Schon klar, "Yuli" hatte seine Uraufführung bereits vor einem guten halben Jahr als eines der herausragenden Werke auf Havannas Film-Fest, aber da es sich, auch wenn Kuba und Kubaner darin vorkommen, um keine kubanische Produktion handelt, war es über das Festival hinaus Sperrfristen unterworfen und ist erst jetzt ("Yuli" im Juli, wenn man mir diesen Kalauer nachsehen will) landesweit in den Kinos, in Lichtspielhäusern mehrerer Städte parallel.
"Ballettfilme richten sich zumeist an ein sehr eingeschränktes Publikum", lautet ein Satz in der Begründung des Instituts FBW (Deutsche Film- und Medienbewertung) für die Vergabe des Prädikats "besonders wertvoll" an den Film "Yuli" – eine Biografie über den berühmten kubanischen Ballerin Carlos Acosta. Dass das so ist, kommt freilich nicht von ungefähr. In Deutschland, wie vermutlich in der gesamten sogenannten zivilisierten westlichen Welt, ist Ballett als Live-Erlebnis kaum bezahlbar. Der Preis der Eintrittskarte ist ein Regulativ, das Klassenunterschiede zementiert und so den Zugang weniger begüterter Schichten zu diesem Stück Kultur rigoros beschneidet. Die Frage, ob Ballett dem Arbeiter der Faust unter Umständen nahe zu bringen wäre oder nicht, stellt sich gar nicht erst. Das entscheiden schon andere.
Wer je in Kuba die Menschenschlangen vor sams- oder sonntäglichen Klassik-Vorstellungen wie etwa Tschaikowskis "Schwanensee" durch das Nationalballett oder einer Darbietung des "Conjunto Folklorico" aus Camagüey, das eher Ländliches anzubieten hat, oder aber einer avantgardistischen Kompanie, die zeitgenössisches Tanztheater inszeniert, erlebt hat, kennt das Kontrastprogramm zu Anzug und Kostüm: Männer in nicht immer neuen, aber sauberen Hosen und gestreiften oder geblümten Hemden. Frauen in etwas, das sie nur zu seltenen Anlässen hervorholen, und Kinder, die aussehen wie wandelnde Bonbonieren (jedenfalls die kleinen Mädchen). Aber um daraus dünkelhaft versnobten Spott abzuleiten, muss man schon Ausländer sein. Kultur, jede Art davon, ist in Kuba subventioniert wie nur irgendetwas. Und wenn Automechaniker, Tankwarte, Malocher auf dem Bau, Anstreicher, Müllkutscher oder ambulante Lackiererinnen von Fingernägeln nicht Haus und Hof verkaufen müssen, um einer erstrangigen Ballettaufführung beizuwohnen, gehen sie gerne hin. Kunst für die Oberschicht? Die meisten wüssten gar nicht, was damit gemeint ist.
Meine Frau und ich waren hoch in den Vierzigern, als wir das erste Ballett unseres Lebens sahen. Seitdem wir in Kuba wohnen, sind wir regelrechte Fans dieser Form des Tanzes geworden. Dabei eher solche des modernen als des klassischen. Natürlich schauen wir uns auch "Giselle" an, aber die Faszination geht für uns besonders vom Akrobatischen aus.
In den 70er Jahren guckte ich gern Eiskunstlaufen. Es gibt da ein Kürelement, den "Flugaxel", das niemand so hinbekam wie der Brite John Curry. Ich fragte mich: Wie ist es nur möglich, dass sich jemand, der doch der Schwerkraft dieses Planeten ebenso unterliegen müsste wie jeder andere Mensch, dermaßen lange in der Luft hält?
Ich erwähne dies, weil der Flugaxel (oder etwas zum Verwechseln Ähnliches) auch in "Yuli" vorkommt. Nur ohne Schlittschuhe.
Diese zirzensischen Sprünge gehen nicht immer gut. Es gibt im Film die nachgestellte Szene eines realen Vorfalls, als der Aufsprungfuß des Tänzers mal geringfügig anders Bodenkontakt bekam als vorgesehen. Das Geräusch ähnelt irgendwie dem einer ins Herdfeuer geworfenen Tüte Popcorn.
Jedenfalls hatte der junge Acosta damals ganz viel Zeit, die Decke seines Krankenzimmers zu betrachten oder in den unausweichlichen Londoner Regen hinauszustarren.
Aber ich greife vor. Lassen wir den Patienten zunächst mit seiner Tristesse allein. Er wird sich oft erinnert haben, wie das alles anfing in seiner Kindheit im fernen Havanna …
Carlos Acostas Kindheitsleidenschaft war – wie die vieler Jungen – der Fußball und nach eigenem Bekunden verehrte er vor allem Pele. Nun ist er Jahrgang 1973. Als er ein Alter erreicht haben konnte, in dem man anfängt, diesen Sport mit Spielerstars in Verbindung zu bringen, hatte Pele seine Fußballschuhe schon seit einigen Jahren an den Nagel gehängt. Also kann Carlos ihn nur von Fernsehkonserven früherer Weltmeisterschaften her kennen. Aber Außergewöhnliches leistete er beim Straßenkick wohl auch nicht. Anders beim Break Dance! Da war er mit zehn Jahren oder so (jedenfalls ist der Kind-Darsteller Acostas, Edilson Manuel Olvera, zur Zeit der Aufnahmen zehn) in seinem Viertel Los Pinos in einem Außenbezirk Havannas ein Star, bejubelt von seinen Peers und in Sprechchören gefeiert. Als ihn eines Tages sein chronisch missgelaunter Vater sucht, braucht er nur dem skandierten "Yuli! Yuli! Yuli!" zu folgen, um ihn am Kragen (oder am Ohr) aus der vielköpfigen Traube seiner Followers herauszuziehen. Bevor er das tut, hat er freilich in nur wenigen Augenblicken registriert, wie geschickt sein Sprössling sich bewegt.
Kurz entschlossen meldet er ihn – zu dessen Entsetzen – in einer staatlichen Ballettschule an. (Eine aus der Aufnahmekommission: "So, du willst also Ballett lernen." Carlos: "Nein, das will ich nicht." Vater: "Doch, er will." Carlos: "Ich will dieses schwule Zeug nicht anziehen. Alle meine Kameraden werden sich über mich lustig machen.")
Als er eine kurze Sequenz vortanzen soll, entscheidet er sich für Michael Jacksons Moonwalk und beendet seine Performance vor dem sauertöpfisch-gequält lächelnden Damenkomitee mit dem notorischen Griff in den Schritt. (Ein erstes kleines Highlight des Films!)
Carlos’ Vater Pedro Acosta (dargestellt von Santiago Alfonso) ist eine interessante, reizvoll ambivalente Figur. Lastwagenfahrer, zu Beginn des Films gerade erst aus dem Gefängnis entlassen, hat er seinem Sohn den Rufnamen "Yuli" gegeben, weil dies der Name eines Kriegsgottes aus der Yoruba-Religion jener unglücklichen Westafrikaner war, die einst als Sklaven nach Kuba verschleppt wurden. Pedros Großmutter war noch Sklavin auf einer Plantage gewesen, deren Besitzer Acosta hieß. Also hießen automatisch alle Leibeigenen auf dem Anwesen auch so und deren Nachkommen ebenfalls. Der Familienname Acosta ist Pedro verhasst. Er steht gleichzeitig für Unfreiheit und für Rassismus. Carlos’ Schattenname "Yuli" repräsentiert sozusagen ein Gegengift zu diesem Fluch. Als sein kleiner Sohn das unerwartete Talent offenbart, sieht Pedro für ihn die Chance gekommen, sich vom Joch der Vergangenheit zu befreien. Allerdings schreckt er nicht davor zurück, Yuli mit drakonischen Maßnahmen zu seinem Glück zu zwingen. Als der, des Mobbings seiner Altersgefährten überdrüssig, immer häufiger die Ballettstunden schwänzt, wird er, als sein Vater dies erfährt, von ihm mit dem Gürtel halb tot geschlagen. Ungeachtet dessen ist Pedro Yuli in Liebe zugetan. Der Journalist Rolando Betancourt nennt ihn "un padre tierno-violento" (einen zärtlich-gewalttätigen Vater).
Wegen seiner Disziplinlosigkeit wird Yuli von der Schulleitung in ein Tanzinternat in Pinar del Río strafversetzt. Dort "symbolisieren" für den Kritiker Jens Balkenborg "geschickte Schattenspiele die geistigen und physischen Gitterstäbe", unter denen der Junge leidet. Das Heimweh und die Einsamkeit bringen ihn aber dazu, den Tanz als eine Fluchtmöglichkeit zu begreifen und von dem Moment an, da er sich nicht mehr dagegen wehrt, macht er endlich die Entwicklung, die angesichts seiner natürlichen Begabung nur logisch ist.
1990 gewinnt er als 16jähriger die Goldmedaille beim "Prix de Lausanne" (von da an von Keyvin Martínez dargestellt, in der Realität ein arrivierter Tänzer in der Kompanie Acosta Danza) und als 18jähriger wird Yuli vom Royal Ballet in London verpflichtet – als erster Nicht-Weißer in dessen Historie. In diese Zeit fällt die erwähnte langwierige Fußverletzung. Als Carlos wieder gehen, aber noch nicht tanzen kann, also im beruflich-künstlerischen Sinne noch rekonvaleszent ist, beschließt er, seiner Heimat einen Besuch abzustatten. Das Kuba, das er antrifft, ist das der Sonderperiode, das der Stromabschaltungen und des Hungers. Bei einem Essen im Kreise der Familie bricht sein Zwist mit seinem Vater wieder auf. Pedro Acosta ist durchaus nicht froh über Carlos’ Anwesenheit. Ist das vielleicht eine Art, seine Karriere zu betreiben?! Sein Sohn hat inzwischen die Adoleszenz überschritten und er kann ihn nicht mehr windelweich prügeln. Man merkt ihm jedoch an, dass er genau das am liebsten täte. (Das Verhältnis des Tänzers zu seinem Vater wird auch im weiteren Verlauf des Films nie völlig frei von Spannungen sein; es wird aber Szenen geben, in denen sie sogar miteinander lachen können).
Mit dem Satz in der Inhaltsangabe von FILMSTARTS "Yuli will einfach nur sein Leben auskosten" bin ich allerdings nicht einverstanden. Das Leben der Kubaner in der "periodo especial" war nichts, was man hätte "auskosten" können. Yuli hat begriffen, welchen Preis er zahlt, um sein jetziges – ein materiell sorgenfreies – Leben zu führen. Er sehnt sich nach seiner vertrauten Umgebung, nach Kuba, nach jenem Vorort Havannas seiner Kindheit, in dem er Break Dancer und Fußballspieler war. Auch nach seiner Mutter, seinen Schwestern und, ja, ebenso nach seinem Vater, der ihn beschimpft und ihm Vorwürfe macht. Er bezieht ihn, mit dem er sich gerade angeschrieen hat, ausdrücklich in seine Sehnsucht ein!
Die Sache zieht sich freilich über den Genesungspunkt hin. Als ihn eines Tages seine alte Ballettlehrerin besucht, trifft sie ihn mit einer Zigarette in der Hand. "Du bist dick", wirft sie ihm an den Kopf und Carlos erwidert gallig "Vielen Dank". Natürlich ist er für das Laienauge nicht mal ein bisschen dick, aber für den Röntgenblick der Tanzpädagogin schon. Es gelingt ihr, ihm ins Gewissen zu reden und irgendwie bringt sie ihn zurück in die Spur.
Hier ist ein Einschub vonnöten, der mich selbst ein wenig irritiert: In Acostas Vita heißt es, er habe von 1993 bis 1998 ein Engagement als "Principal Dancer" am Ballett von Houston, Texas, gehabt. Dieses (zeitlich nicht ganz unwichtige) Gastspiel kommt in meiner Erinnerung im Film überhaupt nicht vor. Es ist ohne weiteres denkbar, dass in Donald Trumps "America" ein Drehen an Originalschauplätzen gar nicht möglich gewesen wäre und dass der fünfjährige Lebensabschnitt deswegen entfiel. Aber in dieser Rigorosität?
Im Film setzt er in London seine Karriere fort – als Star des English National Ballet, wo er wenig später Ballettgeschichte schreibt, als er der erste schwarze "Romeo" wird. Das muss ihn ganz besonders befriedigt haben, denn diesbezüglich weist Paul Katzenberger darauf hin, wie sehr Andrés Williams, der kubanischstämmige und ebenfalls farbige Ballerin von Weltklasse in den 70er Jahren (also eine Generation vor Yuli), noch darunter litt, bei den klassischen Rollen auf Othello, Shakespeares "Mohr von Venedig", reduziert gewesen zu sein. Acosta schreibt darüber in seiner Autobiografie.
Er bleibt – respektiert von der Kritik und geliebt vom Publikum – England treu und lange Tourneen sowie Gastengagements lassen ihn im Laufe der Jahre fast alle bedeutenden Bühnen der Welt kennen lernen. Er beendet seine aktive Laufbahn als Tänzer 2016 mit fünf restlos ausverkauften Abschiedsshows in Londons Royal Albert Hall (5.000 Sitzplätze), gründet mit Acosta Danza seine eigene Kompanie und wird deren Choreograph. Last, aber weit entfernt von least, zieht er mit seiner Familie zurück nach Kuba.
Als kaum zwei Jahre später die spanische Regisseurin Iciár Bollaín und ihr Ehemann, der britische Drehbuchautor Paul Laverty, an ihn herantreten und ihn um seine Mitwirkung beim Filmprojekt "Yuli" bitten, ist er zunächst verunsichert. "Ich hatte von Anfang an Vertrauen zu Paul und Iciár, aber ich bin 45 Jahre alt und kann nicht mehr drei Meter hoch springen. Und so habe ich mich gefragt: Was erwartet man von mir in diesem Film?" (Quelle des Zitats: der Freitag)
Ich habe in einer Rezension den Satz gelesen: "Acosta spielt Acosta". Dies trifft jedoch meines Erachtens an praktisch keiner Stelle in "Yuli" zu. Entweder Acosta ist Acosta, etwa wenn man ihn bei seiner choreographischen Tätigkeit zeigt, oder aber Acosta spielt jemand anderen. Eine mehrfach wiederkehrende Szene, bei der dies in eindrucksvoller Weise geschieht, ist die, als eine Schlüsselstelle jener Tanzperformance über sein eigenes Leben die traumatische Erfahrung wieder zurückholt, von seinem Vater Pedro um ein Haar getötet worden zu sein. Carlos stellt hier seinen gnadenlos prügelnden Vater dar und Mario Sergio Elías, ein weiteres Mitglied seines Ensembles Acosta Danza, spielt sein angstgeschütteltes "alter ego" während der häuslichen Züchtigung. Natürlich treffen die Riemenschläge nicht den Körper, aber sie schlagen mit solcher Urgewalt auf das Bühnenholz dicht neben ihm ein, dass die noch ausstehende Bewältigung dieses 40 Jahre zurückliegenden Erlebnisses greifbar wird.
Der eben schon erwähnte Paul Katzenberger interpretiert diese Darbietung psychoanalytisch, sieht er doch Acosta als Choreograph "in einer Machtposition gegenüber dem Tänzer, die der eines Vaters gegenüber seinem Sohn vergleichbar ist".
In einem jener vielen Interviews, die er seither gegeben hat, wurde er gefragt, ob er seinem Vater verziehen habe. Acosta antwortete (und man sieht vor dem geistigen Auge, wie er den Kopf schüttelt), er habe ihm nichts zu verzeihen. Schließlich verdanke er ihm alles. Seine vor etwa zehn Jahren erschienene Autobiografie "No Way Home" hat er seinem Vater gewidmet. Der reale Pedro Acosta starb 2012, also wenige Jahre, bevor sein Yuli zurück nach Kuba kam. Vielleicht besser, dass ihm das erspart geblieben ist …
Ein kleines Postskriptum: Die Jury des Instituts für Film und Medienbewertung spricht in ihrer Begründung für die Vergabe des Prädikats "besonders wertvoll" an den Film "Yuli" von einem "zunächst noch sozialistischen, dann auch postsozialistischen Kuba". Wäre das FBW, das ein "postsozialistisches" Kuba verortet haben will, wohl so freundlich, mir dazu die Längen- und Breitengradkoordinaten mitzuteilen, damit ich es auf der Weltkarte finde? Ein solches Kuba ist mir nämlich völlig unbekannt.
Ulli Fausten
CUBA LIBRE 4-2019