Wir sind Zeugen eines intensiven demokratischen Prozesses

Interview mit Abel Prieto

Abel Prieto war lange Jahre der Minister für Kultur der Republik Kuba und ein enger Berater von Fidel Castro. Heute berät er den Präsidenten Miguel Díaz-Canel in Kulturfragen. CUBA LIBRE hatte die Gelegenheit, am Rande der Rosa-Luxemburg-Konferenz der Jungen Welt am 12. Januar 2019 ein Interview mit Abel Prieto durchzuführen.


Cuba Libre: Compañero Prieto, wie bewerten Sie die derzeitige Diskussion in Kuba über die Verfassungsreform?

Abel Prieto: Die neue Konstitution gibt dem Kampf gegen jegliche Form der Diskriminierung Verfassungsrang. Sei es wegen der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung, der nationalen Herkunft oder sei es wegen jedweder anderer Ausrichtung, die die Menschenwürde verletzt. In der Art Gesellschaft, die wir aufzubauen uns vorgenommen haben, ist keine Form der Diskriminierung hinnehmbar.

Ein anderer Aspekt hat mit der Autonomie der Verwaltungsbezirke zu tun. Die Bezirke streben eine größere Autonomie an, während die Provinzparlamente als bisheriges Bindeglied im politischen System verschwinden. Den Bezirken wird dabei eine größere Eigenständigkeit als zuvor zugesprochen, die sich auch auf die ökonomische Entscheidungsgewalt erstreckt.

Ein weiteres Thema ist die gleichgeschlechtliche Ehe, die im ursprünglichen, von einer Kommission um Raúl Castro vorgelegten Verfassungsentwurf vorgesehen war und teilweise auf Unverständnis, vor allem bei religiösen Teilen der Gesellschaft, aber auch auf sexistische Vorurteile gestoßen war. Ich halte die neueste dem Nationalparlament vorgelegte Formulierung für klug, geradezu für weise, denn sie verlagert das Thema in den Bereich des Familienrechts, welches zu einem späteren Zeitpunkt in einem weiteren Referendum zur Abstimmung gestellt werden wird.

Wir vermischen auf diese Weise diese wichtige Debatte nicht mit dem Verfassungsreferendum und gewinnen so Zeit, Aufklärungsarbeit zu leisten und die Debatte zu verbreitern und zu vertiefen. Nichtsdestotrotz erkennt die neue Verfassung die Legitimität von defacto-Lebensgemeinschaften an und verwendet den wesentlich fortschrittlicheren Begriff der "Familien" – also den Plural. Damit brechen wir aus dem eng gefassten, auf die jüdisch-christliche Tradition zurückgehenden Familienmodell aus und verwenden ein erheblich weitreichenderes Konzept, das auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften einschließt und somit unter dem Oberbegriff „Familien“ eine große Diversität erlaubt.

Cuba Libre: Welche weiteren Neuigkeiten bringt die neue Verfassung?

Abel Prieto: Auf dem Gebiet der Justiz und der Rechte der Angeklagten ist die neue Verfassung sehr akribisch ausgearbeitet und stärkt die Rolle des Anwalts von Prozessbeginn an. Dabei wird eine Gruppe zweifellos wichtiger Rechte in den Verfassungsrang angehoben.

Ein weiteres Kapitel behandelt die außenpolitischen Beziehungen und beschreibt die Prinzipien der Kubanischen Revolution auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen. Dieses Kapitel unterstreicht unsere Vorstellung von Souveränität, die Verteidigung des Multilateralismus sowie des Prinzips, dass wir niemals unter Druck verhandeln werden, und auch unsere Anstrengung für eine lateinamerikanische Zusammenarbeit, trotz der aktuellen Entwicklung in unserer Region.

Die Verfaßung beinhaltet die Bekräftigung des sozialistischen Charakters des kubanischen Staates und der Vergesellschaftung der wesentlichen Produktionsmittel. Die Rolle der nicht-staatlichen Produktions- und Dienstleistungsbereiche wird anerkannt und die notwendigen Voraussetzungen für internationale Investitionen sind ebenfalls in diesem Teil der Verfassung aufgeführt.

In der ursprünglichen Fassung sollten die Provinz-Regierungschefs übrigens noch vom Präsidenten der Republik ernannt werden. Aber weil die Forderung nach mehr regionaler Autonomie laut wurde, werden die Regierungschefs künftig von den Delegierten der Region gewählt, welche vorher durch eine geheime Wahl in ihren Stadtteilen in ihr Amt gelangt sind. Das verstärkt nochmal den eben bereits erwähnten Prozess, der Bezirksebene mehr Autonomie zu geben.

Ich glaube, wir sind Zeugen eines intensiven, transparenten und einsichtigen demokratischen Prozesses geworden, in dem sich der reale und nicht nur formale demokratische Willen der Kubanischen Revolution ausdrückt.

Cuba Libre: Ein Dekret hat Berühmtheit erlangt: Das Dekret Nr. 349, welches außerhalb Kubas häufig als Einschränkung der künstlerischen Freiheit interpretiert wird. Wie stehen Sie als Kubaner dazu?

Abel Prieto: Ich bin nicht nur Kubaner, sondern war sogar persönlich in die Ausarbeitung des Dekrets involviert. Zuerst muss man klarstellen, dass die grundlegenden Aussagen des Dekrets 349 auf das Jahr 1997 zurückgehen, in dem das Gesetz Nr. 226 verabschiedet wurde. Als solches hatte es nichts mit dem kreativen Bereich an sich zu tun, sondern mit dem öffentlichen Raum und wie dieser kulturell bespielt wird. Es gab damals in zunehmenden Maße Filmvorführungen und Shows, die im besten Fall mittelmäßig, kommerziell ausgerichtet und häufig vulgärer Natur waren.

Die Schriftsteller- und Künstlervereinigung Kubas (UNEAC), in der sich die fähigsten Künstler des Landes zusammengeschlossen haben, sowie die Asociación de Hermanos Saíz, ein Zusammenschluss aufstrebender junger Künstlerinnen und Künstler, forderten, dass diese Entwicklung gebremst werden müsse. Gemeint sind die Grenzüberschreitungen nicht-professioneller Künstler, die teilweise illegal engagiert werden und die mit obszönen, vulgären Mitteln versuchen, Aufmerksamkeit zu erzeugen und sich dabei auf die Freiheit der Kunst und der freien Meinungsäußerung berufen.

Abel Prieto spricht auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Abel Prieto spricht auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Foto: Tom Brenner


Cuba Libre: Trotzdem hat das Dekret 349 international viel Widerspruch geerntet...

Abel Prieto: Die meisten Leute, die das Dekret kritisieren, haben es vermutlich nicht einmal gelesen. Das Kulturministerium muss nun die ergänzenden Bestimmungen des Dekrets ausarbeiten, die seine Anwendung konkretisieren. Diese ergänzenden Bestimmungen werden im ganzen Land mit allen Künstlern diskutiert und daraufhin erweitert. Es geht darum, echte Kunst und Kreativität zu fördern und ihren Raum gegen kommerzielle Produkte niedrigster Qualität zu verteidigen. Es wird oft behauptet, es gehe darum, den kreativen Prozess zu beeinflussen. Darum geht es nicht. Das Dekret greift nicht in kreative Prozesse ein, sondern regelt die Nutzung des öffentlichen Raumes – die öffentlichen Räume der staatlichen, aber auch der nicht-staatlichen Institutionen. Es stärkt die Rolle der Kulturinstitutionen und macht unsere Kulturpolitik in sich schlüssiger.

Cuba Libre: Welchen Herausforderungen sieht sich die kubanische Kultur heute gegenüber?

Abel Prieto: Ich glaube, zunächst ist das ist eine globale Frage… Die Welt erlebt gerade eine kulturelle Krise. Sie durchlebt auch eine ethische, eine ökonomische, eine politische Krise, aber auch eine enorme kulturelle Krise.

Die Bourgeoisie brachte in der Renaissance und später mit der Aufklärung eine humanistische Kunst von außerordentlicher Qualität und Strahlkraft hervor, die das Menschsein und das Leben des Menschen auf diesem Planeten widerspiegelte.

Später hat dieselbe Bourgeoisie diese Tradition zerstört und die Kunst zu einer bloßen Ware, zu einer flüchtigen und leeren Unterhaltung degradiert, die keine Geschichte, keine Erinnerung kennt.

Die ursprüngliche ästhetische Erfahrung wird in ihr verraten, verdreht und verfälscht. Was bleibt, ist eine flüchtige Ablenkung, die nichts anrührt, nichts hinterlässt, die den Zuschauern keine intellektuelle Herausforderung bietet. Das Publikum wird zu Konsumenten degradiert, die passiv ein Produkt konsumieren. Wirkliche Kunst wirkt aktivierend und verwandelt das Publikum in Teilnehmende, in Koproduzenten des Werks.

Das ist glaube ich die größte Herausforderung für die kubanische Kultur, wie auch für die anderer Länder, die sich bemühen, eine eigenständige Kulturpolitik zu entwickeln.

Eine andere Herausforderung besteht in den Rückschritten in der Lesefreude und im Interesse am künstlerischen Kino oder Musik von hoher Qualität. Der ins Land dringende kommerzielle Kulturschrott macht uns in dieser Hinsicht schwer zu schaffen.

Cuba Libre: Wie kann die kubanische Kulturpolitik diese Rückschritte in den Ansprüchen an Kultur bremsen und wieder den Wunsch nach Qualität wecken?

Abel Prieto: Die Antwort liegt in gewisser Weise darin, die Kräfte der Künstlerinnen und Künstler, der Kulturpädagogen, der Medien, der öffentlichen und Schulbibliotheken, der Institutionen auf lokaler und nationaler Ebene zusammenzuschließen und ein Klima der Kultur und der Kunst zu schaffen. Denn in der Kultur bestehen Hierarchien. Das festzustellen ist kein Elitismus. Ein Reggeton-Sänger der fünften Kategorie ist etwas anderes als Mozart, als Bola de Nieve oder als Benny Moré. Es ist möglich, dass heutzutage manch junger Kubaner nicht weiß, wer Mozart war oder Bola de Nieve. Das zeigt eine Schwachstelle unserer Bildungspraxis auf. Aber wenn alle Kulturschaffenden und -vermittler zusammenarbeiten, um das Niveau der Kunst zu heben, die existierenden Stufen von Kunst zu vermitteln und einen kritischen Zuschauer zu schaffen, kann es uns gelingen, uns gegen die auf uns zuschwappenden Wellen von Unsinn zu behaupten.

Das Interview führte Tobias Kriele.
Dank für die Übersetzung an Anne Wanniger.




CUBA LIBRE Elias, Proyecto Tamara Bunke

CUBA LIBRE 2-2019