Wenn die Mechaniker die Fabriken übernehmen und die Indigenen das Amazonasbecken …
Ich hatte seinen Kopf völlig anders in Erinnerung: schmal, scharfkantig, konturiert wie eine Kohlezeichnung. Auch die charakteristische Habichtnase fehlt – nicht, weil sie fehlt, sondern weil ich sie nicht im Profil sehe. Der hochgewachsene, leicht verkrümmt gehende ältere Herr mit der Baskenmütze hat weicher gewordene Gesichtszüge und eine warme Sprechstimme, die zu lächeln scheint. Sobald er anfängt zu singen, ändert sich das. Schlagartig.
Quelle: Juventud Rebelde |
Die Wurzeln Vigliettis
Daniel Viglietti wird 1939 in Montevideo, Uruguay, geboren. Beide Eltern sind Musiker, der Vater Gitarrist, die Mutter Pianistin. Als Kind sowohl von Klassik, als auch von populärer Musik umgeben, absolviert er zunächst ein Studium zum Konzertgitarristen, um sich dann in den 60er Jahren dem »canto popular« (was mit »Volkslied« nur sehr unzureichend übersetzt ist) zuzuwenden. In diesem Jahrzehnt entwickelt er eine rege Aktivität als Autor, Komponist, Sänger, Dozent und Rundfunksprecher, reiht sich ein in die wachsende Volksmobilisierung in seinem Land und wird Mitarbeiter der Wochenzeitschrift »Marcha«.
Er bringt in jener Zeit auch sein erstes Album heraus, dem bis zur politischen Zäsur 1973 noch fünf weitere folgen sollen. Sein Werk ist von radikalen sozialen Inhalten geprägt und zweifelsfrei links zu verorten; seine Texte unterstützen die Volkskämpfe in Uruguay und anderen Ländern Lateinamerikas. Im Rahmen der Repressalien gegen progressive Gruppen, die dem Staatsstreich von 1973 vorausgehen, landet Viglietti 1972 im Gefängnis. Er ist seinerzeit schon so bekannt, dass sich Prominente wie Jean-Paul Sartre, Francois Mitterand und Oscar Niemeyer für seine Freilassung einsetzen.
Solidarität beendet seine Haft in Uruguay
Seine Haft wird aufgehoben und er geht für eine kurze Zeitspanne nach Argentinien; ihr folgen 11 Jahre im französischen Exil. Sein nicht minder berühmter Landsmann, der Dichter Mario Benedetti, begleitet ihn in die Verbannung, die von zahlreichen Solidaritätskonzerten in aller Welt gegen die Diktatur in Uruguay und in anderen lateinamerikanischen Ländern gekennzeichnet ist. 1984 kehrt er nach Montevideo zurück und wird auf seinem ersten Konzert, das er später als das »emotionalste in 40 Jahren Karriere« bezeichnen wird, von tausenden Menschen bejubelt.
Rückkehr aus dem Exil
Fünfzehn Jahre lang zieht sich der Rechtsstreit über die Alben hin, die er vor der Zeit der Diktatur – unter dem Label »Orfeo« – produziert hatte. Das Label war während seiner zwangsweisen Abwesenheit von Transnationalen gekauft worden. Es dauert bis 1999, bis er die Rechte an seinen eigenen Werken wiedererlangt.
Zu seinen nimmermüden Aktivitäten gehört seit 1994 das Radioprogramm »Timpano«, von dem es Aufzeichnungen in Argentinien, Venezuela und Frankreich gibt, und seit dem Jahr 2004 das Fernsehprogramm »Párpado«.
Konzert in der Casa de las Americanas
Und nun steht Daniel Viglietti, der große Daniel Viglietti, leibhaftig in der »Sala Che Guevara« der Casa de las Americas. Dieser Konzertsaal ist ein echtes Schmuckkästchen geworden. In den 90er Jahren, als wir das letzte Mal dort waren, war er arg heruntergekommen. Die Wände nackt und grau und die Sitzmöbel spotteten jeder Beschreibung. Wenn man bei Konzerten zuweilen einen spitzen Schrei aus dem Publikum hörte, dann war wieder einmal jemand mit dem Gesäß durch die locker und lückenhaft gewordene Gartenstuhlbespannung aus Kunststoffschnüren gerutscht. Wann die wundersame Verwandlung stattfand, wissen wir nicht. Auf jeden Fall reißt jemand, der die Örtlichkeit von früher kennt, vor Staunen die Augen auf. Überdimensionale moderne Gemälde an den Seitenwänden und die sechs Meter hohe Plastik »Der Lebensbaum« kommt mit ihren Grundtönen orange, rot und gelb vor der dunkelbraun gestrichenen Bühnenrückwand nun toll zur Geltung (und sieht nicht mehr so aus, als habe man sie in einer Bahnhofshalle zwischengelagert). Es gibt einen gedeckten Teppichboden und die Bestuhlung ist eines Menschenhinterns würdig.
Daniel Viglietti erhält den Noel-Nicola-Preis aus der Hand von Silvio Rodríguez |
»Noel-Nicola-Preis« verliehen
Der uruguayische Cantautor ist in der »Casa«, um den »Noel-Nicola-Preis«, der für Verdienste um das iberoamerikanische Lied zum ersten Mal vergeben wird, entgegenzunehmen. Der 2005 verstorbene Noel war neben Silvio, Sara und P. Milanes einer der Gründer der Nueva Trova. Daniel Viglietti, der ihn gut kannte, hebt den sehr speziellen Sinn für Humor heraus, der den kubanischen Namengeber für den Preis ausgezeichnet habe, und behauptet, dass Noel Nicola selbst »mehr Preise als jeder andere verdient gehabt hätte«.
Die Ehrung durch Kubas bekannten Trovador Vicente Feliú ist außerordentlich herzlich, aber wohltuend kurz. Dann ist der 76jährige allein auf der Bühne.
Als er auf dem Konzertstuhl Platz nimmt und seinem Instrument die ersten Töne entlockt, passiert etwas mit ihm, dem man mit dem Wort »Ruck« nicht wirklich gerecht wird. Es ist fast schon eine Metamorphose. Daniels Stimme ist kräftig und klar, changierend zwischen hell und dunkel, schneidend und schmeichelnd, ganz nach Bedarf des Liedes, so wie immer, sein Gitarrenspiel brillant und virtuos wie eh und je. Er hat uns den alten Mann nur vorgespielt.
Ich habe in dem ganzen fast zweistündigen Konzert einen – wohlgemerkt einen einzigen – Moment erlebt, in dem er, vielleicht dem Alter geschuldet, etwas schwächelte: In »Esdrújulo«, dem genialen 14-Strophen-Epos, das gar nicht so lange dauert, wie man zu vermuten geneigt ist (weil es so schnell gesungen wird), leistet er sich zweimal an der gleichen Stelle – an der die Wortdichte der Zeilen so prall ist, dass sie Jüngere kurzatmig machen würde – eine Atempause, die auf der Studio-CD nicht vorkommt. Natürlich löst er das so, als müsste es so sein. Jemandem, der die Originaleinspielung nicht kennt, kann das überhaupt nicht aufgefallen sein.
Ansonsten eine makellose Performance: Er schreckt keineswegs vor den Stücken zurück, die ihn mit ihrer teilweise verwirrenden Melodieführung und ihren komplexen synkopischen Rhythmen, die kein Kubaner mitklatschen könnte (und Kubaner sind gut im Mitklatschen), berühmt gemacht haben.
In der Nachfolge Victor Jaras
Ich bin mit seinem Material nicht sehr vertraut, schon deshalb, weil es im Ausland (also u. a. In Deutschland) nur schwer erhältlich ist, aber von den vielleicht 20 oder 25 Liedern, die ich von ihm habe, erkenne ich im Konzert die meisten wieder. Er setzt im Wesentlichen den Diskurs fort, den Chiles Victor Jara abbrechen musste, als er ermordet wurde: die Klage über systematisiertes Elend und Unrecht, die Anklage der daran Schuldigen und den Appell an uns, an jene, die gutes Willens sind, das Menschenmögliche daranzusetzen, die Verhältnisse zu ändern.
In »A Desalambrar« schreibt er den Besitzbegriff von Legalität auf Legitimität, von Recht auf Gerechtigkeit um:
»Wenn die Hände uns gehören,
dann gehört uns auch,
was sie uns geben.
Der Boden gehört mir und dir
und jenem dort,
er gehört Pedro, Maria,
Juan und José«
Die Idee zu »Milonga De Andar Lejos« entstand im Flugzeug bei einer Überquerung Südamerikas, bei der ihm »die Flüsse wie Venen in einem ausgestreckten Körper« vorkamen. In dem Lied heißt es u. a.:
»So unterschiedliche Fahnen
und die Armut ist
überall die gleiche.
Ich möchte
meine Landkarte zerreißen
und eine Karte für alle formen:
Mestizen,
Schwarze und Weiße«
Die zweite Strophe ist beschwörend appellativ:
»Ich möchte
das Leben zerreißen!
Wie ich mich danach sehne,
es zu verändern!
Hilf mir, Companero!
Hilf mir, zögere nicht!«
Nicht alle seine Lieder sind dramatisch oder im positiven Sinne plakativ. Nicht alle erschließen sich dem Publikum unmittelbar. Er hat auch Stücke in seinem Repertoire, die intellektuell verspielt, sarkastisch oder ironisch daherkommen und zum Lachen reizen. »Esdrújulo«, das sich an einer Textstelle selbst als »vals arritmico« bezeichnet (und man könnte tatsächlich einen etwas holprigen Wiener Walzer darauf tanzen) ist wohl sein bekanntestes Lied dieser Art. Es ist gleichsam mit einem – langen! – Augenzwinkern geschrieben und wird auch so vorgetragen. In der letzten Strophe wird aufgezählt, was passieren muss, damit unsere Träume in Erfüllung gehen:
»Wenn die Armut
von den Kuppeln Besitz ergreift,
wenn die Ausgehungerten
die Afrikas erobern
und die Indigenen
das Amazonasbecken,
wenn die Mechaniker
die Fabriken übernehmen
und die Utopisten über
den Prolog hinauskommen …«
Schlussakkord eines Highlights
Als Daniel Viglietti nach 17 Liedern meint, es sei genug, gibt ihm das ganze Publikum eine stehende Ovation. Er wird unsicher, hält auf dem Weg zum Bühnenausgang inne und geht zurück zu seinem Stühlchen. Ich glaube, die Mehrheit von uns will das gar nicht. Ich habe bei dem Beifall keinen einzigen Ruf »Otra! Otra!« (»Zugabe«) gehört. Wir sind alle einfach nur total begeistert, und als Daniel, der nun in der Tat ein bisschen hinfällig aussieht, zu seinem »Arbeitsplatz« zurückkehrt, setzen wir anderen uns mit gemischten Gefühlen wieder hin. Er gibt uns noch drei Lieder obendrauf, das letzte zusammen mit Vicente, der a capella singen muss, weil es zu lange dauern würde, die beiden Gitarren auf einander passend zu stimmen.
Für mich in dem an Musikevents gewiss nicht armen 2015 das Konzertereignis des Jahres in Havanna!
Ulli Fausten
CUBA LIBRE 1-2016