Zule Guerra
Foto: http://zuleguerra.com/dev/biografia/
Ich weiß, ich habe von dieser etwas seltsamen Open Air Location für Konzerte (Ecke 21. und Presidentes) schon einmal berichtet, aber das könnte ich im Grunde alle zwei Monate tun; dass man dort jede zweite Vorstellung reflektierenswert finden könnte, ist ein realistischer Schnitt. Manchmal denke ich, weshalb ich eigentlich an fast jedem ersten Freitag im Monat hingehe, dass ist der Cocktailverkäufer in CUP. Nicht, weil es so billig für uns ist. Aber wenn meine Frau und ich je einen Cuba Libre im Plastikbecher bestellen, so kostet uns das zusammen 30 in Moneda Nacional (mehr trinken wir an einem Abend nicht mehr). Und wenn ich dann mit zwei 20ern bezahle und den alten Knaben das Wechselgeld behalten lasse, strahlt er mich an, als hätte ich ihm den Tag gerettet.
Die seit rund vier Jahren bestehende Band "Real Project" wurde 2017 mit dem Premio Cubadisco (in der Kategorie Jazz-Ensembles) dekoriert. Es handelt sich um ein Quartett, das mit Ruly Herrera einen Schlagzeuger zum Boss hat, was nicht eben alltäglich ist. Co-Direktor ist der Keyboarder Jorge Luis Lagarza. Dass diesen beiden eine Führungsposition zufällt, ergibt ich beinahe zwangsläufig daraus, dass sie die Kreativen sind. Zwar sagt Ruly, dass kein Stück erarbeitet und ins Repertoire aufgenommen wird, das nicht zuvor auch den Beifall von Roberto Luis Gómez (Gitarre) und Ernesto Hermida (Bass) gefunden hätte, aber wer die Gruppe auf der Bühne erlebt, kann gar nicht umhin zu merken, wer das Sagen hat.
Eine, mit der Ruly Herrera schon verschiedentlich zusammengearbeitet hat, ist Zule Guerra. Aber während die schöne Zule, – auch sie schon Gast im "hueco" – wenn sie ihr multitalentiertes Organ auf Betriebstemperatur bringt, keinerlei Zweifel offen lässt, welches Genre sie da singt, ist dies bei unserem Schlagzeugvirtuosen und seiner Combo keineswegs eindeutig. Die Protagonisten gehören dem "Jojazz cubano" an ("Jo" steht für "joven", jung). Aber so unterscheiden die "Jojazzer" sich auch nicht von den älteren kubanischen Vertretern dieser Gattung und bei einem Auftritt etwa von Yasek Manzano, Rolando Luna, Dayramir Rodríguez oder Alejandro Falcón käme gewiss niemand in Publikum auf die Idee zu fragen: Was für Musik spielen die da bloß?
Wer dagegen – sagen wir, verspätet – an einem Zeitpunkt X zum ersten Mal zu einem Konzert von "Real Project" stößt, kann in dieser Hinsicht ganz schön auf dem Schlauch stehen. Und das liegt nicht nur an dem anachronistisch bis skurril wirkenden Einsatz einer "Talk Box" durch den zeitweilig auch seine Stimme zum Einsatz bringenden Keyboarder. Peter Framptons Popsong "Do You Feel Like We Do?" lässt grüßen. Wann war das noch? 1975?
Eine andere Kollegin, zu der Ruly Herrera Kontakte pflegt, ist Luna Manzanares, die Sängerin, die neben Annie Garcés und Eduardo Sosa den Liedermacher Raúl Torres bei seinem berühmt gewordenen "Cabalgando con Fidel" begleitet, jenem Titel, der nur wenige Tage nach dem Tod des Comandante en Jefe eingespielt wurde. Ich sah sie kürzlich erst im Fernsehen: mehrere Stücke hintereinander und keines davon Jazz auch nur mit dem Fernrohr. Dennoch stecken Kubas Musikkritiker Luna hartnäckig in diese Schublade. Der Begriff scheint auf der Insel einfach viel weiter gefasst.
Ruly äußerte sich während eines Interviews im vergangenen Jahr, er habe den Ehrgeiz, die Band vom Sound und vom Stil her unverwechselbar im eigenen Land, wenn nicht in der Welt zu machen. Das könnte ihm glatt gelingen, wenn auch um den Preis erschwerter Zuordnung. Aber, so möchte man fragen: Ist die überhaupt wichtig, wenn das Produkt, mystifizierend, wie es sein mag, unter dem Strich ausgezeichnet ist?
Real Project
Foto: Ruly Herrera en Facebook.
Was "Real Project" macht, ist – meinetwegen – überwiegend Jazz, aber dass sich in den Klang noch andere Lieben hineindrängen, ist offenkundig. Ruly Herrera hatte seine erste Publikumsberührung als Protegé von Políto Ibáñez, der seinerseits im Grenzbereich zwischen Nueva Trova und Pop rochiert. Políto verschaffte Ruly seinen ersten Gig als Drummer, als dieser gerade mal 15 war. Später war ein weiterer Ziehvater Santiago Feliú, er eindeutiger Trovador, der für seine Tourneen (kubanische Größenordnung, nicht Phil Collins) jemanden brauchte, der, bei bestimmten Songs Akzente setzend, ein nun nicht gerade trovatypisches Instrument wie das Schlagzeug spielte. "Santy" starb Anfang 2014 und sein Tod kommt Ruly Herrera heute noch unwirklich vor.
So eine Art Vorbild an den Schlagstöcken ist für ihn Altmeister Rui López-Nussa, einer der jazzverrückten López-Nussas, der Familie, die zwei namhafte Pianisten und zwei begnadete Trommler hervorgebracht hat (und das sind nur die, an die ich mich im Augenblick freihändig erinnere; gut möglich, dass es noch mehr davon gibt).
Interessant die Anordnung auf der Bühne: hinten (in der Aufsicht von rechts nach links) das Schlagzeug, der Bass und – im 90°-Winkel – die Tasteninstrumente. Zwei Meter weiter vorn die E-Gitarre, scheinbar losgelöst von allem und eigentlich die klassische Rampensau-Position, nur sitzt in diesem Fall die Rampensau, falls die Band denn überhaupt eine hat, hinter den Drums. Hier könnte natürlich jemand einwenden, dieses "Bühnenbild" sei vielleicht nur den spezifischen räumlichen Gegebenheiten des "hueco" geschuldet gewesen, aber mein Bauchgefühl spricht dagegen. Wie die sitzen bzw. stehen, das ist schon durchdacht! Dazu muss man wissen, dass in dieser Truppe unheimlich viel über wortlose Kommunikation läuft. Kurzfristige "Absprachen" werden über gestische und mimische Signale transportiert. Hierbei fällt Ernesto Hermida, dem Bassisten, eine wichtige Rolle zu. Da er in der Mitte zwischen seinen beiden kreativen Chefs steht, ist er sozusagen die Relaisstation für sie. Wenn beispielsweise Ruly will, dass sein Keyboarder Jorge Luis an einer bestimmten Stelle – und vielleicht außerhalb der Routine – einen Einsatz haben soll, so weiß der Mann am Bass es Sekundenbruchteile früher als dieser. In einer Formation, die durchaus Raum für Spontaneität lässt, ("Wir haben dieses Stück noch nie öffentlich gespielt und ich bin selber recht gespannt, was das jetzt wird") können solche eingespielten Automatismen lebenswichtig sein. Was mir freilich nicht klar geworden ist: Wie hält es diese wie aus einem Guss bestehende Trias mit ihrem vierten Mann, dem Gitarristen? Roberto macht da vorn sein Ding und weist ihnen den Hintern, ohne sich je umzudrehen. Wie kommunizieren die anderen wohl mit ihm, wenn der Moment es erfordert? Subkutan? Telekinetisch?
Die Stücke sind Bögen, die sich öffnen und schließen. Wer anfängt, ist auch für das Ende zuständig. Nehmen wir an, der Tastenspieler beginnt mit einem Thema. Nach und nach kommen die anderen Instrumente dazu; im Kernbereich sorgen alle für Fülle. Dann wird die Nummer allmählich weniger, weil weniger beteiligt sind, dünnt zusehends aus, bis nur noch Jorge Luis übrig ist und der beschließt dann mit dem Thema, mit dem er schon begonnen hatte.
Manche Nummer wird auch mit dem Schlagzeug eröffnet. An Schnelligkeit und Lautstärke anschwellend, an Komplexität zunehmend. Dann gesellt sich der Bass hinzu (auch dieser noch eher ein Rhythmus- als ein Melodie-Instrument). Wenn schließlich Keyboard und Gitarre dabei sind, formt sich der Body des Stückes, der mit fortschreitender Dauer wieder abnimmt; einer nach dem andern klinkt sich aus, bis man nur noch Ruly Herrera hört, der beim Solo von vor einigen Minuten landet, Komplexität abbauend, Tempo und Volumen reduzierend, bis alle Schläge aufgebraucht sind.
Danach beugt er sich leicht, den Kopf ein wenig schräg, nach vorn in Richtung Publikum, die Mundwinkel umspielt ein jungenhaftes, fast schelmisches Lächeln, als würde er ohne Worte fragen "Na, wie war ich?"… und dann darf der Beifall kommen.
Ich war – auch wenn das ein begriffliches Unding ist – ziemlich begeistert. Mir hat nicht alles gefallen. Aber das, was mir gefiel, war so erfrischend unverbraucht und spannend, dass es höchstes Lob verdient. Ich kann "Real Project" jedem, der Spaß am Unerwarteten auf hohem technischem Niveau hat, nur wärmstens empfehlen. Ich freue mich selber schon auf ihren nächsten Auftritt.
Ulrich Fausten
CUBA LIBRE 3-2018