Auf den Internet-Seiten des evangelischen Entwicklungsdienstes "Brot für die Welt" erfährt man Erschreckendes über die Situation von Menschen mit Behinderung auf Kuba: "In den Ostprovinzen des Landes herrschen Armut und Perspektivlosigkeit. Besonders betroffen sind Menschen mit Behinderungen." Gut, dass es die Diakonie gibt, meint zumindest die Evangelische Diakonie selbst: "Mit der Unterstützung von Freiwilligen hilft der kubanische Kirchenrat ihnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen."
Eine dieser Freiwilligen kommt aus Palma Soriano, erfahren wir, und heißt Yanet Peralta Cobas. In der evangelischen Gemeinde ist sie die Lehrerin von Rosi, ein Mädchen mit der Muskelerkrankung Polymyositis,das nur wenige Schritte laufen kann und auf den Rollstuhl angewiesen ist. Yanet hat sich für ihre Schülerin eingesetzt: "Weil der Schulweg für Rosi zu beschwerlich ist, ist Yanet bei den Behörden Klinken putzen gegangen. Ihr Einsatz hat sich gelohnt: Die Achtjährige hat jetzt eine Hauslehrerin. Rosi ist eine ausgezeichnete Schülerin. Bis auf Sport hat sie überall eine Eins." Brot für die Welt jubelt: "Die kubanische Gesellschaft öffnet sich für Inklusion", meint damit aber eigentlich die "gemeindebasierte Rehabilitation", sprich: einen evangelischen Handarbeitskurs, der mit Spendengeldern durchgeführt wird. Bizarr: Während in der Kirche noch gehäkelt wird, stellt der sozialistische Staat Rosi eine Hauslehrerin, eine individuelle Lehrkraft zur Seite.
Behinderung auf Kuba
Die UNESCO schätzt, dass 600 Millionen Menschen auf der Welt mit Behinderungen leben, davon allein 16 Millionen in Lateinamerika und der Karibik. Von den Letztgenannten erhalten nur 3 Prozent in irgendeiner Form staatliche Hilfe.
In Kuba dagegen lebten im Jahr 2014 ungefähr 367.000 der 11 Millionen Bewohner mit einer Behinderung. Über 39 Prozent haben eine geistige Behinderung, 25 Prozent eine motorische Behinderung, 12,7 Prozent sind seh-, 6 Prozent hörbehindert und 10 Prozent leiden an psychischen Behinderungen. Etwa 7 Prozent der Betroffenen sind in mehrfacher Hinsicht von Behinderungen betroffen. Man geht davon aus, dass 100 Prozent der in Kuba lebenden Behinderten zumindest in ihren Grundbedürfnissen staatlicherseits unterstützt werden.
50.000 Kubanerinnen und Kubaner mit Behinderungen sind Mitglied in nicht-staatlichen Organisationen, die die Interessen von Behinderten vertreten.
"Inklusion" auf Kubanisch
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Im Artikel 51 der kubanischen Verfassung ist das allgemeine Recht auf Bildung festgehalten. "Inklusion" meint in Kuba folglich den allgemeinen, kosten- und barrierefreien Zugang zu Bildung für alle, egal welchen Alters, Geschlechts, Hautfarbe oder Grad von Behinderung. Diese Zielsetzung geht auf die Frühphase der Kubanischen Revolution von 1959 zurück; Eigentlich sogar auf José Martí, den kubanischen Nationaldenker, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts forderte, das Bildungssystem müsse alle Kinder erreichen, es müsse allen alles beigebracht werden, ohne Ausnahme. "Inklusion" in diesem Sinne ist demnach ein Ausdruck des Anspruchs, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Die Stellung von Menschen mit Behinderungen ist innerhalb dieser Herausforderung ein besonderer Fall. Inklusion meint also im kubanischen Verständnis nicht unbedingt die gemeinsame Unterrichtssituation von Kindern mit und ohne Behinderungen, sondern bezieht sich auf den gleichwertigen Zugang aller Menschen zu Bildung und gesellschaftlicher Aktivität. Auch die Förderung von Landschulen in entlegenen Gebieten fällt demnach im kubanischen Verständnis in den Bereich einer inklusiven Bildungspolitik, ebenso die Bildungsangebote für Senioren. Inklusion ist auch mehr als die Würdigung der Diversität als eine Bereicherung des Lernprozesses, wie es in der Debatte um Inklusion auch formuliert wird. Inklusion in der kubanischen Interpretation ist die Verwirklichung der Bildung als ein soziales Menschenrecht.
Sonderschulen in Kuba
Die Sonderbildung hat sich in Kuba praktisch erst mit der Revolution von 1959 herausgebildet. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur acht Sonderschulen mit 134 Schülerinnen und Schülern, die von 20 Lehrerinnen und Lehrern betreut wurden. Im Verlauf des folgenden halben Jahrhundert wurden in Kuba 422 Sonderschulen geschaffen, an denen an die 14.000 Lehrer etwa 50.000 Schüler unterrichten. Die Unterstützung von Kindern mit Anzeichen von Behinderungen beginnt dabei bereits kurz nach der Geburt. Dazu existieren in ganz Kuba etwa zweihundert Diagnose- und Orientierungszentren, in denen Psychologen, Psychopädagogen, Logopäden, Pädagogen und Sozialpädagogen im Team arbeiten. In ihnen werden Auffälligkeiten früh erkannt und mit den Eltern, den Schulen und der Kommune Lösungsstrategien entwickelt. Diese beginnen somit vor der, spätestens in der Kinderkrippe, und das Ziel ist es, die Kinder so zu fördern, dass sie das reguläre Bildungssystem durchlaufen können. Dazu werden von den Behindertenorganisationen Schulungen für das Lehrpersonal angeboten, etwa in Blindenschrift oder Gebärdensprache.
Die Sonderschulen werden als ein regulärer Teil des kubanischen Bildungssystems behandelt. Besonderheiten der kubanischen Bildung wie die schwerpunktmäßige Förderung von künstlerischen und sportlichen Aktivitäten bestehen auch innerhalb der Sonderschulen. Die bedeutendste ist sicherlich die Schule "Solidaridad con Panamá" in Havanna. Übrigens: In Santiago de Cuba unterstützt die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba seit einigen Jahren das medizinisches Zentrum "Gloria Cuadras de la Cruz" durch Spenden.
Die Übergangs- und Spezialschulen für Menschen mit Behinderungen erfüllen vier Funktionen: 1. dienen sie der Prävention von Nebenwirkungen, die durch die Behinderung hervorgebracht werden können; 2. sind sie als Durchgangsstationen konzipiert, die dem Kind so schnell wie möglich einen Übergang in die Regelschule ermöglichen sollen; 3. sollen sie auch nach dem Übergang eine unterstützende Funktion ausüben; 4. sollen sie die Schülerinnen und Schüler in das gesellschaftliche Leben integrieren. In diese Konzeption passt, dass die Sonderschulen auf demselben Lehrplan aufbauen wie die reguläre Bildung. Dies gilt übrigens auch für die knapp 300 Hauslehrerinnen und -lehrer in Kuba, die den Unterricht zu ihren Schülerinnen und Schülern bringen.
Das Konzept der Sonderschule hat sich in Kuba seit den 1990er Jahren verändert. Seitdem ist man davon abgerückt, Bildung nur mit den schulischen Institutionen zu identifizieren. Im Rahmen der Kampagne "Erziehe Dein Kind!" wurden die Erziehungsberechtigten und die Kommunen für die Bedürfnisse von Vorschulkindern sensibilisiert. Dies hatte auch einen großen Effekt für die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern mit Behinderungen. Das kubanische Schulsystem blieb ein einziges, in sich durchlässiges System, aber es wurde flexibler für Alternativen und diverse Formen von Bildung. Heute sind annähernd 98 Prozent der kubanischen Kinder in dieses Bildungssystem integriert.
Ausblick
Kuba ist kein Paradies; das gilt auch für die Situation für Menschen mit Behinderungen. Die anhaltend schwache wirtschaftliche Entwicklung lässt wenig Möglichkeiten für barrierefreies Bauen oder Umbauen. Auch die Ausstattung mit Technologien, die einen Beitrag zur Abmilderung von körperlichen Behinderungen leisten könnten, ist weit von dem entfernt, was möglich wäre.
Aber das kubanische Modell ist aus drei Gründen interessant. Zum einen beeindruckt der Ansatz, über Prävention Behinderungen möglichst direkt nach dem ersten Auftreten zu behandeln. Zweitens sind Behinderte in der kubanischen Gesellschaft präsent und sichtbar, was die Solidarität aller Mitmenschen verlangt und fördert. Zum Dritten verläuft die Behindertenpolitik nicht nach Marktkriterien, was einen Zugang der gesamten Bevölkerung, unabhängig von ihrer sozio-ökonomischen Lage, zu den Behandlungen und Fördermaßnahmen möglich macht. Der Inklusionsgedanke kann so in seiner tatsächlichen Produktivität weiterentwickelt werden, ohne zu einer versteckten Sparmaßnahme zu werden, wie dies in den kapitalistischen Zentren der Fall ist, oder in evangelischen Häkelkursen zu enden.
Tobias Kriele
CUBA LIBRE 4-2017