Wie groß eine Bühne von 80 m Breite und 20 m Höhe jenseits der nackten Zahlen wirklich ist, wird einem erst klar, wenn man aus einiger Entfernung die Protagonisten darauf wahrnimmt. Sie sind winzig wie Ameisen und scheinen sich auf dieser Riesenfläche förmlich zu verlieren. Das Ereignis ihres Auftritts war so groß, dass es die Stones selbst zu Zwergen machte.
Die Stones in Havanna, Foto: Yander Zamora |
Kuba hatte nicht zum ersten Mal eine Rockgruppe zu Gast. Die Zeiten, in denen das Genre als Musik des Klassenfeindes galt, sind passé und das schon seit vielen Jahren. Bereits 1979 hatte es im Karl Marx Theater von Havanna ein dreitägiges Festival u. a. mit Billy Joel, Kris Kristofferson, John McLaughlin und Weather Report gegeben. An phonstarken Bands waren die Manic Street Preachers, die Toten Hosen und die Dead Daisies hier, aber nichts hielt auch nur annähernd einen Vergleich mit der Gigantomanie dieses Events aus.
Man könnte lakonisch sagen, dass das Konzert der Rolling Stones in Havanna die Woche der britischen Musik in Kuba beschloss, aber das hieße das klassische Understatement der Briten zu weit treiben.
Würde die Hütte voll werden?
Flankierend zu den Aufbauphasen des zyklopischen Technik-Apparats auf dem Freigelände der Ciudad Deportiva – ein Fußballfeld, ein Baseballfeld und angrenzende Flächen – gab es im kubanischen Fernsehen Info-Sendungen zum bevorstehenden Konzert, weil sich erkennbar die Furcht breitmachte, es könnten zu wenige kommen. Touristen und andere Ausländer im Land wurden wiederholt darauf hingewiesen, dass für sie der Eintritt genauso gratis sei wie für die Kubaner. Aber ebendiese Kubaner, so drängte sich der Eindruck auf, waren bei der »Mobilmachung« das weit größere Problem. Während nämlich die Musik der Beatles in Kuba als völlig etabliert und einem breiten Publikum vermittelbar gilt, haftet den Stones für die Rock-Unkundigen – und davon gibt’s hier immer noch viele! – der Stallgeruch der Subkultur an. Sie werden von Laien hartnäckig in die Nachbarschaft von Heavy Metal und Death Metal gerückt, die alljährlich auf der Insel mit ihrem eigenen Festival, dem »Brutal Fest«, abgefeiert werden und verständlicherweise nicht jedermanns Sache sind. Geradezu rührend der Hinweis eines Experten in der »Mesa Redonda« am Vorabend des Auftritts: Die Rolling Stones spielten – gewissermaßen – so eine Art Salsa und man könne danach tanzen.
Schwer zu sagen, wie viele wir am Abend des 25. März waren. Da keine Tickets abgerissen wurden, war man auf Schätzungen angewiesen. Die lagen zwischen 500.000 (tagesschau.de) und 1.300.000 (Michel Hernández in der Granma, der aber beim Schrei en seines Artikels noch so im Stones-Delirium war, dass man ihm diese Ziffer nachsehen muss). Ja, ich weiß, dass dieser Mondwert von Mick Jagger selbst gestreut wurde. Allein, mir fehlt der Glaube. Doch wenn wirauch vielleicht nicht so viele waren, viele waren wir auf jeden Fall! Und der Anteil der Ausländer war, wie erwartet, hoch. Ob überproportional hoch, vermag ich nicht zu beurteilen, denn dass Mischungsverhältnis zwischen Kubanern und Nichtkubanern muss ja nicht an allen Stellen gleich gewesen sein. Fahnen gab es reichlich. Neben den kubanischen Banderas, die vor allem die vorderen Reihen dominierten, wurden auch die mit dem Union Jack des Vereinten Königreiches heftig geschwenkt. Die anwesenden Briten platzten förmlich vor Stolz. Sehr beliebt waren die T-Shirts, die das Zungen-Logo (das zu Beginn der 70er auf dem Album »Sticky Fingers« zum ersten Mal auftauchte) als Flagge Kubas zeigen. Auch deutsche Lehrer gab’s (Osterferien!) – immer in Pulks auftretend, meist mit Strohhüten, ein paar Verwegene das Pflichtutensil Rucksack auf dem nackten Oberkörper tragend, ihre Zugehörigkeit festzumachen an den Signalfarben der Handgelenkbändchen ihrer jeweiligen all inklusive Strandhotels. Mittelamerika und der Norden Südamerikas waren ebenfalls stark vertreten. Wer von Cancun angereist war, hatte für sein Flugticket sicher nur einen Bruchteil der 500 Dollar bezahlt, die in Mexiko eine Eintrittskarte zum dortigen Rolling Stones Konzert kostete.
Ein bisschen wie an Heiligabend
Begeistertes Publikum, Foto: Ismael Francisco / Cubadebate |
Ab 14 Uhr war Einlass. Aber wenn man nicht den Ehrgeiz hatte, ganz dicht vor der Bühne zu stehen, war man auch noch gut bedient, wenn man gegen 18 Uhr 30, zwei Stunden vor Konzertbeginn, eintraf. Das Areal ist gewaltig und so fand man immer noch ein Fleckchen Rasen, auf das man sich setzen oder legen konnte. Das unsichtbar über uns allen schwebende Motto schien zu lauten: Kein Stress! Schon inmitten der indogermanischen Völkerwanderung zu den Eingangstoren war kein böses oder auch nur ungeduldiges Wort zu hören gewesen. Man blickte nur in strahlende Gesichter, in Augen, die denen erwartungsfroher Kinder vor der Weihnachtsbescherung ähnelten. Und die Ordnungskräfte waren die Freundlichkeit selbst. Die Journalistensurrogate, die für die gleichgeschalteten westlichen Mainstream-Medien vom Konzert berichten sollten, waren also wieder einmal in der misslichen Lage, aus der Luft greifen zu müssen, was sie auf der Erde nicht fanden: z.B. dass Kubaner von Polizisten bedrängt worden seien und man vielen den Eintritt verweigert habe.
Je näher die magische Startzeit rückte, desto mehr vertrieb man sich im Publikum die Zeit mit Spekulationen, welches wohl das Auftaktstück sein würde. Im Stillen beteiligte auch ich mich daran. »Street Fighting Man« wäre mein Tipp gewesen. Damit sollte ich nur knapp daneben liegen, denn die Stones eröffneten die Mega-Show mit »Jumping Jack Flash«, einer Nummer, die sowohl zeitlich, als auch von der Machart her nicht weit davon entfernt ist.
Die hungrige Bestie
Kuba-Fahne und Stones-Zunge |
Die Szene, die sich für den Granma Autoren der Kulturrubrik, Michel Hernández, mit dem Konzertbeginn verbindet, liest sich bei ihm so: »Die Menge brüllt wie eine hungrige Bestie. (…) Brüllt, bis die Lungen um Gnade winseln, bevor sie keinen Tropfen Luft mehr in sich haben. Es ist ein Schrei, der lange Zeit darauf gewartet hat, zum Ausbruch zu kommen … von unten her … aus den Eingeweiden eines Landes heraus, denn hier war ganz Kuba versammelt, um die Rolling Stones zu fordern … Ihre Satanischen Majestäten zu fordern … um den brutalen Faustschlag ihrer Lieder in der Magengrube zu verspüren.« Michel hat mit seinen blumenreichen Ausführungen sicher Recht, sofern er von der Fangemeinde der Stones in Kuba spricht, die endlich, endlich ihre Idole erlebten. Aber das Publikum war bunt gemischt und seine multikulturelle, multinationale Erwartungshaltung eine komplexere Angelegenheit, als im Artikel dargestellt. Es ist keine kühne Behauptung zu sagen, dass man nicht mal ein Anhänger der Gruppe sein musste, um hinzugehen. Viele werden sich gedacht haben: Die Rolling Stones in Kuba! Und wir dabei! Völlig umsonst! Der Wahnsinn! Zu Hause werden sie sich vor Neid ein Monogramm in den Hintern beißen! Aber auch diese Aussage ist wahr: Man musste kein Stones-Fan sein, um das Konzert klasse zu finden. »Paint it Black« und »Gimme Shelter« live vom derzeit besten Wiedergabesystem der Welt oder vom heimischen CD Player zu hören, verhält sich zu einander etwa so wie Kaffee zu Muckefuck.
Verrücktes und Nachvollziehbares
Einige Kuriositäten am Rande: Ein kleines Fernsehteam hielt, just im selben Moment, in dem die Rolling Stones »Start Me Up« anstimmten, den Augenblick für günstig, seine Reportage zu beginnen. Eine Zeitlang sprach die Reporterin unverdrossen in ihr Mikrophon, während um sie herum der Bär tobte. Die des Lippenlesens Kundigen unter den Fernsehzuschauern mögen den Beitrag interessant gefunden haben. Ein offenbarer Hard-Core-Vertreter der kubanischen Stones-Followers war vor Aufgewühltheit völlig neben sich und schluchzte haltlos ins T-Shirt seines Kumpels, während er ohne Punkt und Komma auf ihn einredete. Vom historischen Gig des britischen Quartetts kann er gar nicht viel mitbekommen haben. Ein nur wenige Schritte von uns entfernt stehender Polizist wurde wiederholt von Leuten aus dem Publikum angesprochen, die augenscheinlich alle eine gewisse Örtlichkeit suchten, denn er reagierte jedes Mal mit den gleichen Gesten. Seinen raumgreifenden Armbewegungen zufolge muss es sich bei dem Dixi-Klo – eines für 1,3 Millionen Menschen? – um eine nicht so leicht zu findende Angelegenheit gehandelt haben.
Das muss sein |
An einer Stelle seines Granma Beitrags behauptet Michel Hernández: »Das Repertoire ist das gleiche, mit dem sie die Region erobert haben, aber sie wissen, dass das, was sich hier unten abspielt, etwas ganz anderes ist als in den übrigen Ländern. « Der erste Teil der Aussage ist so pauschal nicht haltbar. Das Konzert von Havanna hatte eindeutig sein Schwergewicht auf den 60er und 70er Jahren. Anderenorts hingegen, namentlich in Mexiko, hörte man durchaus auch jüngeres Material. Mick Jagger, der vor der Olé Tournee einen Spanisch Crash Kurs gemacht haben muss (was nicht jeder Superstar tun würde!), brachte es in einer Bühnenansage auf den Punkt: „Wir wissen, dass es vor Jahren schwierig war, unsere Musik zu hören. Jetzt sind wir hier, um für euch zu spielen.“ Er wird sich schlau gemacht haben, dass die Zeiten, in denen Beatmusik – wie man sie damals nannte – in Kuba verpönt war, vor allem die 60er und weite Bereiche der 70er waren. Darum nahmen Produktionen aus dieser Epoche im Konzert so viel Raum ein.
Ein wenig Statistik
Stones-Zunge |
Die vier mageren Männer, die sich die superbreite und schwindelerregend hohe Bühne teilen, bringen es auf 286 Lenze. Mick Jagger ist 72, was wir ihm angesichts seiner kraftraubenden Kapriolen während des Auftritts nicht mal dann glauben würden, wenn er uns eine notariell beglaubigte Geburtsurkunde unter die Nase hielte. Keith Richards, sein Koautor und erster Gitarrist, ist ebenso alt wie er. Unvergessliche Riffs wie die von »Satisfaction«, »The Last Time« usw. verbindet man mit ihm. Charlie Watts, der Drummer, ist 74 Jahre alt und besticht immer noch durch seinen ökonomischen Einsatz der Trommelstöcke. So konzentriert und kontrolliert hat er mit Mitte 20 auch schon gespielt. Was diese Schlachtrösser des Rock heute zustande bringen, ist mit den Worten von Michel Hernández »ein Schlag gegen die Diktatur der Zeit, der Jahre «. Der zweite Gitarrist Ron Wood ist mit seinen 68 Jahren das Nesthäkchen. Er stieß »erst« 1975 dazu - kurz nachdem Mick Taylor, der als Ersatz für den 1969 in seinem Swimming Pool ertrunkenen Gründer und ursprünglichen Boss der Gruppe, Brian Jones, zu den Stones gekommen war, die Formation wieder verlassen hatte. Auch Ronnie ist jetzt schon 41 Jahre dabei und so sehr es ihn damals elektrisiert haben dürfte, dass die seinerzeit längst weltberühmte Band ihn haben wollte, wäre er wohl zu Tode erschrocken gewesen, wenn er gewusst hätte, dass er sich auf eine Lebensstellung ohne Pensionsansprüche einließ. Ungewöhnlich ist, dass die Stones keinen Bassisten haben. Das heißt, sie haben natürlich schon jemanden, der für sie den Bass spielt, aber das ist einer der Backup Musiker, kein Bandmitglied. Ich könnte ohne zu recherchieren nicht sagen, wie lange dieser Zustand bereits andauert. Ich weiß nur, dass ihr langjähriger etatmäßiger Bassist Bill Wyman die Gruppe schon vor geraumer Zeit verließ, weil er die eigentlich zutiefst vernünftige Idee hatte, dass es einmal ein Ende haben müsse.
Riesige bunte Bilder
Ziemlich entspannte Polizei |
Die titanischen Leinwände an der Bühnenrückwand, drei nebeneinander, zeigten in groß, was die mikroskopisch kleinen Rolling Stones gerade trieben, wie sie sich bewegten, was für Gesichter sie machten und welche Klamotten von dem langen Garderobenständer sie wann anhatten. Sie zeigten auch, dass Mick sich zuweilen mit einer Gitarre behängte. Aber die paar Akkorde am Anfang von »Miss You« waren nicht so ernst zu nehmen. Anders ist es, wenn er zur Mundharmonika greift. Da reißt jemand, der ihn nur als Sänger kannte, perplex die Augen auf. Ein Stück wie »Midnight Rambler« (und Jaggers Instrumentalbeitrag dazu) erinnert daran, dass die Rolling Stones Anfang der Sechziger noch stark vom Blues geprägt waren, und frühe Songs wie »Little Red Rooster« oder »Good Times, Bad Times« verlieren ja dadurch, dass man sie heute kaum noch hört, nicht an Wert. Die Leinwände wurden während des Konzerts aber auch zu Projektionsflächen für Kunst, etwa bei der Flut roter Symbole, die »Sympathy for the Devil« begleitete. Im hinteren Teil des unvergesslichen Abends bedankte sich die Frontfigur der Stones mit den Worten: »Danke, Kuba, für all die Musik, die du der Welt geschenkt hast!«
Alles happy
Das Konzert endete nach über den Daumen gepeilten 18 Stücken und etwa zwei Stunden Spielzeit mit »Brown Sugar«, aber jeder in der Menschenmenge wusste, dass noch etwas kommen musste, denn schließlich stand »You can’t always get what you want«, das einzige Lied mit kubanischer Beteiligung, noch aus. »Entrevoces« unter ihrer Leiterin Digna Guerra sollten den Frauenchor des Originals ersetzen und darüber war im Vorfeld so oft und viel geredet worden, dass die Nummer wegzulassen unvorstellbar erschien. Außerdem war »Satisfaction« noch nicht gekommen und ein Stones Konzert ohne dieses Stück wäre so wie ein Congris ohne schwarze Bohnen. Beide Songs wurden dann, wie erwartet, doch noch zelebriert – allerdings nach einer Zäsur von etlichen Minuten Länge, in denen die Bühne in völliges Dunkel getaucht war. Das können sich wahrscheinlich nur die Stones leisten. Die Hymne schlechthin wurde durch ein langgezogenes "Are you ready?" angekündigt und dann gab es kein Halten mehr. Die Glückshormone waren regelrecht zu greifen.
Als Mick Jagger nach dem Konzert von einer namhaften Nachrichtenagentur gefragt wurde, was an dem Konzert von Havanna denn nun Besonderes gewesen sei, antwortete er sinngemäß, er habe noch nie in seiner ganzen Karriere bei einem Auftritt so viele positive Energien empfangen wie von den Kubanern an jenem Abend. Das ist eine bemerkenswerte Aussage über Menschen, die angeblich allesamt unter dem Joch eines autoritären Regimes leiden. Aber ich hatte immer schon den Verdacht, dass die Zeitungs- und Fernsehredakteure des »freien Westens«, die seit vielen Jahren hartnäckig an ihrem sinistren Paralleluniversum basteln, gar nicht Kuba meinen, sondern irgendein anderes Land gleichen Namens.
Ulrich Fausten
CUBA LIBRE 3-2016