|
In diesen Tagen verfliegen die Tage in der Universität zu Camagüey schneller als üblich. Wir Studierenden sind in vollen Hörsälen in eine intensive Debatte vertieft, jenseits der üblichen Disziplinen. Ein geübter Beobachter würde eine ähnliche Dynamik bis in die entlegensten Ortschaften des Landes feststellen. Was wird hier diskutiert?
In der kubanischen Gesellschaft findet gerade ein ehrlicher, transparenter und offener Austausch statt, der die größtmögliche Mitwirkung an den Entscheidungen darstellt, die der Umdenkprozess mit sich bringt, den das Land derzeit erlebt.
Kommunistische Partei und Jugendverband bringen diese kritische Übung in dem Bewusstsein voran, dass die Auswirkungen der »Erneuerung des Wirtschaftsmodells « über rein wirtschaftliche Aspekte hinausgehen: Sie werden auf die Dynamik des gesamtgesellschaftlichen Flechtwerks wirken und nachhaltig neue Bewusstseinsinhalte schaffen.
Da die Aufgabe sowohl vom subjektiven wie vom objektiven Aspekt her zäh ist, ist es notwendig, dass die Bevölkerung sich ihr verschreibt, dass sie eine aktive und verantwortungsbewusste Rolle spielt und sich in das Subjekt der Veränderungen verwandelt. Wir werden erleben, dass in den Vorstellungen der Subjekte – Individuen wie Kollektive, natürliche wie juristische Personen – Zweifel auftauchen, die zum Teil aus dem Dilemma entstehen, wie auf die Wünsche der Betroffenen eingegangen werden kann.
Die Arbeit – in Kuba zuletzt von nachlassender Intensität und Qualität – wird dabei das Leitprinzip sein, entlang dem eine neue Subjektivität entwickelt werden soll.
Die derzeit durchgeführten Versammlungen helfen uns Kubanern zu verstehen, dass weder Überraschtheit noch Alarmstimmung gegenüber denen angebracht ist, die scheinbar exorbitante Geldsummen bewegen – immer vorausgesetzt, dass es sich dabei um die Frucht ehrlicher Arbeit handelt. Nicht die Menge an Geld in Bürgerhand ist es, die es zu bekämpfen gilt, sondern ihre Quellen wie Verbrechen, Illegalität und Korruption.
Sich von Altlasten freizumachen, ist nicht immer ein linearer Prozess und gibt der Frage nach dem »Besten und dem Schlechtesten « Auftrieb. Eine neue Vorstellung dessen, was normal ist, wird sich entwickeln müssen, wie zum Beispiel die Einsicht, dass der sozialistische Staat nicht-staatlichen Eigentumsformen Räume zu überlassen hat; dass die aufstrebenden »cuentapropistas« autorisiert sind, Arbeitskräfte anzustellen und dass es eine staatsbürgerliche Pflicht sein wird, unter anderen möglichen Formen, auch durch Erfüllung der steuerpolitischen Vorgaben, zur Entwicklung des Landes beizutragen. Die Methode des von Staats wegen praktizierten »Paternalismus«, der mittlerweile die Kultur eines ganzen Volkes durchdringt, muss einer umfassenden, bewussten und engagierten Entwicklung durch die Individuen weichen. Der Staat verlangt die Erfüllung jeder einzelnen Bürgerpflicht, und die Bürgerinnen und Bürger erreichen, indem sie ihre Pflichten gegenüber der Gesellschaft erfüllen, eine ihren Anstrengungen entsprechende Lebensqualität. Die Idee von der »Gleichmacherei« wird ins Hintertreffen geraten und schließlich verschwinden.
Wir jungen Menschen stehen im Fokus der neuen Entwicklung. Deshalb sind unsere Versammlungen, unsere Ansichten entscheidend. Wir werden unsere beruflichen Zielsetzungen mit dem gesellschaftlichen Projekt vereinbaren müssen. Und wir werden den Punkt zu finden haben, an dem sich die individuellen und die gesellschaftlichen Interessen in Einklang bringen lassen, im Sinne einer starken Persönlichkeitsentwicklung, die mit dem Aufbau des Sozialismus einhergeht. Man darf nie vergessen, dass die Einführung neuer Eigentumsformen möglicherweise den Individualismus verstärkt und die dem Sozialismus wesenseigenen solidarischen Verhaltensweisen schwächt.
Ein positiver Nebeneffekt der Debatte ist die Aufhebung der oftmals falschen und teilweise lächerlichen Einstimmigkeit, die zugleich einen Nährboden für praktizierte Doppelmoral darstellte. Dagegen öffnet das Konzept der »Einheit in der Vielfalt« neue Räume. Es erlaubt es, die Interessen von Gruppen oder Einzelpersonen nicht zwangsläufig im Gegensatz zum sozio-ökonomischen System zu begreifen.
Aber die grundlegende Garantie dafür, dass unser Vorsatz, unseren Sozialismus zu verbessern, nicht dasselbe Schicksal ereilt wie die Perestroika, die damals vorgab, den Sozialismus in der ausgelöschten UdSSR zu perfektionieren und ihn tatsächlich abschaffte, liegt in unserer Geschichte und bei der Partei. Wenn wir in die Historie schauen, warum unser erster Versuch, die Unabhängigkeit zu erreichen, schief ging, wird wohl jeder orientierte Kubaner antworten: wegen der mangelnden Einheit. Eine andere Frage könnte sein, warum unter den kubanischen Befreiungskämpfern, den Mambisen, nach zehn Jahren Krieg keine Kraft existierte, die in der Lage gewesen wäre, die unterschiedlichen Ansätze in einem einzigen zu vereinen. Dies genau tat José Martí vor dem Beginn des Krieges, den wir den »notwendigen« nennen: Er schuf eine einheitliche Partei, die die Einheit aller Kubaner garantieren sollte.
Die Revolutionäre Kubanische Partei machte nicht nur den Unabhängigkeitskrieg möglich. Nach dem Tod von Martí hielten die Kubaner diese im Jahr 1892 gegründete Institution aufrecht. Die erste Tat von Tomás Etrada Palma, dem späteren kubanischen Präsidenten, zur Sicherung der US-amerikanischen Militärintervention in Kuba bestand in der Auflösung der von Martí gegründeten Partei.
Reisen wir weiter in der Zeit, warum löste sich die Revolution von 1930 in Nichts auf? Neben anderen Faktoren fehlte die Leitung der KP Kubas, die noch nicht im Inneren der kubanischen Gesellschaft verankert war. Deshalb die Verfolgung ihrer Mitglieder in der Machado-Ära, denn der Diktator wusste nur zu gut um die Rolle, die die Partei würde spielen können.
Auch in der Konzeption der Verfassung von 1940 waren die Kommunisten Vorreiter und erreichten, dass in diese Konstitution einige Artikel eingeführt wurden, die zum Wohl des Volkes waren. Nach 1959 entstanden die Vereinigten Revolutionären Organisationen (ORI), ebenfalls Symbol der Einheit des Volkes in Bezug auf die Revolutionäre Avantgarde und Wiege der heutigen Kommunistischen Partei Kubas.
Der beschriebene heutige Diskussionsprozess ist keine neue Arbeitsmethode der Partei. Der 3. Parteitag der KPK eröffnete den sogenannten »Prozess der Berichtigung von Fehlern und negativen Tendenzen« zwischen 1986 und 1990. Die Wirtschaft wurde grundlegend überprüft und die dominierenden Fehler und Mängel kamen ans Licht: fehlendes Wachstum im Bereich der Exportgüter; die Unfähigkeit, Importe zu ersetzen; mangelnde Ganzheitlichkeit der Planung; Nicht-Einhaltung der Zeitpläne der baulichen Investitionen; mangelnde Anbindung zwischen der wissenschaftlichen Arbeit und den gesellschaftlichen Bedürfnissen, usw.
Ebenso war die Bevölkerung gefragt, ihre Meinung über die Vorlage der KP abzugeben, die unter dem Namen »Leitlinienprojekt der Wirtschafts- und Sozialpolitik « bekannt wurde. Zwischen Dezember 2010 und Februar 2011 wurden 291 Leitlinien zur Diskussion gestellt, die dann in der Diskussion und Verabschiedung durch den 6. Parteitag der KP Kubas auf 311 anwuchsen. An die neun Millionen Bürger beteiligten sich an den einberufenen Versammlungen zur Diskussion der Vorlage und mehr als 395.000 Meinungen wurden registriert und in die Neuformulierung der Leitlinien einbezogen.
Die Partei geriet niemals in Distanz zum Volk. In den schwierigen Jahren der Sonderperiode nach dem Verschwinden des Realsozialismus erreichte sie, dass Kuba überlebte. Heutzutage ergreift die Revolution unter ihrer Führung die notwendigen Schritte, um unsere Wirtschaft anzukurbeln, ohne dabei auf neoliberale Rezepte und Programme hereinzufallen.