Interview der argentinischen Tageszeitung "Página 12" mit dem kubanischen Blogger und Journalisten Iroel Sánchez
Frage: Wie nimmt man in Kuba die aktuellen Veränderungen in der Regierung auf, die Miguel Díaz Canel zum Präsidenten gemacht haben?
Iroel Sánchez: Ich denke, sie werden als Bestreben verstanden, der Revolution Kontinuität zu verleihen. Möglicherweise ist es anders, als es die Medien außerhalb Kubas beobachtet haben wollen, die mit der Erwartung von Schaulustigen das Geschehen herangehen. Seht her, das Land ohne die Castros! Aber in Kuba wird alles als normal wahrgenommen, natürlich auch mit einer Erwartungshaltung. Für meine Generation ist es etwas spezielles, denn Diaz Canel ist einer von uns.
Frage: Würden Sie zustimmen, dass er die Brücke zwischen der alten und der neuen Generation der Revolution darstellt?
Iroel Sánchez: Seine Aufgabe ist es, das Land in den nächsten zehn Jahren zu regieren, vielleicht sogar ein bisschen länger, da er, wie Raúl erklärt hat, ein Parteimandat zu Ende zu bringen hat. Wenn er diese Aufgabe beendet, wird er so um die 70 sein, ein Mann in der Mitte seines Lebens, mit intellektueller Vitalität, kein Greis. In Kuba macht die Altersgruppe der über 60-Jährigen ein Fünftel der Bevölkerung aus. Von daher stellt Díaz-Canel eine Brücke zwischen den Generationen dar, weil er zwischen den über 60-Jährigen und den etwas über 40-Jährigen steht. Aber wichtiger als das Alter an sich ist die Fähigkeit, mit den einen ebenso in den Dialog zu kommen wie mit den anderen, die Eigenschaft, die Probleme dieser Generationen zu verstehen und sich mit ihnen auszutauschen.
Frage: Was sind die vorrangigen internen Probleme, denen der neue Präsident größere Beachtung schenken sollte?
Iroel Sánchez: Er hat sich dazu in seiner Rede geäußert: Ich verspreche nichts, wie es auch die Revolution nicht tut. Man soll der Bevölkerung nie Versprechungen machen. Díaz-Canel hat später gesagt: Ich habe diese Aufgabe angenommen, um ein Programm zu verwirklichen, welches wir uns selbst auferlegt haben und von dem noch eine Menge umzusetzen ist. Das bezieht sich auf die internen Probleme, wo es auch um Fragen geht, die mit einer großen Erwartungshaltung verbunden sind: Die Vereinheitlichung der Währung, beispielsweise. Das erstrangige Problem ist unsere Wirtschaft. Auf internationaler Ebene treffen uns am härtesten die Blockade und die Aggressionen gegen Venezuela als unseren vorrangigen und am stärksten verbundenen Bündnispartner. Seit der Regierung von Barak Obama leidet Venezuela unter einem brutalen Wirtschaftskrieg, der mit der Absicht geführt wird, zunächst Venezuela selbst, in zweiter Linie aber auch uns zu treffen. Die Trump-Regierung ist auf unvorhersehbare Weise irre, nicht nur, was Kuba angeht, sondern hinsichtlich der Instabilität, die den gesamten Planeten betrifft. Man weiß am Morgen nicht, gegen wen sich die Attacken im Laufe des Nachmittags richten werden.
Frage: Sind sie in Fragen der kriegerischen Auseinandersetzung mit den USA der verschiedenen Intensitätsgrade nicht mittlerweile abgehärtet?
Iroel Sánchez: Ich würde das zu den inneren und äußeren Herausforderungen an den neuen Präsidenten zählen. In dieser hochkomplizierten internationalen Lage wird Díaz-Canel versuchen, unsere Entwicklungsziele zu sichern und dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung nicht noch stärker betroffen sein wird, als sie es jetzt schon ist.
Frage: Es gibt noch eine andere Komponente auf regionaler Ebene, die hier einfließt. Mit der Absetzung von Lula, Rafael Correa und Cristina Kirchner hat Kuba wichtige Verbündete verloren. Heute gibt es eine Welle von Rechtsregierungen, die die politischen Koordinaten des Kontinents verändern und Verbündete der USA sind. Welchen Einfluss hat das?
Iroel Sánchez: Die bolivarische Regierung von Venezuela hat alle Angriffe abwehren können, und ich bin guter Hoffnung, dass sie die Maiwahlen gut überstehen wird. Es stimmt, dass es im Vergleich zu von vor drei, vier Jahren Rückschritte gegeben hat. Aber im Vergleich zum Jahr 1999, als Chávez an die Macht kam, haben wir wiederum Fortschritte gemacht. Kuba hat durch das Amtsende der fortschrittlichen Regierungen in Lateinamerika Verbündete verloren, aber zugleich besteht in der Region ein Konsens, sogar unter den Rechtsregierungen in Kolumbien, Mexiko und sogar in Argentinien, dass man Konflikte mit Kuba vermeiden möchte. Diese Regierungen müssten einen hohen Preis für einen Konflikt mit Kuba zahlen, deshalb versuchen sie, ihn zu vermeiden.
Frage: Kuba ist das einzige Land in der Region, welches Beziehungen selbst zu den ärmsten Ländern der Welt unterhält, egal, wie klein sie auch sein mögen, und es unterhält Botschaften in Ländern, wo sie sonst niemand hat. Was hat diese Politik Kuba bis heute eingebracht?
Iroel Sánchez: Kubas Außenpolitik überragt seine demografische Basis weit, sein begrenztes Staatsgebiet mit nur elf Millionen Einwohnern, seine schwache Wirtschaft. Sie ist ein Grund dafür, dass Kuba sich hat halten können. Es ist nicht die typische Außenpolitik eines kleinen Landes. Vor allem aber hat Kuba die schwächsten Länder immer mit demselben Respekt behandelt wie die Großmächte, und das hat uns viel Autorität verliehen. Kuba empfängt einen afrikanischen Staatschef oder den Präsidenten der Westsahara, welche um die Anerkennung als Demokratische Arabische Republik Sahara kämpft, auf dieselbe Weise wie den US-Präsidenten. Darüber hinaus verfolgt Kuba eine prinzipienfeste Politik. Wir machen in der Außenpolitik keine Zugeständnisse, um gewisse Vorteile zu erlangen. Wir tauschen unsere Stimme nicht für eine Begünstigung ein. Das verleiht uns Autorität, und wenn Kuba in einem internationalen Forum spricht, dann spricht es mit der Stimme derjenigen, die keine eigene Stimme haben.
Das Gespräch führte Gustavo Veiga,
(Veröffentlicht am 8. Mai 2018 auf dem Blog https://lapupilainsomne.wordpress.com/)
Übersetzung: Tobias Kriele
CUBA LIBRE 3-2018