Gespräch mit Walter Suter, ehemaliger Schweizer Botschafter in Caracas, über die Bedeutung der bolivarischen Revolution für Venezuela.
Natalie Benelli: Du bist einer der wenigen ehemaligen westlichen Diplomaten, die sich öffentlich für die bolivarische Revolution einsetzen. Worauf beruht deine Haltung?
Walter Suter: Zwei Hauptaspekte der bolivarischen Revolution unter Hugo Chávez haben mich überzeugt, dass mit seinem in der Geschichte Lateinamerikas neuartigen Versuch dem Jahrhunderte alten Übel der sozialen Ungerechtigkeit und Armut erstmals konkret und erfolgversprechend zu Leibe gerückt wird. Mit dem prioritären Einsatz des Erlöses aus der Erdölproduktion zugunsten grundlegender und flächendeckender Sozialreformen (Misiones) in Gesundheitsversorgung, Bildung und Wohnraum wird bewusst die 500-jährige soziale Schuld des Staats gegenüber der benachteiligten Bevölkerungsmehrheit abgetragen. Gleichzeitig wurden mit der neuen bolivarischen Verfassung direktdemokratische, partizipative Elemente eingeführt und die Schaffung basisdemokratischer Kommunalräte, in denen sich alle interessierten BürgerInnen mit Stimme und Stimmrecht an der Durchführung öffentlicher Aufgaben beteiligen können, geschaffen. Von Anfang an galt es, die Ausgeschlossenen einzuschliessen. Dieses oberste Ziel wird heute trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation weiterverfolgt.
Natalie Benelli: Die Konzernmedien geben Misswirtschaft und Korruption die Schuld an der schwierigen Versorgungslage in Venezuela. Wo siehst du die Ursachen für die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Venezuela?
Walter Suter, ehemaliger Schweizer Botschafter in Venezuela, und Carolus Wimmer, Internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas |
Walter Suter: Angesichts der 95-prozentigen finanziellen Abhängigkeit des Staates von den Erdöleinnahmen war der Einbruch des Erdölpreises 2014/2015 um mehr als Zweidrittel innerhalb von nur 18 Monaten fatal. Die USA nutzten die Situation, um Venezuela mittels Währungsmanipulation, Schaffung von Hyperinflation und Unterstützung systematischer Sabotageakte durch private Import- und Produktionsunternehmen weiter zu destabilisieren. 2016 kamen Sanktionen in Form von Versorgungs- und Finanzblockade durch die USA mit Unterstützung von Kanada und der EU dazu. Seit 2016 blüht der von der kolumbianischen Regierung tolerierte Schmuggel subventionierter venezolanischer Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff e nach Kolumbien. Misswirtschaft und Korruption bestehen, sind aber nicht Hauptgrund für die schwierige Versorgungslage. Diese würde durch die Aufhebung der völkerrechtswidrigen Sanktionen binnen weniger Monate markant verbessert.
Natalie Benelli: Wie siehst du die Rolle der Konzernmedien in den Angriffen gegen Venezuela?
Walter Suter: Systematische Desinformation und Verbreitung von Halbwahrheiten sorgen für massive Beeinflussung der westlichen Öffentlichkeit. Diese soll dazu gebracht werden, eine geplante "humanitäre Intervention" in Venezuela und den Sturz der Regierung zu billigen.
Natalie Benelli: Welche strategischen Interessen haben die USA an einem Regimewechsel in Venezuela?
Walter Suter: Es geht hauptsächlich um zwei Interessen. Erstens soll verhindert werden, dass das erfolgreiche fortschrittliche Modell einer partizipativen, sozial gerechteren Volksgemeinschaft als Alternative zur neoliberalen Ordnung im "Hinterhof" der USA (Monroe-Doktrin seit 1823) Schule macht. Zweitens geht es um die Kontrolle und Ausbeutung der weltweit grössten Erdölvorräte und wertvoller Bodenschätze durch US-Firmen.
Natalie Benelli: Wie schätzt du die Gefahr eines gewalttätigen Sturzes der Regierung ein?
Walter Suter: Nach dem schwerwiegenden Attentatsversuch gegen Präsident Maduro am 4. August gehe ich davon aus, dass die USA weitere gewalttätige Aktionen bis hin zu einer militärischen Intervention planen. Dies entspricht dem offiziellen Drehbuch des zuständigen Kommandanten der US-Streitkräfte vom Februar 2018.
Natalie Benelli: Die Schweiz hat sich Ende März den von den USA und der EU verhängten Sanktionen gegen Venezuela angeschlossen. Für ein "neutrales" Land ein eher ungewöhnlicher Schritt.... ?
Walter Suter: Allerdings. Ein Schritt, der auch der Glaubwürdigkeit der Schweiz als zuverlässiger internationaler Partner schadet. Die Sanktionen widersprechen der traditionellen Aussen- und Neutralitätspolitik der Schweiz, die auf dem Vorrang des Völkerrechts und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten souveräner Staaten beruht. Mit den Sanktionen hat die Schweizer Regierung einen Schritt weg von einer rationalen hin zu einer ideologischen Aussenpolitik gemacht.
Natalie Benelli: Du bist aktives Mitglied der Organisation ALBA Suiza. Wie siehst du die Rolle der internationalen Solidaritätsbewegung mit Venezuela und den ALBA Ländern?
Walter Suter: Wir müssen einer breiteren Öffentlichkeit die Wahrheit über die Lage in Venezuela und den ALBA-Staaten vermitteln und der systematischen Desinformation durch die Konzernmedien entgegentreten. ALBA Suiza tut dies mit öffentlichen Aufrufen, Kundgebungen, Protestschreiben, Interviews und Artikeln in verschiedenen Medien sowie in Informationsveranstaltungen mit Beteiligung betroffener VenezolanerInnen. Auf politischer Ebene ist die Unterstützung durch die solidarische Parlamentariergruppe SUISSE-ALBA wichtig.
Natalie Benelli: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Natalie Benelli
CUBA LIBRE 4-2018