Dutzende Menschen sind in Venezuela bislang der von militanten Oppositionsgruppen entfesselten Gewaltkampagne zum Opfer gefallen, das Land droht, in einen Bürgerkrieg abzurutschen.
In Kuba ausgebildete Mediziner am 1. Mai in Havanna
Foto: Ismael Francisco / Cubadebate
Anfang April rief die rechte Opposition zu Demonstrationen auf, die sich zunächst an einer – kurz darauf korrigierten – Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (TSJ) entzündeten. Seither wechseln die Begründungen für die Demonstrationen, doch das Szenarium wiederholte sich: Die Regierungsgegner sammelten sich in den von ihnen dominierten Vierteln im Osten der Hauptstadt Caracas und kündigten an, zu bestimmten Behörden demonstrieren zu wollen. Diese lagen jedoch immer im Regierungsviertel und damit in unmittelbarer Nähe des Präsidentenpalastes Miraflores und anderer zentraler Einrichtungen. Die Behörden des Innenstadtbezirks Libertador verweigerten deshalb die Genehmigung, und Polizeiketten versperrten den Demonstranten den Weg. In diesem Moment schlug die Stunde der Militanten: Vermummte Jugendliche versuchten, gewaltsam die Absperrungen der Beamten zu durchbrechen. Diese reagierten mit Tränengas und Wasserwerfern. Scharfe Waffen gegen die Demonstranten einzusetzen, ist den Sicherheitskräften gesetzlich verboten – und Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hat den eingesetzten Kräften sogar verboten, ihre Dienstwaffen auch nur mitzuführen.
Die Sprecher des "offiziellen" Oppositionsbündnisses MUD (Tisch der demokratischen Einheit) bemühen sich, den Eindruck "friedlicher Proteste" aufrechtzuerhalten, die von der Staatsmacht brutal unterdrückt werden – und fast alle internationalen Massenmedien übernehmen diese Darstellung kritiklos. Dabei helfen ihnen Exzesse von Polizei und Nationalgarde, die in manchen Fällen unverhältnismäßig vorgingen. Der internationalen Medienmacht dienen diese Fälle als willkommener Beweis für die "Repression des Maduro-Regimes". Unterschlagen wird jedoch zumeist, dass die Generalstaatsanwaltschaft in solchen Fällen schnell Ermittlungen aufgenommen hat, mehrere Polizisten sitzen inzwischen in Haft.
Inzwischen – seit Mitte Mai – sind die Demonstrationen jedoch in den Hintergrund getreten, die Teilnehmerzahlen gingen deutlich zurück. Die Sicherheitskräfte Venezuelas sehen sich nun jedoch Gruppen gegenüber, die offenkundig paramilitärisch ausgebildet und trainiert wurden und professionell für den Straßenkampf ausgerüstet sind. Eine beträchtliche Zahl von Polizisten und Angehörigen der Nationalgarde wurde inzwischen getötet oder verletzt – in den ausländischen Medien, auch in Deutschland, wird das fast immer unterschlagen.
Verschwiegen wird auch, dass sich Venezuelas Opposition nach wie vor nicht eindeutig von den Gewaltexzessen distanziert, sondern sie als "legitime Verteidigung gegen die Repression" rechtfertigt. Von manchen Kleinbürgern werden die in Gasmasken und Helmen posierenden Jugendlichen als "Helden" gefeiert. Die meisten Einwohner der Hauptstadt machen jedoch lieber einen großen Bogen um die unberechenbaren Gruppen. Eine Journalistin aus Caracas berichtete: "Ich fuhr im Bus nach Hause. Er war überfüllt, weil die Metro ihren Betrieb aus Sicherheitsgründen eingestellt hatte, und das alte Fahrzeug schleppte sich nur mühsam und langsam voran. Dann sahen wir eine Gruppe Vermummter ankommen, und eine Frau neben mir feuerte den Fahrer an: ›Beeilen Sie sich, die wollen den Bus anzünden!‹ Wir kamen tatsächlich schnell genug weg, aber als ich zu Hause ankam, hörte ich in den Nachrichten, dass die Straßenkämpfer einen Linienbus gekapert und in Brand gesteckt hatten."
USA unterstützen Strategie der Gewalt
In der unabhängigen Tageszeitung "Últimas Noticias", die unter anderem Kolumnen des rechten Parlamentspräsidenten Julio Borges druckt, fragte sich der Herausgeber Eleazar Díaz Rangel am 14. Mai, warum sich die Opposition nicht klar von solchen Terroraktionen abgrenzt. Die Antwort gab er in seinem Artikel „Der unkonventionelle Krieg“ selbst: Weil die Ausschreitungen Bestandteil einer Kampagne sind, die zwischen der MUD und dem Southern Command (Southcom) der US-Armee ausgehandelt wurde. Ohne dessen ausdrückliche Unterstützung sei die anhaltende Gewalt in Venezuela undenkbar, so der bekannte Journalist.
Er zitierte aus einem Bericht des Southcom-Kommandeurs Kurt Tidd vor dem Streitkräfteausschuss des US-Senats: "Mit den politischen Faktoren der MUD haben wir eine gemeinsame Agenda vereinbart, die ein abruptes Szenarium enthält, das Straßenaktionen und den dosierten Einsatz bewaffneter Gewalt unter Einkreisung und Festsetzung beinhaltet. Mit den engsten Partnern der MUD haben wir auch vereinbart, die Nationalversammlung als Hebel zu benutzen, um die Regierungstätigkeit zu stören, Veranstaltungen und Demonstrationen einzuberufen, Regierungsvertreter einzubestellen, Kredite zu verweigern, Gesetze aufzuheben." Militärisch könnten die USA noch nicht offen eingreifen, aber es stünden die Spezialkräfte des Southcom zur Verfügung, so Tidd. Ausdrücklich verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Militärbasen der USA in Kolumbien.
"Nur mit dieser Übereinstimmung zwischen der venezolanischen Opposition und politischen und militärischen Kräften der USA wie dem Southern Command in diesem unkonventionellen Krieg lässt sich die unendliche Weiterentwicklung dieser bewaffneten Aktionen und des Vandalismus verstehen, ihre Hoffnung ist ›Jetzt oder nie‹", schließt Díaz Rangel seinen Artikel.
Militär auf Bedrohungslage eingestellt
Venezuelas Militär hat sich auf die Bedrohung offenkundig eingestellt. Verteidigungsminister Vladimir Padrino López sprach am 17. Mai in einem Kommuniqué von einem "laufenden Staatsstreich" gegen die verfassungsmäßige Ordnung und machte Kolumbien mitverantwortlich für die entstandene Lage. Bereits am 5. Mai hatte er davon gesprochen, dass sich das Land bereits "an der Grenze zwischen der Subversion und dem bewaffneten Aufstand" befinde. Der oberste General der Bolivarischen Nationalen Streitkräfte (FANB) rief die gesamte Bevölkerung zum Dialog auf. Eine hervorragende Gelegenheit dafür sei die Verfassunggebende Versammlung, für die Maduro die Initiative ergriffen hatte.
Ausweg "Verfassungsgebende Versammlung"?!
Der Präsident hatte am 1. Mai die Einberufung der Asamblea Nacional Constituyente (ANC) angekündigt. Das genaue Datum ihrer Wahl steht noch nicht fest, der für die Durchführung zuständige Nationale Wahlrat (CNE) hat sich noch nicht dazu geäußert.
Nach den Vorstellungen Maduros soll die ANC 500 Delegierte umfassen, die alle in direkter und geheimer Wahl durch die Bevölkerung bestimmt werden. Eine Neuerung empört jedoch die Regierungsgegner: Nur die Hälfte der Sitze soll wie bisher in territorialen Wahlkreisen vergeben werden. Die andere Hälfte soll die verschiedenen Gesellschaftsschichten repräsentieren. Deshalb sollen zum Beispiel Arbeiter und Studierende zusätzlich ihre Vertreter in die Verfassunggebende Versammlung entsenden – ebenfalls in direkter und geheimer Wahl.
Wenn das so umgesetzt wird, könnte das ein spannendes Experiment werden.
André Scheer
CUBA LIBRE 3-2017