Die Frage nach der materiellen Substanz der Revolution

Anlässlich der Rundreise von Jorgito in Europa mit zahlreichen Vorführungen des Dokumentarfilms "Die Kraft der Schwachen" führte Cuba Libre ein Interview mit dem Filmemacher Tobias Kriele.

CL:Tobias, der Protagonist deines Dokumentarfilms "Die Kraft der Schwachen", Jorgito Jerez, ist im Juli 2016 zum zweiten Mal nach Deutschland gekommen. Was hat sich seit eurer ersten Rundreise 2014 verändert?

Jorgito auf dem UZ-Pressefest

Jorgito auf dem UZ-Pressefest, Foto: Tom Brenner


Tobias Kriele: Im November 2014 kam Jorgito nach Deutschland, um die erste Version des Films vorzustellen. Drei der Cuban Five waren damals noch in den USA im Gefängnis. Es war unsere Absicht, mit den Filmveranstaltungen ihren Fall bekannt zu machen und für Unterstützung zu werben. Der Film war dementsprechend politisch auf eine Forderung zugespitzt, und auf den Veranstaltungen nahm die erstaunte Reaktion eines Teil des Publikums über das absolute Stillschweigen der bürgerlichen Medien über diesen Fall eine größere Rolle ein. Eine Woche, nachdem Jorgito abgereist war, kamen die Cuban Five im Dezember 2014 frei, was uns schlussendlich dazu bewegte, den Film zu überarbeiten und mit einem Epilog zu versehen, der die erste Begegnung von Jorgitos Familie mit Gerardo schildert.


Der Film hat mittlerweile in einer begrenzten Gemeinde eine Verbreitung gefunden, und Jorgito ist – unter anderem auch durch seinen Log in der Cuba Libre – vielen Menschen ein Begriff. Bei der ersten Rundreise musste Jorgito noch eingeführt werden – in diesem Jahr wurde er vielerorts bereits erwartet. Offensichtlich ist er für viele Menschen zu einem Symbol für die Errungenschaften der kubanischen Revolution geworden und zu einem Anlass zur Hoffnung, dass die kubanische Jugend diese auch in Zukunft verteidigen wird.

CL:Hat es sich gelohnt, noch einmal nachzudrehen? Überhaupt, wie muss man sich die Produktion eines solchen Filmes vorstellen?

Tobias Kriele: "Die Kraft der Schwachen" ist eine absolute Low-Budget, eher sogar eine Null-Budget-Produktion. Das Motto beim gesamten Produktionsprozess lautete, auf die beste uns mögliche Weise den kubanischen Protagonisten eine Stimme zu geben. Im Mittelpunkt des Schaffens stand die gemeinsame Absicht der Beteiligten, ein gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Anhand der Geschichte eines einzelnen Jungen das Kernanliegen der kubanischen Revolution deutlich zu machen.

Unter dem technischen Aspekt betrachtet, mussten wir uns noch mehr einschränken als ohnehin. Wir wollten ja die erste Begegnung zwischen Jorgito und Gerardo nach 7 Jahren Briefwechsel filmen und konnten dafür weder das Set vorbereiten noch die Aufnahmen wiederholen. Wir haben lediglich mit einer Hand- und einer GoPro, also einer Minikamera, gefilmt. Vor allem waren wir aber in der Situation ähnlich aufgeregt wie die Beteiligten. Man hatte das Gefühl, einem unvergesslichen Moment beizuwohnen. Vermutlich merkt man das den Aufnahmen auch an.

Mittlerweile denke ich auch, dass diese Szene den Film komplett gemacht hat. Vorher konnte es so verstanden werden, als hätte der Aktivismus für die Cuban Five für Jorgito eine therapeutische Bedeutung gehabt. Nach der Überarbeitung wird aber deutlich, dass es Jorgitos Absicht war und ist, die Welt zu verändern – und genau das hat er, natürlich als Teil einer internationalen Bewegung, geschafft. Es freut mich, dass der Film auch als eine Ermutigung verstanden wird, sich aus dem Schneckenhaus herauszuwagen und in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzugreifen.

CL: Welche Rolle spielt die Politik, der Fall der Cuban Five, in deinem Film, welche die Lebensgeschichte von Jorgito?

Jorgito auf dem UZ-Pressefest

Jorgito auf dem UZ-Pressefest, Foto: Tom Brenner

Tobias Kriele: Jorgito und ich scherzen manchmal über unseren diesbezüglichen Konflikt: Ich wollte einen Film nur über Jorgito – er einen Film nur über die Cuban Five. Tatsächlich wollten wir aber beides miteinander verbinden. Das kann auch gar nicht anders sein, schließlich ist der politische Kampf ein elementarer Bestandteil in Jorgitos Leben, den man nicht chirurgisch entfernen könnte, ohne Schaden anzurichten.

Die Herangehensweise des Filmprojekts ist es ja gerade, nach der materiellen Substanz dessen zu fragen, was wir Revolution nennen. Was bedeutet es für den alltäglichen Lebensprozess, zum Beispiel eines Menschen mit einer körperlichen Behinderung, im sozialistischen Kuba aufzuwachsen? Welche Möglichkeiten bieten sich ihm, Teil dieses Prozesses zu werden? Ist eine Behinderung immer gleich einer Behinderung?

Die Idee ist, dass die Geschichte von Jorgito emblematisch für die Kubanische Revolution ist. Ohne das revolutionäre Kuba wäre Jorgito nicht Jorgito, aber auch die kubanische Revolution wäre nicht, was sie ist, würde sie nicht Personen wie Jorgito ermöglichen, ein Mensch zu sein. Wir wollten das individuelle mit dem kollektiven vermitteln. In dem Film taucht ja auch ein paar Mal der Leitspruch auf: Kollektive kommen vor individuellen Interessen. Zugleich schildert er aber die Herausbildung einer eindrucksvollen Individualität auf der Grundlage einer Anstrengung.

Jorgitos Kampf für die Freiheit der Cuban Five gibt diese Kraft wieder an die kubanische Gesellschaft zurück. Und die erreichte Freilassung der Cuban Five ist wie die Bestätigung, dass es sich lohnt, solidarisch zu sein und die Interessen der Allgemeinheit vor die eigenen zu setzen – unter der Voraussetzung von gesellschaftlichen Verhältnissen, die auf das Interesse aller ausgerichtet sind.

CL: Der Film richtet sich auch und gerade an ein Publikum über die traditionelle Solidaritätsbewegung hinaus. Was sind die Erfahrungen eurer Rundreise, wird er angenommen?

Tobias Kriele: Unsere Erfahrung ist, dass der Film auch von einem breiteren Publikum mit großer Anteilnahme aufgenommen wird. Beispielsweise sind die Reaktionen von Menschen mit Behinderung und deren Familienangehörigen in der Regel sehr intensiv. Das hat natürlich auch mit der aktuellen Situation von Behinderten in Deutschland zu tun und mit den Einschnitten, die unter dem Schlagwort der Inklusion in den letzten Jahren vorgenommen wurden. Diese Menschen leben in einem der reichsten Länder der Welt und erleben, dass für eine stärkere Unterstützung ihrer Kinder immer weniger Mittel zur Verfügung stehen und vor allem immer weniger Zeit für persönliche Beziehungen bleibt. Da kann die Lebensgeschichte von Jorgito und die gesellschaftliche Anstrengung, welche dahinter steht, schon aufrütteln. Das wirft Fragen auf: Wie verhält sich das Individuum zum gesellschaftlichen Ganzen und andersherum? Kuba gibt auf diese Fragen überraschende Antworten. Und es ist interessant zu sehen, dass gerade diese Betroffenen oftmals sehr grundsätzlich politisch, sehr nachdenklich ihre Situation reflektieren.

CL: Welche Fragen wurden im Laufe der Rundreise an Jorgito gestellt?

Tobias Kriele: Eine immer wiederkehrende ist die nach der Zukunft der Kubanischen Revolution, nach der sogenannten Annäherung mit den USA. Man merkt, dass es diesbezüglich Sorgen gibt. Jorgito ist dagegen in dieser Sache sehr zuversichtlich, übrigens auch seine Schwester Amanda, die ihn begleitet hat. Er hat überzeugend dargestellt, dass die Vorstellung, die kubanische Jugend sei verloren, immer wiederkehrt und auch 1953 schon geäußert wurde – wenige Monate vor dem Angriff auf die Moncada-Kaserne unter der Führung des damals noch jungen Fidel Castro. Zum anderen ist die Jugend die strategische Zielgruppe der Obama-Administration. Jorgito berichtete in dem Zusammenhang, wie schlecht Obamas Vorschlag, die Vergangenheit der Beziehungen zwischen Kuba und den USA zu vergessen, bei den jungen Kubanern angekommen sei. Jorgito wies dabei gerne auf seinen rechten Arm hin: Der macht auch deshalb bis heute für ihn kaum kontrollierte Bewegungen, da zum entsprechenden Zeitpunkt ein Medikament, welches für den Muskelaufbau wichtig gewesen wäre, durch die US-Blockade nicht nach Kuba importiert werden konnte. Was soll es bedeuten, diese Geschichte zu vergessen?

CL: Auf der Rundreise hat auch Jorgitos Schwester Amanda das deutsche Publikum mit ihrer Klarheit überrascht ...

Tobias Kriele: Amanda ist von ihrer Familie als Begleitperson für Jorgito geschickt worden, und ich bin im Nachhinein froh, dass es so gekommen ist. Amanda wirkt äußerlich immer noch wie das junge Mädchen, das sie zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch war; auf den Veranstaltungen vor teilweise mehreren hundert Personen hat sie aber durch ihre Selbstsicherheit und ihr Einfühlungsvermögen beeindruckt. Sie hat davon erzählt, dass sie gerade in Kuba ihr Abitur abgeschlossen hat, ohne Zukunfts- oder Versagensängste, und sie hat schnell erkannt, dass sie damit im Vergleich zu den Jugendlichen in der Bundesrepublik in einer privilegierten Situation lebt. Oftmals fällt es jungen Leuten aus Kuba schwer, die Widersprüchlichkeiten des Lebens in kapitalistischen Verhältnissen zu begreifen. Ganz anders Amanda. Ich denke, dass sie die ideale Ergänzung zu Jorgito war. Amanda beginnt übrigens im September ein Studium der Zahnmedizin, Jorgito wird nach seiner Graduierung als Journalist für die Tageszeitung "Adelante" in Camagüey arbeiten. Den Log für Cuba Libre wird er natürlich auch weiterhin schreiben.

CL: Wenn du eine Bilanz des Filmprojektes ziehst, wie sieht die aus?

Tobias Kriele: Wir haben immer daran geglaubt, dass die Geschichte von Jorgito die Menschen erreichen und begeistern kann. Dass der Film und vor allem Jorgitos Anwesenheit jetzt so stark nachgefragt wird, erzeugt natürlich Zufriedenheit. Der Film stellt ja auch eine Möglichkeit dar, etwas für Kuba und seine Revolution zu tun. Insofern freue ich mich über jede Veranstaltung, für die wir angefragt werden. Er wird aber auch von einem nicht kleinen Teil des Publikums als eine Bereicherung angesehen – das entnehme ich zumindest den Rückmeldungen. Eine Bereicherung, die nicht nur darauf beschränkt ist, eine alternative Information über Kuba zu bieten. Die Solidarität mit Kuba darf nicht kitschig werden, muss aber der Empathie einen Raum geben. Gefühle, die ja aus der Lebenssituation der Menschen hier rühren, aus Enttäuschungen, unerfüllten Hoffnungen, Erfahrungen von Demütigung und von Zurückweisung. Dies kann sich in Solidarität verwandeln. Der bescheidene, aber deshalb nicht minder radikale Vorschlag der Kubanischen Revolution, an welchen Werten sich eine Gesellschaft orientieren kann, hält somit auch unserer gesellschaftlichen Realität einen Spiegel vor. Ich hoffe, dass "Die Kraft der Schwachen" dazu beiträgt, dass wir uns an die großen Fragen erinnern, die wir auch und gerade an die Gesellschaft zu richten haben, in der wir leben.

CUBA LIBRE Das Interview führte Marion Leonhardt

CUBA LIBRE 4-2016