprogramm von dem, was Unternehmen wie Pfizer oder Biotech machen?

Franco Cavalli: Der kubanische Impfstoff unterscheidet sich in seinem Wirkungsmechanismus nicht von anderen Kandidaten. Vermutlich werden am Ende alle diese Impfstoffe grosso modo wirksam sein. Daher das aktuelle Wettrennen um den ersten marktreifen Stoff. Der viel diskutierte Wirksamkeitsgrad von 91, 92 oder 95 Prozent stellt dabei virologisch gesehen keinen signifikanten Unterschied dar. Entscheidend werden aber andere Faktoren sein. Zum einen der Preis, zum anderen die Nebenwirkungen. Der dritte und meiner Meinung nach der entscheidende Faktor wird sein, wie leicht der Impfstoff verwendet werden kann. Der von Pfizer hergestellte Impfstoff muss zum Beispiel bei 90 Grad gelagert werden. Das ist natürlich eine Bedingung, die den Einsatz vor allem in armen Ländern relativ stark einschränkt. Vom russischen Impfstoff weiß man, dass er, sobald er aus dem Kühlschrank entnommen wurde, innerhalb von 10 Minuten verwendet werden muss, ansonsten degradiert er. Diese logistischen Probleme eines Impfstoffes werden meiner Meinung nach am Ende von größerer Bedeutung sein als ein Prozent Wirksamkeit mehr oder weniger. Das ist nur eine mathematische Spielerei. Die neue RNA-Technologie ist sehr empfindlich und kann nicht unter normalen Temperaturen stabil gehalten werden. Die Kubaner aber glauben, dass ihr Impfstoff auch bei Temperaturen von zwei bis fünf Grad über Null stabil bleiben könnte. Das wäre natürlich ein immenser Vorteil. Dr. Moya, der Vertreter der panamerikanischen Gesundheitsorganisation, mit dem ich zusammengetroffen bin, selbst ein Arzt, ist der Meinung, dass dieser Impfstoff insbesondere für die armen Länder von großer Bedeutung sein könnte. Diese Einschätzung wird von vielen Spezialisten der WHO geteilt.

CL: In welchem Sinne behindert die US-Blockade die kubanische Impfstoffentwicklung?

Miguel Díaz-Canel im Gespräch mit Ärzten

Miguel Díaz-Canel im Gespräch mit Ärzten



Franco Cavalli: Am Anfang der Pandemie hatten die Kubaner Schwierigkeiten, auf dem Weltmarkt Schutzmaterial zu bekommen. Damals wurden Schutzmasken fast mit Gold aufgewogen. Zuerst haben die Chinesen ausgeholfen, mittlerweile produzieren die Kubaner sie selbst. Nicht nur die Masken produzieren sie selbst, sondern auch das Material für die Tests und die Beatmungsgeräte. Sie sind jetzt fast unabhängig geworden.






Aber natürlich braucht man Antibiotika, man braucht allerlei in den Krankenhäusern. Und in dieser Situation haben die USA fast alle Geldhähne geschlossen. Sogar innerhalb der Schweiz haben wir das Problem, dass die Leute ihre jährlichen Beiträge an MediCuba und an die Vereinigung Schweiz-Cuba via Banken kaum noch zahlen können. Weltweit herrscht nahezu Paranoia in Folge der Trump-Maßnahmen. Sobald irgendwo "Kuba" steht, heißt es: Nein danke, wir wollen nichts damit zu tun haben. Früher gab es in der Blockade Tausende kleiner Löcher, die jetzt durch Trumps Maßnahmen beinahe komplett verschlossen wurden.

CL: Wie haben ihre Gesprächspartner den Ausgang der Präsidentschaftswahl mit Blick auf die Entwicklung der Impfstoffe, auf die Entwicklung medizinischer Geräte oder einer Strategie gegen Corona bewertet?

Franco Cavalli: Die Kubaner wissen, dass Biden kein Linker ist, aber sie verbinden gewisse Hoffnungen mit ihm. Biden hat selbst zwei Kinder verloren, darunter einen Sohn an Krebs. Er setzt sich sehr für die medizinische Zusammenarbeit im Allgemeinen ein und wurde unter Obama zum Chef eines Anti-Krebs-Programms ernannt. Ich habe einen kubanischen Bekannten, der damals den kubanischen Gesundheitsminister zu einer Vertragsunterzeichnung über die wissenschaftliche und medizinische Zusammenarbeit nach Washington begleitet hat. Er versicherte mir, es sei zu spüren gewesen, dass Biden vor allem auf dem medizinischen Gebiet Kuba noch offener gegenüber stand als Obama selbst. Insgesamt sind die Kubaner guter Hoffnung, dass sich die Beziehungen zu den USA wieder deutlich verbessern werden und wieder den Stand der letzten Obama-Amtszeit erreichen können.

CL: Welche Unterstützung braucht Kuba in dieser Situation?

Franco Cavalli: Es gibt mindestens zwei konkrete Möglichkeiten, Kuba zu helfen. Die erste ist, Druck auf die eigene Regierung und das eigene Parlament zu entwickeln, damit die europäischen Staaten sich für die Aufhebung der Blockade als dem Grundübel stark machen. Wir haben einen kleinen ersten Erfolg im Schweizer Parlament erreicht, in dem in einer außenpolitischen Kommission eine Erklärung verabschiedet wurde, dass sich die Schweiz international für das Ende der Blockade einsetzen möge. Wenn die Parlamente in Staaten wie Deutschland oder Frankreich Ähnliches beschließen würden, wäre das von großer Bedeutung. Nach dem Wechsel von Trump zu Biden könnten die USA gegenüber Stimmen aus Europa empfindlicher sein. Das ist natürlich ein Kampf, der in jedem Land geführt werden muss, auf politischer und medialer Ebene. Und schließlich ist die tatkräftige Hilfe für Kuba, die nicht nur wir leisten, sondern auch viele andere Gruppen, heute, in dieser Krise, noch mehr von Nöten. Wir von MediCuba haben sofort nach meiner Rückkehr eine weitere Unterstützung in Höhe von 450.000 Euro für das kubanische Impfstoffprogramm beschlossen. Wir werden darüber hinaus Medikamente und Apparate schicken, wann immer es notwendig ist. Kuba braucht diese Hilfe mehr denn je.

CUBA LIBRE

CUBA LIBRE 1-2021