Der "Mayo Teatral" (Theatermai) 2016 erstreckte sich nicht über einen vollen Monat, aber doch immerhin über zehn Tage, während denen in ebenso vielen Theatern Havannas 18 Stücke verschiedener lateinamerikanischer Ensembles gezeigt wurden.
18 schafften wir zwar nicht, aber da die meisten Bühnen in "unserem" Stadtviertel Vedado liegen und bequem fußläufig zu erreichen sind, doch wenigstens elf. Oft erkannte man bei der Abendvorstellung Gesichter aus dem Publikum der Nachmittagsvorstellung wieder, die 500 Meter entfernt stattgefunden hatte. Man lächelte einander wissend zu. Es kam öfters das Gefühl auf, einer verschworenen Gemeinschaft anzugehören. Das unterscheidet diesen Event vom wesentlich berühmteren alljährlichen Filmfestival. Festivalfilme können nur in Kinos gezeigt werden, die über State of the Art-Technik verfügen. Von denen gibt es lediglich eine begrenzte Anzahl in der Stadt und sie liegen – was ja an sich auch vernünftig ist – an verschiedenen, teils weit voneinander entfernten Stellen Havannas. Anders die Theaterbühnen: Sie müssen in der Regel keinen hohen technischen Ansprüchen genügen. Da existieren kleine neben mittleren und großen auf relativ engem Raum, und wenn du um 17 Uhr eine Vorstellung besuchen wolltest und um 19 Uhr 30 eine weitere anderenorts, so war das problemlos zu bewerkstelligen.
Ich möchte – exemplarisch für diese aufregende Zeit – einen Tag auswählen, an dem wir in zwei Stücken waren, zwischen denen auch noch ein Zusammenhang besteht: Es handelte sich in beiden Fällen um Shakespeare-Adaptionen. Das 400. Todesjahr eines der Größten aller Zeiten ist auch in Kuba nicht unbemerkt geblieben. Diejenigen, die eine Besprechung oder gar Kritik von mir erwarten, muss ich enttäuschen. Dafür fehlt mir der Theaterverstand. Aber ich will versuchen zu erklären, warum ich mich als Laie – noch dazu als sprachreduzierter – bei der einen wie der anderen Aufführung bestens unterhalten gefühlt habe.
Sala Hubert de Blanck, Calzada 654, Vedado, 17. Mai, 5:00 p. m. : "OTELO"
Die spanische Schreibweise mag gewöhnungsbedürftig sein, aber es ist kein anderer als William Shakespeares eifersüchtiger schwarzer Feldherr. Die chilenische Theatergruppe Viajeinmóvil "adaptiert die Tragödie mittels eines hochentwickelten Spiels der Manipulation von Objekten mit einem Schauspieler und einer Schauspielerin, welche die Hauptpersonen repräsentieren", heißt es lakonisch im Begleitheft. Man sollte noch hinzufügen, dass es sich bei den Objekten im Wesentlichen um lebensgroße Gliederpuppen handelt. Wer nun glaubt, sich das alles plastisch vorstellen zu können, befindet sich gewaltig auf dem Holzweg. Zum einen führt der zweite Teil des zitierten Satzes in die Irre: Jaime Lorca stellt als Mensch den intriganten Jago dar und die Hauptperson Othello lediglich als Puppe. Nicole Espinoza ist in Fleisch und Blut Desdemonas Dienerin Emilia und Desdemona selbst ist die Marionette in ihrer Hand. Wer überzeugt mimisch mehr? Die Puppenspieler oder die Puppen? Das scheint eine dumme, bestenfalls rhetorische Frage zu sein. Aber das ist es nicht. Im Stück ist das eine unmöglich vom anderen zu trennen. Die starren, hölzernen Mohrenzüge Othellos scheinen förmlich in Bewegung zu geraten, wenn er sich im schreienden Disput mit seinem ungetreuen Fähnrich Jago befindet. Und wenn gleichzeitig Emilia und Desdemona an anderer Stelle der Bühne ein gestenreiches Zwiegespräch haben (punktuell kommen auch noch Nebenfiguren wie Caßio ins Spiel), so greift man sich als Zuschauer schon mal an den Kopf und fragt sich ungläubig: Wie viele Personen sind da jetzt eigentlich auf dem Podium. Zwei? Das kann doch gar nicht sein! Die schlauköpfige Frage, ob denn die "Bauchredner" der Marionetten auch sparsam genug in ihren Lippenbewegungen waren, stellt sich nicht wirklich. Die Kunst, mehr zu scheinen als zu sein, ist dermaßen suggestiv, dass man von solchen Kleinigkeiten völlig abgelenkt ist. Hier und da geht einen auch der Impuls an, zu lachen und man gibt ihm nach, ohne dass es einem peinlich wäre. Bei dieser überaus unkonventionellen Herangehensweise an einen klassischen Stoff kann das gar nicht ausbleiben. Aber es ist kein Auslachen, sondern ein Lachen aus Verwirrtheit. Und dass die Truppe das weiß (und es deswegen auch nicht übel nimmt), steht außer Zweifel. Bei der naheliegenden Frage, ob das Zirzensische an der Inszenierung die Wirkung des Stückes nicht allzu sehr dominiert, ist allerdings Vorsicht geboten. Das "Hubert de Blanck" – das hauptsächlich die Funktion eines Kindertheaters hat – entstand vor dem Sieg der Revolution und ist von der Ausstattung her eher traditionell, d. h. es ist bühnenbildlich auch durchaus düster zu gestalten, was in diesem Fall geschah. Als Othello sich zu Beginn des Aktes, in dem er aus ihm eingeimpfter Eifersucht seine geliebte Desdemona erwürgen wird, in seinem Bett aufrichtet, ist er mehr als eine Puppe. Spätestens da ist er ein furchteinflößendes Individuum, das in seinem wahnhaften Zorn Gruseln beimPublikum hervorruft. Mit überdimensioniertem Kasperletheater hat das Finale nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun.
Centro Cultural Bertolt Brecht, Sala Tito Junco, Ecke 13. und I, Vedado, 17. Mai, 8:30 p. m. : "MENDOZA"
Richtig, Shakespeare hat nie ein Drama dieses Titels geschrieben, aber hier könnte man sagen: Schüttle den Mendoza und heraus fällt der Macbeth.
Das mexikanische Teatro Los Colochos hat den ruchlosen Mord an König Duncan in Schottland lediglich in die Szenerie der mexikanischen Revolution verlegt.
Dass man für die Bearbeitung eines von Shakespeares blutigsten Dramen ausgewählt hat, ist kein Zufall. Als dasselbe Stück unlängst beim Iberoamerikanischen Theaterfestival von Bogota aufgeführt wurde, hieß es in einem Kommentar: "Die Nähe des mexikanischen Werks an einer gewalttätigen Realität, die noch düsterer ist als die der Revolution in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, verstärkt die Aktualität dieser meisterhaften zeitgenössischen Version von Macbeth." Regisseur Juan Carrillo äußerte sich mit den Worten: "Wir versuchen, Macbeth den Leuten anzunähern, indem wir ein eigenes Projekt machen – eine Geschichte, die uns wehtut." Was er damit meint, wird spätestens am Ende des Schauspiels deutlich, als die Darsteller mit anschwellenden Stimmen die Ziffern von 1 bis 43 durchzählen, gefolgt von dem Aufschrei "Gerechtigkeit!". Ayotzinapa und jene 43 verschwundenen – und mutmaßlich barbarisch ermordeten – Lehramtsstudenten aus dem Bundesstaat Guerrero, der für seine menschenverachtende Kriminalität besonders berüchtigt ist, lassen grüßen. Wenn "Macbeth" eine Parabel auf menschliche Gier ist, dann sind wir mit "Mendoza" erschreckend dicht an der mexikanischen Wirklichkeit.
Dem General José Mendoza wird unter Zeugen von einer alten Zauberin geweissagt, dass er es bis zum Gouverneur bringen werde. Wir haben es hier also nicht mehr mit drei Hexen zu tun, sondern nur noch mit einer, deren Darstellerin sinnigerweise auch Mendozas ehrgeizige Ehefrau Rosario (das Pendant zu Lady Macbeth) spielt, die ihrerseits den zunächst Skrupel zeigenden Gatten dazu bringt, das Wahrwerden der Prophezeiung zu beschleunigen. Als der Gouverneur Montano seinem Verwandten – und vermeintlichen Freund – General Mendoza einen Besuch abstattet, überlebt er die Nacht nicht.
Anders als das "Café Teatro" des Bertolt Brecht im Souterrain, das bei Regen voll laufen kann, was Aufführungen unmöglich macht, befindet sich die "Sala Tito Junco" wasserdicht im 1. Stock. Sie ähnelt einer modernen Fabrikhalle. Es gibt (bei Bedarf) eine herkömmliche Bühne und ihr gegenüber eine Tribüne aus Stahlgestänge für die Zuschauer. Letztere ist aber ein Bausatz, den man nach Belieben auseinander rupfen und wieder anders zusammenstecken kann. Die Bühne für "Mendoza" erforderte nach dem Willen des noch sehr jungen Direktors Juan Carrillo (zumindest sieht er viel jünger aus als jeder einzelne seiner nicht gerade kleinen Truppe) ein Geviert von kaum acht x acht m mittig mit Publikum auf allen Seiten drum herum. Dort spielt sich auf engem Raum das Geschehen ab, angefangen von dem nächtlichen Mord am Gouverneur, der schon eher eine Abschlachtung ist, über die ganzen Untaten, die dies in der Folge mit sich bringt, bis zu Mendozas verdientem Ende. Theaterblut wird dabei literweise vergossen. Es fließt und spritzt und bildet Pfützen auf dem Parkettboden. Ein reines Wunder, dass kein Protagonist ausrutscht und es niemandem im Publikum die Garderobe einsaut!
Eine pointierte Nebenrolle besetzt das Huhn der Zauberin. Wie es da stoisch auf Mendozas nackter Brust hockt und dem von Nachtmahren des Fluchs der bösen Tat Gepeinigten in die irren Augen blickt, das lässt den Betrachter staunen. Ob es sediert wurde wie früher die Boas und Pythons um den Hals der Schlangenbändigerin im Hula-Hula-Outfit? Ich weiß es nicht. Vielleicht wird es ja psychotherapeutisch betreut. Vielleicht ist es auch einfach nur ein guter Profi – diszipliniertes, vollwertiges Mitglied des Ensembles.
Wir hatten beim Platznehmen die erste Reihe vermieden, um nicht Gefahr zu laufen, in lästige Interaktionen verwickelt zu werden, die avantgardistische Regisseure bekanntlich über alles lieben. Am Ende sollte sich herausstellen, dass unsere zweite Reihe ideal war: Man ist nahe am Geschehen, bekommt aber, anders als in der ersten, keine Maske aufgesetzt und auch kein verschwitztes Hemd zur zeitweiligen Aufbewahrung in die Hand gedrückt. Andererseits hatte auch in der zweiten Reihe jeder noch das Recht auf ein Gratisbier, mit dem die Gruppe das Ende dieser ungeheuer substanzzehrenden und 2:15 h langen Aufführung feierte (stilecht ein mexikanisches "Sol") unter den stehenden Ovationen des Publikums. Die in der dritten Reihe konnten zusehen, wo sie blieben …
Theater gehört in Kuba – im Gegensatz zu den meisten Ländern Westeuropas – nicht zu den Kultursegmenten für finanziell Bessergestellte. Ballett und Oper auch nicht. Wir erinnern uns immer noch mit feuchten Augen an jenen späten Samstagnachmittag im Sommer vor einigen Jahren auf dem weitläufigen, grünen Theatervorplatz in Duisburg. Die Duisburger Philharmoniker haben in dem aus Italien stammenden Dänen Giordano Bellincampi einen Intendanten, der sich was traut! Und (u. a. Auszüge aus) "Aida" im Ruhrpott für null Kohle geboten zu bekommen, das wird wohl keiner unter den etwa 7.000 damals Anwesenden bei dem mindestens dreistündigen Event so schnell vergessen. Aber das war schon irgendwie revolutionär, denn normalerweise bleiben Liebhaber von Oper, Ballett und auch Theater in Erstweltländern gern unter sich, um sich von der Klientel der Kinos und Sportplätze abzuheben, wobei ich mir schon bewusst bin, dass dies – in seiner Rigorosität – eine plakative Überzeichnung ist. Dennoch bleibt es Fakt, dass ein Theaterbesuch in Havanna eine ungleich lockerere Angelegenheit ist als etwa in München oder Hamburg. Dieselben Typen, die nach "Mendoza" restlos begeistert das "Centro Cultural Bertolt Brecht" verließen, mögen, zumindest teilweise, den jungen Abend auf einem Salsa-Konzert beschlossen haben.
Ulrich Fausten
CUBA LIBRE 1-2017