Filmemacher Tobias Kriele und Kameramann Martin Broschwitz erzählen in dem Dokumentarfilm »Die Kraft der Schwachen« die unglaubliche Geschichte des spastisch gelähmten Jungen Jorgito und seiner Anstrengungen, trotz Behinderung überall dabei sein zu können.
Das macht neugierig auf die Frage: Warum dieser Film? Warum ein Film über Jorgito und Inklusion in Kuba?
Der Dokumantarfilmer Tobias Kriele hat in der CL Ende 2013 geschildert, wie ihn die erste Begegnung mit Jorgito inspirierte:
»Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz in Havanna teil, in der über mögliche Schritte in der Kampagne für die Cuban Five beraten wurde. Gegen Ende der Veranstaltung, die Abschlusserklärung war schon verlesen, erbat jemand aus den hinteren Reihen das Wort. Der Vorsitzende nickte und winkte den Redner ans Mikrofon. Es dauerte eine Ewigkeit, ohne dass der Wortmelder nach vorne gekommen wäre, und im Publikum drehten sich einige Kopfe, um den Grund der Verzögerung zu erheischen. Durch den Gang kämpfte sich ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, dem eine Lähmung das Laufen erschwerte. Den rechten Arm trug er an den Körper gepresst, die Hand eigentümlich angewinkelt. Mit dem linken Arm führte er rudernde Bewegungen aus, als suchte er Gleichgewicht. Es war, als hatte er den Widerstand seiner ungehorsamen Beine zu überwinden. Während er auf die Buhne zusteuerte, warf er ab und an den Kopf in den Nacken und lachte in sich hinein, oder besser gesagt, aus sich heraus, scheinbar ohne Anlass. Als er die letzte Herausforderung, die drei Treppenstufen bis zur Bühne, nahm, ging der ganze Saal mit. Auf dem Podium angekommen, drehte sich der Junge zum Publikum und betrachtete die vollen Reihen. Vor das erste Wort drängte sich wieder ein Lachen, und die Augen blitzten schelmisch, als wurde er innerlich die Pointe eines Witzes vorweg erleben.
›Man nennt mich Jorgito den Camagüeyaner‹, begann er mit breiter, zu versagen drohender Stimme. Es war, als musste er jedes Wort einzeln ausspucken. ›Wahrend der Geburt erlitt ich eine Zerebralparese, die eine beidseitige Spastik zur Folge hatte.‹ In jedem anderen Land Lateinamerikas, und in den meisten der Welt, erklärte uns Jorgito, hätte er nicht überlebt oder doch zumindest kein Leben gehabt. ›Ohne die kubanische Revolution gäbe es mich heute nicht mehr.‹ Und wahrend der junge Mann berichtete, wie ihn der kubanische Humanismus vor dem Untergang gerettet und das Leben geschenkt hatte, folgten ihm die Anwesenden mit großer Aufmerksamkeit. Jorgito kam schon als Kind zu der Schlussfolgerung, dass er der Revolution gegenüber in der Schuld stehe, sie mit allem zu verteidigen. Als er fünf Jahre alt war, wurden in Miami fünf Kubaner verhaftet. Mit zehn oder elf gründete er sein erstes Komitee zur Unterstützung der Gefangenen. Diese Männer, so verstand es der Knabe, riskierten alles, um das zu schützen, was ihm das Leben gerettet hatte.
Mit schwerer Zunge und doch gewandten Worten breitete Jorgito in wenigen Sätzen sein ganzes Leben vor uns aus. Um dann zum Schluss zu kommen: ›Ich habe eine Bitte an alle Anwesenden. Es ist eine kleine Bitte und von jedem zu erfüllen. Ich bitte Euch um einen Gefallen, der mit Leichtigkeit zu tun ist.‹ Dreihundert Personen folgten wie gebannt dem Jugendlichen, während dieser in einer kleinen Kunstpause charmant in die Menge lachte, die zu begreifen begann, dass sie dem jungen Mann für sein Verständnis zu danken habe, nicht andersherum. ›Alles was ich möchte, ist, dass Ihr jeden Abend, bevor Ihr zu Bett geht, einen Moment auf die Frage verwendet: Was habe ich heute für die Freilassung der Cuban Five getan? – Das ist schon alles.‹ Sprachs, lachte noch einmal in die Welt und kämpfte sich durch eine geplättete Versammlung zu seinem Platz zurück.
Premiere in Berlin; v.l.n.r. Joritos Vater, Petra Wegener,Jorgito Jérez, Tobias Kriele |
Ich bin gebeten worden, zu erklären, was mich bewegt hat, an einem Dokumentarfilm über eben jenen Jungen zu arbeiten. Die Antwort ist einfach. Ich bin ihm gefolgt und habe eines Abends vor dem Schlafengehen die mir aufgetragene Frage gestellt.«
Und Kriele nennt in der Diskussion nach der Premiere in Berlin noch einen weiteren Grund:
»Nach fast einem Jahrzehnt in Kuba hatte ich das Bedürfnis zu vermitteln, was am Leben in Kuba den Unterschied ausmacht.
Wie in meinem ersten Film ›Zucker und Salz‹ ist auch ›Die Kraft der Schwachen‹ das Ergebnis einer Suche danach, was es für die einfache Bevölkerung ausmacht, in der kubanischen Revolution zu leben, jenseits der geschichtlichen Daten und historischen Persönlichkeiten. Ich wollte nie einen Film über das Thema ›Behinderung‹ machen, dazu fühle ich mich auch nicht kompetent. Jorgito ist im Gegensatz dazu das lebendige Beispiel dafür, dass eine Behinderung unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen überwunden werden kann. Jorgito ist nicht trotz seiner Behinderung beeindruckend, sondern wegen ihrer Überwindung.«
Dass der Film diesen Zusammenhang aufzeigt, scheint einigen Menschen mit antikubanischen Ressentiments Probleme zu bereiten. Kriele schilderte folgende Reaktion von einigen Menschen außerhalb der Kuba-Soli, die sich für den Film interessierten: Ja, der Weg Jorgitos sei beeindruckend und man werde den Film promoten, auch wenn dabei die Gefahr bestehe, dass Kuba positiv erscheine.
Ein Beweis mehr, wie wichtig dieser Film ist.
Marion Leonhardt
CUBA LIBRE 1-2015